| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Urteil vom 31.8.1995 (VII R 98/94) BStBl. 1997 II S. 629

Zur Frage, unter welchen Umständen die berufliche Niederlassung des Steuerberater-Geschäftsführers im "Nahbereich" des Sitzes der Gesellschaft anzunehmen ist.

StBerG § 50 Abs. 1 Satz 2.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg (EFG 1995, 141)

Sachverhalt

Der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war im September 1987 die Anerkennung als Steuerberatungsgesellschaft ausgesprochen worden. Sie hat ihren Sitz in G, wo sich auch der Wohnsitz ihres einzigen Geschäftsführers S befindet. Neben dieser Tätigkeit als Alleingeschäftsführer der Klägerin übt S seinen Beruf als Steuerberater auch selbständig mit eigener Praxis aus. Seine berufliche Niederlassung i. S. des § 34 Abs. 1 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes (StBerG) hat S nunmehr von W nach Sch verlegt. Die Luftliniendistanz zwischen G einerseits und Sch bzw. W andererseits beträgt jeweils knapp 30 km. Die mit dem Pkw zu bewältigende Straßenentfernung liegt über 30 km.

Nach längerem Schriftwechsel und erfolgloser Abmahnung durch die beigeladene Steuerberaterkammer widerrief der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzministerium - FinMin -) unter Einhaltung des vorgeschriebenen Verfahrens mit Verwaltungsakt vom 30. Mai 1994 die Anerkennung der Klägerin als Steuerberatungsgesellschaft mit der Begründung, die berufliche Niederlassung des S befinde sich nicht im Nahbereich des Sitzes der Steuerberatungsgesellschaft, so wie dies von § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG gefordert werde. Als Nahbereich werde nach ständiger Entscheidungspraxis des FinMin lediglich eine Entfernung der beruflichen Niederlassung des Steuerberater-Geschäftsführers bis zu 20 km vom Sitz der Gesellschaft angesehen.

Die gegen den Widerrufsbescheid erhobene Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) teilte die Auffassung des FinMin. Die Regelung über die "Ortsnähe" in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG sei im Hinblick auf ihre Zielsetzung, den Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit und Höchstpersönlichkeit der Berufsausübung (§ 57 Abs. 1 StBerG) zu stärken, auszulegen. Da die Leitung mehrerer Beratungsstellen durch einen Berufsangehörigen im Grunde dieser Zielsetzungsgruppe widerspreche, scheide ein an vornehmlich wirtschaftsgeographischen und bürotechnischen Kriterien orientiertes Verständnis des Begriffs "Nahbereich" von vornherein aus. Bei einer Luftliniendistanz von 30 km sei nicht mehr gewährleistet, daß der Berufsangehörige auch unter Berücksichtigung moderner Kommunikationsmittel zwei Beratungsstellen so führen könne, daß er in hinreichendem Umfang tatsächlich anwesend sein könne, um seine der Steuerrechtspflege gewidmete Berufstätigkeit höchstpersönlich und eigenverantwortlich zu entfalten. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf das in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1995, 141 abgedruckte Urteil der Vorinstanz verwiesen.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Das FG habe den Begriff "Nahbereich" in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG falsch ausgelegt. Die Festlegung auf 30 km sei willkürlich; sie sei weder durch den allgemeinen Sprachgebrauch noch durch andere Gründe gerechtfertigt. Sie lasse Wirtschaftsräume und moderne Telekommunikationsmittel völlig außer acht und widerspreche auch der im Schrifttum vertretenen Auffassung, wonach als Grenze des Nahbereichs ein Umkreis von 50 km angesehen werde.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der Senat teilt nicht die enge Auslegung des Begriffs "Nahbereich" in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG durch das FG.

1. Zutreffend ist die Vorentscheidung davon ausgegangen, daß das FinMin als zuständige oberste Landesbehörde gemäß § 55 Abs. 2 StBerG die Anerkennung als Steuerberatungsgesellschaft widerrufen muß, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung der Gesellschaft nachträglich fortfallen und die Gesellschaft einen dem Gesetz entsprechenden Zustand nicht innerhalb einer ihr vom FinMin gesetzten angemessenen Frist herbeiführt. Entsprechendes muß nach Sinn und Zweck der Regelung grundsätzlich auch dann gelten, wenn der Gesetzgeber nach dem Zeitpunkt der Anerkennung der Steuerberatungsgesellschaft eine neue Voraussetzung für die Anerkennung schafft und die Steuerberatungsgesellschaft dieser Voraussetzung nach entsprechender Fristsetzung nicht nachkommt. So ist die Ausgangslage im Streitfall.

