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  BFH-Urteil vom 31.7.1996 (XI R 82/95) BStBl. 1996 II S. 554

Gegen den gutgläubigen Tatmittler, der aufgrund fingierter Rechnungen unberechtigt Vorsteuer in Anspruch genommen hat, können Hinterziehungszinsen festgesetzt werden.

AO 1977 § 235 Abs. 1.

FG Münster (EFG 1996, 5)

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH & Co. KG, betreibt ein Einrichtungsgeschäft. In den Jahren 1981 bis 1986 ließ sie sich von einem in Belgien wohnenden S in angebliche Reihen- und Streckengeschäfte mit Endabnehmern im Ausland einschalten. S erstellte auf Rechnungsvordrucken verschiedener inländischer Firmen Rechnungen mit offenem Steuerausweis über fingierte Warenlieferungen an die Klägerin, die die Rechnungen nach Eingang des von ihr den Endabnehmern (in Wahrheit wiederum S) berechneten Betrags durch Überweisungen auf Konten des S in Luxemburg beglich. Der Vorteil der Klägerin bestand darin, daß sie den Endabnehmern einen um 5 % höheren Warenwert in Rechnung stellte. Die Klägerin machte insoweit in den Streitjahren Vorsteuerbeträge in Höhe von rd. ... DM geltend. Strafrechtliche Ermittlungen gegen die Geschäftsführer, den Verkaufsleiter und einen ehemaligen Prokuristen wurden eingestellt; die Kenntnis vom Vorliegen bloßer Scheingeschäfte konnte nicht nachgewiesen werden. Gegen den Hauptbeschuldigten S waren steuerstrafrechtliche Ermittlungen bisher nicht möglich.

Nachdem der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den Vorsteuerabzug rückgängig gemacht hatte, wurden Hinterziehungszinsen zur Umsatzsteuer 1981 und 1983 bis 1986 in Höhe von insgesamt ... DM festgesetzt. Einspruch und Klage blieben erfolglos; das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1996, 5 veröffentlicht.

Das FG sah eine Steuerhinterziehung in mittelbarer Täterschaft des S als gegeben an. Es sei nicht erforderlich, daß der Steuerschuldner den Steuerhinterzieher als Erfüllungsgehilfen eingeschaltet habe. Entscheidend sei, daß der Steuerschuldner die geschuldete Steuer erst verspätet an das FA gezahlt habe. Der Vorteil der Klägerin bestehe darin, daß sie die geschuldete Steuer verspätet gezahlt habe; es sei allein auf den steuerlichen Vorteil abzustellen. Unerheblich sei, daß die Klägerin ihrerseits die Umsatzsteuer an S habe entrichten müssen.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 235 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und führt im wesentlichen aus:

1. Das angefochtene Urteil gehe zu Unrecht davon aus, daß der Steuerschuldner zwingend immer der Zinsschuldner sei. Gegen diese Auslegung spreche bereits § 235 Abs. 1 Satz 3 AO 1977. Das angefochtene Urteil übersehe, daß nach der gesetzlichen Systematik des § 15 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) eine parallele Situation zu den Fallgestaltungen der Entrichtungsschuldnerschaft (§ 235 Abs. 1 Satz 3 AO 1977) bestehe. Der Vorgang solle trotz Zahlung an den Leistenden für den leistungsempfangenden Unternehmer gerade erfolgsneutral sein.

2. Der Klägerin sei kein Zinsvorteil entstanden, weil sie ihrerseits an S gezahlt habe. Der Streitfall könne nicht mit dem Fall des X. Senats (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19. April 1989 X R 3/86, BFHE 156, 383, BStBl II 1989, 596) verglichen werden. In diesem Fall sei es um die Verrechnung mit zivilrechtlichen Ansprüchen gegangen, hier aber stellten die Steuernormen selbst einen Zusammenhang mit dem gegenüber einem Dritten bestehenden Zivilrechtsverhältnis her. In vergleichbarer Weise bestehe eine Verknüpfung in den Fällen der Entrichtungsschuldnerschaft. Bei der Frage des Zinsvorteils könne diese Verknüpfung nicht außer acht gelassen werden. Es sei verfehlt und auch nicht von der bisherigen BFH-Rechtsprechung gedeckt, in isolierender Betrachtungsweise einen Zinsvorteil im Steuerschuldverhältnis zu konstruieren. Das FG verkenne den steuersystematischen Zusammenhang zwischen in Rechnung gestellter Umsatzsteuer und Vorsteuerabzug.

