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  BFH-Urteil vom 15.10.1996 (VII R 46/96) BStBl. 1997 II S. 171

Der Haftungsanspruch des FA entsteht, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen des Haftungstatbestandes erfüllt sind; es bedarf hierzu nicht des Erlasses eines Haftungsbescheids.

AO 1977 §§ 34, 38, 69, 191 Abs. 3 Satz 3; BGB §§ 387ff., 406.

Vorinstanz: Hessisches Finanzgericht (EFG 1996, 252)

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine Steuerberatungsgesellschaft, ließ sich von den Eheleuten S. deren Einkommensteuererstattungsansprüche für 1988 abtreten. Die Abtretungsanzeige der Klägerin ging am 5. Januar 1990 bei dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) ein.

Wegen nicht abgeführter Lohn- und Kirchensteuer für die Monate Oktober und November 1989 nahm das FA den Ehemann N. S. als Geschäftsführer einer GmbH nach § 69 der Abgabenordnung (AO 1977) mit Haftungsbescheid vom 28. März 1990 - Zahlungsaufforderung bis zum 30. April 1990 - in Anspruch. Der gegen den Haftungsbescheid eingelegte Einspruch blieb erfolglos.

Mit Verfügung vom 21. Mai 1990 teilte das FA der Klägerin mit, es könne der Abtretungsanzeige nicht entsprechen, da mit Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis habe aufgerechnet werden müssen, die bereits vor dem Eingang der Abtretungsanzeige fällig geworden seien. In dem auf Antrag der Klägerin erteilten Abrechnungsbescheid stellte das FA fest, daß der abgetretene Erstattungsanspruch, soweit er auf den Ehemann N. S. entfiel, durch Aufrechnung mit dem gegenüber N. S. bestehenden Haftungsanspruch erloschen sei.

Die nach erfolglosem Einspruch gegen den Abrechnungsbescheid erhobene Klage der Klägerin wurde vom Finanzgericht (FG) abgewiesen. Das FG führte im wesentlichen aus, die Verfügung des FA vom 21. Mai 1990 stelle eine Aufrechnungserklärung gegenüber der Klägerin als Neugläubigerin i. S. des § 406 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dar, da in ihr der Wille des FA zur Tilgung und Verrechnung klar und unzweideutig zum Ausdruck komme. Auch seien die Ausnahmetatbestände, die nach § 406 BGB die Aufrechnung hindern könnten, im Streitfall nicht erfüllt. Das FA habe seine Gegenforderungen bereits vor dem Zugang der Abtretungsanzeige erworben, da der Haftungsanspruch hinsichtlich der Lohn- und Kirchensteuer für Oktober und November 1989 spätestens am 10. Dezember 1989 entstanden sei. Die Entstehung des Haftungsanspruchs setze keine Festsetzung durch einen Haftungsbescheid und keine Fälligkeit voraus. Im übrigen sei der Haftungsanspruch nach dem im Bescheid enthaltenen Leistungsgebot bereits am 30. April 1990 und damit früher als der abgetretene Erstattungsanspruch fällig geworden, so daß auch das zweite Aufrechnungshindernis gemäß § 406 BGB nicht gegeben sei. Wegen der Begründung des FG im einzelnen wird auf die Urteilsveröffentlichung in Entscheidungen der Finanzgerichte 1996, 252 Bezug genommen.

Mit der Revision rügt die Klägerin u. a.: Zu Unrecht habe das FG die Aufrechnungsbefugnis des FA gegenüber der Neugläubigerin nach § 406 BGB bejaht und das Vorliegen der dort normierten Ausnahmetatbestände verneint. Bei richtiger tatsächlicher und rechtlicher Würdigung hätte das FG zu dem Ergebnis kommen müssen, daß das FA bereits beim Erwerb der Forderung aus dem Haftungsbescheid Kenntnis von der Abtretung gehabt habe. Der Anspruch des FA gegen den Haftungsschuldner werde, selbst wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Haftung vorlägen, erst mit der Zustellung des Haftungsbescheids fällig; vorher existiere keine Haftungsschuld. Der Haftungsbescheid habe - entgegen der Ansicht des FG - nicht nur deklaratorische, sondern konstitutive Bedeutung. Denn im Rahmen einer zweistufigen Prüfung müsse nach Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Haftungsnorm entschieden werden, ob und wer als Haftungsschuldner in Betracht komme und auch in Anspruch genommen werden solle.

Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Abrechnungsbescheid des FA in der Gestalt der Einspruchsentscheidung dahin abzuändern, daß der an sie abgetretene Erstattungsanspruch als noch nicht erloschen festgestellt wird.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Das FG hat zu Recht entschieden, daß der an die Klägerin abgetretene Erstattungsanspruch des N. S. durch wirksame Aufrechnungserklärung seitens des FA gegenüber der Neugläubigerin (Zessionarin) mit dem gegenüber dem Zedenten (N. S.) bestehenden Haftungsanspruch, gegen den wegen der Bestandskraft des Haftungsbescheids Einwendungen nicht mehr erhoben werden können, erloschen ist (§ 226 Abs. 1 AO 1977 i. V. m. §§ 387, 388, 389 und 406 BGB).