a) Eine Voraussetzung für die Anerkennung als Steuerberatungsgesellschaft ist nach derzeitigem Recht, daß mindestens ein Steuerberater, der Mitglied des Vorstands, Geschäftsführer oder persönlich haftender Gesellschafter ist, seine berufliche Niederlassung am Sitz der Gesellschaft oder in dessen Nahbereich haben muß (§ 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG). Wird die Steuerberatungsgesellschaft, wie im Streitfall, in der Rechtsform der GmbH betrieben (§ 49 Abs. 1 StBerG) und von einem Steuerberater als Alleingeschäftsführer geführt, so muß dieser die in der Vorschrift genannten Anforderungen erfüllen. Die Vorschrift setzt voraus, daß der betreffende Steuerberater in seiner Funktion als Steuerberater noch anderweitig tätig sein darf ("Mehrfachfunktion"), daß mithin unterschiedliche berufliche Niederlassungen von Gesellschaft und Steuerberater unterhalten werden können. Ist der Steuerberater dabei selbständig tätig, so ist seine berufliche Niederlassung die Beratungsstelle (Praxis, Kanzlei), von der aus er seinen Beruf selbständig ausübt (§ 34 Abs. 1 Satz 1 StBerG). Mithin ist im Streitfall Voraussetzung für die Anerkennung der Klägerin, daß die Praxis ihres Geschäftsführers S in Sch, von der aus dieser seinen Beruf als Steuerberater selbständig betreibt, zum Nahbereich von G, dem Sitz der Klägerin, gehört.

b) Zur Zeit der Anerkennung der Klägerin als Steuerberatungsgesellschaft im September 1987 war hingegen für die Anerkennung einer Steuerberatungs-GmbH erforderlich, daß ihr Geschäftsführer seinen Wohnsitz am Sitz der Gesellschaft hatte (§ 50 Abs. 1 StBerG in der Bekanntmachung der Neufassung vom 4. November 1975, BGBl I, 2735). Diese Voraussetzung lag damals bei der Klägerin vor, da S seinen Wohnsitz, wie auch heute noch, in G, dem Sitz der Klägerin hatte. In der Folge wurde die Residenzpflicht gelockert und auf den Nahbereich des Sitzes der Gesellschaft ausgedehnt (§ 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG i. d. F. des Vierten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes - 4. StBerÄndG - vom 9. Juni 1989, BGBl I, 1062). In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: "Um der insbesondere in Ballungsgebieten üblichen Trennung von Geschäfts- und Wohnbereich Rechnung zu tragen, ist die Residenzpflicht nicht mehr an die politische Gemeinde gebunden, in der sich der Sitz der Gesellschaft befindet, sondern auf deren Nahbereich ausgedehnt worden" (BTDrucks. 11/3915 S. 24).

Erst durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes - 5. StBerÄndG - vom 13. Dezember 1990 (BGBl I, 2756) wurde mit Wirkung ab 20. Dezember 1990 die Anknüpfung an den Wohnsitz des Steuerberaters in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG durch die Anknüpfung an dessen berufliche Niederlassung ersetzt. Gehre (Steuerberatungsgesetz, 3. Aufl. 1995, § 50 Rz. 7) hält dies für ein Redaktionsversehen, da die erst durch das 4. StBerÄndG präzisierte Regelung über den Wohnsitz anläßlich der Regelung der beruflichen Niederlassung nicht aufgegeben werden sollte. Aus der vom Finanzausschuß des Deutschen Bundestages, auf dessen Anregung der neue Wortlaut Gesetz wurde, gegebenen Begründung (vgl. BTDrucks. 11/8343 S. 19) läßt sich indessen folgern, daß das Wohnsitzkriterium bewußt aufgegeben und durch das Kriterium der beruflichen Niederlassung ersetzt worden ist (so ausdrücklich im übrigen die vorletzte Begründungserwägung des Ausschusses, a. a. O., S. 3). Der Finanzausschuß hatte nämlich beanstandet, daß die bisherige Regelung (Anknüpfung an den Wohnsitz) "sowohl beim Anerkennungsverfahren als auch in der Berufsaufsicht zu Unzuträglichkeiten in Fällen" führt, "in denen der Geschäftsführer und die Steuerberatungsgesellschaft berufliche Niederlassungen an unterschiedlichen Orten und damit nicht derselben Berufsaufsicht unterstehen". Nach Ansicht des Ausschusses soll die Neuregelung (Anknüpfung an die berufliche Niederlassung) die Unzuträglichkeiten beseitigen, wobei das Erfordernis der verantwortlichen Leitung der Gesellschaft von der Gesetzesänderung unberührt bleiben soll.