3. Das FG vernachlässige den Zusammenhang zwischen Steuervorteil aufgrund der Hinterziehung i.S. des § 235 Ab. 1 Satz 2 AO 1977 und dem Vermögensvorteil i.S. des § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977. Ein Steuervorteil sei immer auch ein Vermögensvorteil, allerdings müsse ein Vermögensvorteil nicht immer ein Steuervorteil sein (so auch BFH-Urteil vom 31. Januar 1989 VII R 77/86, BFHE 156, 30, BStBl II 1989, 442). Anderenfalls würde auch die Exculpationsmöglichkeit des § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 leerlaufen. Die Auslegung des FG finde auch in dem BFH-Urteil vom 12. Oktober 1993 VII R 44/93 (BFHE 172, 401, BStBl II 1994, 438) keine Stütze; die hypothetische Geltendmachung von Vorsteuer sei zu Recht nicht berücksichtigt worden.

4. Den Zinsschuldner müsse eine "Zurechnungsverantwortung" treffen. Anderenfalls würde er zum Ausgleich eines aus dem Fiskus entstandenen Zinsschadens herangezogen, den er in keiner Weise zu verantworten habe. Der Hinterzieher müsse gleichsam als Erfüllungsgehilfe für den Steuerschuldner gehandelt haben.

Zumindest seit der Einfügung des § 4 Abs. 5 Nr. 8 a des Einkommensteuergesetzes (EStG) müsse davon ausgegangen werden, daß den Hinterziehungszinsen als Nebenzweck auch ein Sanktionscharakter zukomme. Der Nichtabzug der Zinsen als Betriebsausgaben könne nur mit einem außerstrafrechtlichen Sanktionszweck gerechtfertigt werden; dieser bedürfe aber einer Zurechnungsverantwortung.

Das FG könne sich auch nicht auf das BFH-Urteil vom 14. Dezember 1994 XI R 80/92 (BFHE 176, 308, BStBl II 1995, 293) berufen; dort sei nur entschieden, daß der Steuerschuldner eine Änderung hinzunehmen habe, wenn er nicht an der Steuerstraftat beteiligt gewesen sei. Selbst wenn man dem Urteil entnehmen würde, daß es bei § 173 Abs. 2 AO 1977 auf keinerlei Verantwortlichkeit des Steuerschuldners für das Täuschungsverhalten ankomme, könne diese für die Zinspflicht nicht gelten; eine derartige Auslegung verstieße gegen Art. 1 des Grundgesetzes (GG).

5. Fraglich sei, ob S durch unrichtige Angaben über die Vorsteuerabzugsberechtigung tatsächlich eine Steuerhinterziehung begangen habe. Die Tatherrschaft müsse beim Täter liegen; die unrichtigen Angaben seien aber erst gegenüber der Finanzbehörde durch Geltendmachung des Vorsteuerabzugs in den Steuererklärungen/-anmeldungen gemacht worden.

6. Von einer mittelbaren Täterschaft könne in bezug auf den Sachverhaltskomplex J für einen Vorsteuerabzug von ... DM nicht ausgegangen werden. Das FG sei hierauf nicht eingegangen. Hier sei der Vorsteuerabzug zutreffend deshalb versagt worden, weil für die behauptete Einfuhr keine Zollbelege vorgelegen hätten.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidungen aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Erteilung fingierter Rechnungen durch S habe nahezu zwangsläufig zur Geltendmachung des Vorsteuerabzugs durch die Klägerin und damit zur Steuerhinterziehung geführt. Nach dem BFH-Urteil vom 13. Dezember 1989 I R 39/88 (BFHE 159, 188, BStBl II 1990, 340) genüge bereits große Wahrscheinlichkeit. Im Spenden-Fall sei die Tatherrschaft durch die steuerlichen Besonderheiten bei der Spenderin ausgeschlossen gewesen.

Die Klägerin habe einen steuerlich bedingten Zinsvorteil erlangt. Eine Verrechnung dieses Zinsvorteils mit der von der Klägerin erlittenen Vermögenseinbuße sei nicht möglich, da § 235 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 lediglich auf den Zinsvorteil abstelle.