Nach § 406 BGB kann der Schuldner (hier: das FA) eine ihm gegen den bisherigen Gläubiger zustehende Forderung auch dem neuen Gläubiger (hier: der Klägerin) gegenüber aufrechnen, es sei denn, daß er bei dem Erwerb der Forderung von der Abtretung Kenntnis hatte (Ausnahme 1) oder daß die Forderung erst nach der Erlangung der Kenntnis und später als die abgetretene Forderung fällig geworden ist (Ausnahme 2). Mit Recht hat das FG entschieden, daß im Streitfall einer der gesetzlichen Ausnahmetatbestände nicht vorgelegen hat, so daß das FA gegenüber der Klägerin als der neuen Gläubigerin aufrechnen konnte.

a) Das FA (Schuldner) hatte bei dem Erwerb des Haftungsanspruchs gegenüber dem bisherigen Gläubiger N. S. (Gegenforderung) von der Abtretung des Steuererstattungsanspruchs (Hauptforderung) keine Kenntnis. Denn der Haftungsanspruch des FA hinsichtlich der nicht abgeführten Lohnsteuer und Kirchensteuer für die Monate Oktober und November 1989 ist spätestens am 10. Dezember 1989 entstanden, d. h. vom FA i. S. des § 406 BGB erworben worden, während die Abtretung des Steuererstattungsanspruchs an die Klägerin dem FA erst am 5. Januar 1990 angezeigt worden ist.

Nach § 406 BGB genügt es zur Erhaltung der Aufrechnungsmöglichkeit auch gegenüber dem Neugläubiger, daß der Rechtsgrund der zur Aufrechnung verwendeten Gegenforderung zur Zeit (der Kenntnis von) der Abtretung bereits bestanden hat. Die Gegenforderung muß - entgegen der Auffassung der Revision - zu diesem Zeitpunkt nicht fällig sein; zum Ausschluß auch des zweiten gesetzlichen Ausnahmetatbestandes genügt es vielmehr, daß die Gegenforderung spätestens zugleich mit der abgetretenen Forderung fällig wird (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 27. April 1972 II ZR 122/70, BGHZ 58, 327, m. w. N.). Da somit die Gegenforderung zur Zeit der Abtretung lediglich "dem Rechtsgrund nach" gegeben sein muß, reicht hierfür bei Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (vgl. § 37 Abs. 1 AO 1977) der materiell-rechtliche Entstehungstatbestand i. S. von § 38 AO 1977 aus. Danach entsteht ein Haftungsanspruch, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft. Das bedeutet, daß die Voraussetzungen des Haftungstatbestands erfüllt sein müssen; wegen der Akzessorietät des Haftungsanspruchs ist hierfür im Regelfall (Ausnahme z. B. § 76 AO 1977) weiter erforderlich, daß auch die Steuerschuld, für die gehaftet werden soll, entstanden ist und noch besteht (vgl. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 38 AO 1977 Anm. 84; Böker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 191 AO 1977 Anm. 16; Halaczinsky in Koch/Scholz, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 191 Rz. 10; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 38 AO 1977 Tz. 2; ähnlich: Mösbauer, Inanspruchnahme durch Steuerhaftungsbescheid, Deutsches Steuerrecht 1984, 94, 96: Tatbestandsverwirklichung in dem Zeitpunkt, in dem die Steuerschuld bei pflichtgemäßem Verhalten des Steuerschuldners bzw. dessen Vertreters fällig geworden wäre).

Für die Entstehung des Haftungsanspruchs als abstrakten, materiell-rechtlichen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (§§ 37 Abs. 1, 38 AO 1977) bedarf es deshalb - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht des Erlasses eines Haftungsbescheids (vgl. Senat, Urteil vom 6. Februar 1990 VII R 86/88, BFHE 160, 108, BStBl II 1990, 523, 524, zu der entsprechenden Rechtslage und Unterscheidung zwischen Entstehung und Festsetzung des Steueranspruchs). Der Haftungsbescheid konkretisiert lediglich den bereits entstandenen Haftungsanspruch und bildet die Grundlage für die Verwirklichung dieses Anspruchs (§ 218 Abs. 1 AO 1977; Böker, a. a. O., § 191 AO 1977 Anm. 98; Tipke/Kruse, a. a. O., § 191 AO 1977 Tz. 3; Dumke in Schwarz, Abgabenordnung, § 191 Anm. 8; Ehlers in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, Vor § 69 bis 71 AO 1977 Rz. 11). Der Haftungsbescheid hat demnach - wie das FG ausgeführt hat - ebenso wie der Steuerbescheid keine konstitutive, sondern nur deklaratorische Bedeutung.