Eine Zurechnungsverantwortung als Voraussetzung für die Zinspflicht habe der Gesetzgeber - wie sich aus der abweichenden Fassung des § 169 AO 1977 ergebe - gerade nicht gewollt.

Aus den Rechtsbeziehungen der Klägerin zu S könnten keine Folgerungen auf das Rechtsverhältnis der Klägerin zum Steuergläubiger gezogen werden.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -); das angefochtene Urteil ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

1. Im Streitfall sind die zu Unrecht geltend gemachten Vorsteuerbeträge hinterzogen worden.

Gemäß § 235 Abs. 1 AO 1977 sind hinterzogene Steuern zu verzinsen. Zinsschuldner ist derjenige, zu dessen Vorteil die Steuern hinterzogen werden. Satz 3 enthält eine besondere Regelung für die Fälle des Steuerabzugs und der Verpflichtung zur Entrichtung von Steuern zu Lasten eines Dritten.

Eine Steuerhinterziehung begeht, wer den Finanzbehörden gegenüber unrichtige Antworten macht und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977). Die Steuerhinterziehung kann auch in mittelbarer Täterschaft begangen werden. In diesem Fall bedient sich der Täter eines anderen als Werkzeug; Durchführung und Ausgang der Tat müssen vom Willen des mittelbaren Täters abhängen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 159, 188, BStBl II 1990, 340, m. w. N.). Im Streitfall hatte nach den Feststellungen des FG S, der die Klägerin nach einem vorgefaßten Plan eingeschaltet hatte, die Tatherrschaft. Im Unterschied zu Spendenbelegen, bei denen die Verwendung gegenüber dem FA zweifelhaft sein mag (dazu BFH-Urteil in BFHE 159, 188, BStBl II 1990, 340), werden Rechnungen mit offenem Umsatzsteuerausweis in der Regel beim FA zur Geltendmachung des Vorsteuerabzugs eingereicht, da der Rechnungsempfänger seinerseits verpflichtet ist, seinem Lieferanten die ausgewiesene Umsatzsteuer zu zahlen.

2. Das FA hat die Klägerin zu Recht als Schuldnerin der Zinsen herangezogen.

a) Zinsschuldner ist der, dem der Vorteil der Hinterziehung zugute kommt (§ 235 Abs. 1 Satz 2 AO 1977); wie die Regelung des § 235 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 zeigt, ist das nicht ausnahmslos der Steuerschuldner. § 235 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 bezieht sich nur auf den steuerlichen Vorteil, der mit der Verzinsung beim Steuerschuldner "abgeschöpft" werden soll (BFH-Urteil in BFHE 165, 10, BStBl II 1991, 822). Es ist unerheblich, ob mit der verspäteten Zahlung ein wirtschaftlicher Vorteil oder ein wirtschaftlicher Nachteil verbunden ist (BFH-Urteile in BFHE 156, 383, BStBl II 1989, 596, und in BFHE 165, 10, BStBl II 1991, 822; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., Stand Oktober 1994, § 235 AO 1977 Tz. 4).

b) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist daher allein darauf abzustellen, daß die von dem Steuerschuldner geschuldete Steuer verspätet gezahlt wurde. Nicht zu berücksichtigen ist, daß die Klägerin ihrerseits die ihr von S in Rechnung gestellte Umsatzsteuer an diesen entrichtet hat. Es trifft zwar zu, daß die Umsatzsteuer im unternehmerischen Bereich wirtschaftlich betrachtet nur den Charakter eines durchlaufenden Postens hat und daß die Entrichtung der Umsatzsteuer und der entsprechende Vorsteuerabzug sachlich verbunden sind (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG). Gleichwohl ist nach der im Gesetz getroffenen Regelung für die Beurteilung des Vorteils allein auf den Umstand abzustellen, daß die Klägerin die Vorsteuerbeträge zu Unrecht abgezogen hatte und die Steuer insoweit verspätet entrichtet wurde. Im Urteil in BFHE 172, 401, BStBl II 1994, 438 machte der Kläger geltend, daß wegen der potentiellen Vorsteueransprüche die Hinterziehung der Einfuhrumsatzsteuer zu keinem echten Vorteil geführt habe. Im Streitfall soll nach der Vorstellung der Klägerin berücksichtigt werden, daß sie den Vorteil wiedergegeben hat. Beide Einwände sind ungeeignet, den steuerlichen Vorteil entfallen zu lassen, da die hinterzogene Einfuhrumsatzsteuer ebenso wie im Streitfall die hinterzogene Vorsteuer getrennt zu beurteilen sind.

Diese Beurteilung entspricht auch dem Sinn der Norm, (mögliche) Zinsvorteile beim Nutznießer der Steuerhinterziehung abzuschöpfen (BFH-Urteil in BFHE 165, 10, BStBl II 1991, 822). Durch die Steuerhinterziehung des S standen der Klägerin in Gestalt der Vorsteuerbeträge Finanzmittel zur Verfügung, die sie zu ihrem Vorteil einsetzen konnte. Der möglicherweise im Gegenzug durch die Zahlung an S erlittene Nachteil kann nur zivilrechtlich im Verhältnis zu S ausgeglichen werden, hat indes für die Beurteilung des steuerlichen Vorteils keine Bedeutung.

c) Die in § 235 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 getroffene Regelung steht dieser Beurteilung nicht entgegen. Diese Regelung macht den Abführungs- oder Entrichtungsverpflichteten zum Zinsschuldner, da diesem als Zahlungsverpflichteten der Vorteil der verspäteten Zahlung zugute kommt. Für eine Übertragung dieser Regelung auf die unberechtigte Inanspruchnahme von Vorsteuer besteht keine Veranlassung. Die rechtstechnische Ausgestaltung der Umsatzsteuererhebung hat mit den Regelungen zur Abführung und Entrichtung von Steuern keine Gemeinsamkeiten; der Vorsteuerabzug wird von dem Empfänger der Leistung selbständig vorgenommen. Die Zahlung der Umsatzsteuer wird nicht - wie in den Fällen der Abführungs- und Entrichtungsverpflichtung - von dem Leistenden allein abgewickelt.

d) Schließlich führt auch § 169 Abs. 2 Satz 2 und 3 AO 1977 zu keinem anderen Ergebnis. Nach dieser Regelung beträgt die Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung zehn Jahre, und zwar auch dann, wenn die Steuerhinterziehung weder durch den Steuerpflichtigen selbst noch einen Erfüllungsgehilfen begangen worden ist. Eine Ausnahme gilt nur, wenn der Steuerschuldner nachweist, daß er durch die Tat keinen Vermögensvorteil erlangt hat und sorgfältig gehandelt hat. Während also nach § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 die kürzere Verjährungsfrist zur Voraussetzung hat, daß der Steuerpflichtige durch die Tat keinen (umfassenden) Vermögensvorteil erzielt hat, verknüpft § 235 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 die Verzinsung mit dem erzielten Steuervorteil. Der Steuervorteil mag zwar auch ein wirtschaftlicher Vorteil sein, er ist aber auf den Vorteil, der sich aus der Hinterziehung ergibt, begrenzt.

e) Entgegen der Auffassung der Klägerin muß den Zinsschuldner keine besondere "Zurechnungsverantwortung" treffen; der Zinsschuldner braucht an der Steuerhinterziehung in keiner Weise mitgewirkt zu haben (BFH-Urteile vom 11. Mai 1982 VII R 97/81, BFHE 136, 182, BStBl II 1982, 689, und vom 27. Juni 1991 V R 9/86, BFHE 165, 10, BStBl II 1991, 822; Tipke/Kruse, a.a.O., § 235 AO 1977 Tz. 4; vergleichbar für die Anwendung des § 173 Abs. 2 AO 1977 BFH in BFHE 176, 308, BStBl II 1995, 293). Im Unterschied zu § 4 Abs. 5 Nr. 8 a EStG beinhaltet § 235 AO 1977 keine Sanktion (BFH-Urteil vom 7. Dezember 1994 I R 7/94, BFHE 176, 552, BStBl II 1995, 477).

3. Dem Einwand der Klägerin, daß zumindest hinsichtlich des Sachverhaltskomplexes J Hinterziehungszinsen nicht hätten festgesetzt werden dürfen, kann der Senat nicht weiter nachgehen. Gemäß § 118 Abs. 2 FGO ist der Senat an die vom FG getroffenen Feststellungen gebunden; zulässige und begründete Revisionsgründe sind insoweit nicht vorgebracht worden.