Dem steht - entgegen der Auffassung der Revision - nicht entgegen, daß die Entscheidung der Finanzbehörde über die Geltendmachung der Haftung auf zwei Stufen zu treffen ist (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 69 AO 1977 Tz. 14). Bereits die Prüfung auf der ersten Stufe, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftung erfüllt sind, beantwortet die Frage nach der Entstehung des Haftungsanspruchs; auf der zweiten Stufe der Ermessensausübung (§ 191 Abs. 1 Satz 1 AO 1977: ... "kann" ...) hat die Finanzbehörde sodann zu entscheiden, ob und ggf. welchen der Haftungsschuldner, gegen den der Haftungsanspruch materiell-rechtlich gegeben ist, sie durch Haftungsbescheid in Anspruch nehmen will.

Die vorstehende Auffassung von der Entstehung des Haftungsanspruchs bereits mit der Erfüllung der Voraussetzungen der Haftungsnorm unabhängig von dem Erlaß des Haftungsbescheids entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (vgl. BFH-Urteil vom 2. Mai 1984 VIII R 239/82, BFHE 141, 312, BStBl II 1984, 695, und Senatsurteil vom 14. März 1989 VII R 152/85, BFHE 156, 73, 76, BStBl II 1990, 363 - Entstehung des Haftungsanspruchs nach § 128 des Handelsgesetzbuches vor Bekanntgabe des Haftungsbescheids und Fälligkeit -). Wenn auch eine eigenständige Begründung dieser Rechtsauffassung nur dem zu § 116 der Reichsabgabenordnung (AO) ergangenen Urteil in BFHE 141, 312, 314, BStBl II 1984, 695 entnommen werden kann, so kann - wie das FG ausgeführt hat - für Haftungsansprüche nach der AO 1977 nichts anderes gelten. Zwar sind nunmehr die Regelungen für Steuerpflichtige und Steuerbescheide nicht mehr ohne weiteres auf Haftungsschuldner und Haftungsbescheide anwendbar (vgl. hierzu für die alte Rechtslage § 97 Abs. 2 AO). Die Entstehung sowohl der Steueransprüche als auch der Haftungsansprüche ist aber - wie ausgeführt - nach § 38 AO 1977 wie früher gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 2 des Steueranpassungsgesetzes allein von der Verwirklichung des jeweiligen materiell-rechtlichen Tatbestandes und nicht von der Festsetzung der Ansprüche durch Steuer- oder Haftungsbescheid abhängig. Im übrigen folgt auch aus der Regelung in § 191 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 über den Beginn der Festsetzungsfrist für den Haftungsanspruch mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft, daß die Entstehung des Anspruchs von dessen Festsetzung durch einen Haftungsbescheid unabhängig ist; denn der Beginn der Festsetzungsfrist setzt die Entstehung des Anspruchs voraus.

Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, daß der Altgläubiger N. S. als Geschäftsführer der von ihm vertretenen GmbH den Haftungstatbestand gemäß §§ 34, 69 AO 1977 spätestens am 10. Dezember 1989 erfüllt hat, weil er die bis zu diesem Fälligkeitszeitpunkt abzuführende Lohnsteuer und Kirchensteuer für November 1989 nicht an das FA entrichtet hat. Der Haftungsanspruch, gegen den Einwendungen - wie oben ausgeführt - wegen der Bestandskraft des Haftungsbescheids ausgeschlossen sind, ist damit spätestens am 10. Dezember 1989, und damit vor der Kenntniserlangung des FA von der Abtretung des Steuererstattungsanspruchs (5. Januar 1990) entstanden. Da es auf den späteren Erlaß des Haftungsbescheids vom 28. März 1990 für die Entstehung des Anspruchs nicht ankommt, war das FA nach § 406 BGB befugt, mit seiner vor Kenntnis der Abtretung des Erstattungsanspruchs erworbenen Gegenforderung auch der Klägerin als Neugläubigerin gegenüber aufzurechnen.

b) Zu Recht hat das FG entschieden, daß auch der die Aufrechnung gegenüber dem Neugläubiger nach § 406 BGB hindernde zweite Ausnahmetatbestand - Fälligkeit der Gegenforderung erst nach der Erlangung der Kenntnis und später als die abgretretene Forderung - nicht vorliegt. Der Haftungsanspruch des FA als zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung ist nach dem in dem Haftungsbescheid enthaltenen Leistungsgebot mit dem Ablauf der eingeräumten Zahlungsfrist zum 30. April 1990 fällig geworden (§ 220 Abs. 2 Satz 1 2. Alternative AO 1977; vgl. Urteil des Senats in BFHE 156, 73, 75, BStBl II 1990, 363). Damit ist die Gegenforderung zwar nach der Erlangung der Kenntnis von der Abtretung (5. Januar 1990), aber nicht - wie der Ausschlußtatbestand weiter voraussetzt - später als die abgetretene Forderung fällig geworden; denn die Fälligkeit des abgetretenen Steuererstattungsanspruchs ist - wie das FG zutreffend ausgeführt hat - jedenfalls nicht vor der Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheids 1988 an die Zedenten (Eheleute S.), die nach den Feststellungen des FG am 21. Mai 1990 erfolgt ist, eingetreten (§ 220 Abs. 2 Satz 2 AO 1977).

Die Klage gegen den angefochtenen Abrechnungsbescheid ist damit vom FG zu Recht abgewiesen worden.