Hiernach ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber mit der Anknüpfung an die berufliche Niederlassung vor allem eine Unterstellung der beruflichen Niederlassung der Steuerberatungsgesellschaft und des Steuerberater-Geschäftsführers unter ein und dieselbe Steuerberaterkammer (vgl. § 73 Abs. 1 und § 74 Abs. 1 StBerG) bezweckt hat, damit die Berufsaufsicht der für die Steuerberatungsgesellschaft zuständigen Berufskammer mit der Berufsaufsicht über mindestens ein Mitglied des Geschäftsführungsorgans zusammenfällt (vgl. so Mittelsteiner, Fünftes Gesetz zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1991, 328, 329).

c) Daraus folgt zunächst, daß der Gesetzgeber mit der Neuregelung durch das 5. StBerÄndG der Residenzpflicht durch die Anknüpfung an die berufliche Niederlassung des Steuerberaters statt an dessen Wohnsitz einen neuen Inhalt geben wollte. Es ist daher gerechtfertigt, von der Einführung einer neuen Anerkennungsvoraussetzung zu sprechen, welche nicht nur die neu zuzulassenden, sondern - jedenfalls grundsätzlich und ohne Übergangsregelung - auch die bestehenden Steuerberatungsgesellschaften erfüllen müssen. Kommen diese einer entsprechenden Abmahnung mit angemessener Fristsetzung durch die oberste Landesfinanzbehörde nicht nach, ist eine Anerkennungsvoraussetzung i. S. des § 55 Abs. 2 StBerG nachträglich entfallen, was zum Widerruf der Anerkennung zwingt (so auch Mittelsteiner, DStR 1991, 328, 329).

2. Der Vorentscheidung kann allerdings nicht darin gefolgt werden, daß bei einer Luftlinienentfernung von 30 km zwischen den beiden beruflichen Niederlassungen die Voraussetzung "Nahbereich" nach § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG nicht mehr gegeben ist.

a) Der Begriff "Nahbereich" ist im Gesetz nicht definiert. Das gilt nicht nur für die Verwendung des Begriffs in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG, sondern gleichermaßen auch für die Verwendung des durch das 5. StBerÄndG in § 34 Abs. 2 Satz 2 StBerG eingefügten identischen und gleichbedeutenden Begriffs, wonach der Leiter einer weiteren Beratungsstelle eines Steuerberaters oder einer Zweigniederlassung einer Steuerberatungsgesellschaft seine berufliche Niederlassung am Ort der Beratungsstelle oder "in deren Nahbereich" haben muß.

b) Der Senat hat in seiner bisherigen Rechtsprechung über den Begriff "Nahbereich" im StBerG noch nicht befunden. Im Schrifttum wird mehrheitlich die Auffassung vertreten, der Begriff "umfasse Orte im Umkreis von 50 km Luftlinie, gemessen von der tatsächlichen Lage der Kanzlei, wenn ausreichende Straßen- oder Nahverkehrsverbindungen beständen, die eine eigenverantwortliche Leitung ermöglichten (Muuss, Neue Wirtschafts-Briefe - NWB -, Fach 30, 809, 812; zustimmend - jedoch nach Maßgabe der Verhältnisse des Einzelfalls - Peter/Charlier, Steuerberatungsgesetz, 3. Aufl., § 34 Rz. 38). Nach Gehre (a. a. O., § 50 Rz. 6) müssen bei der Abgrenzung des Nahbereichs die Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden, z. B. die räumliche Entfernung, die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel und die Fahrtdauer; in der Regel komme ein Hinausgehen über die unmittelbare politische Nachbargemeinde aber nicht in Betracht.

c) Eine Auslegung des Begriffs nach dem Wortsinn oder dem allgemeinen Sprachgebrauch hilft nicht weiter. Insbesondere wird der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch in unterschiedlichen Lebensbereichen unterschiedlich verwendet. So umfaßt beispielsweise der Nahbereich im Güternahverkehr, die Nahzone, im wesentlichen einen 75 km-Luftlinienumkreis um den Mittelpunkt des Standorts des Kfz (vgl. § 2 Abs. 2 des Güterkraftverkehrgesetzes in der Bekanntmachung der Neufassung vom 3. November 1993, BGBl I, 1839; bis dahin waren es 50 km, s. BGBl I 1983, 256), während der Nahbereich im Telefonnetz, die Nahtarifzone, sich im Regelfall auf alle nicht angrenzenden Ortsnetze im Umkreis von höchstens 20 km vom Ursprungsortsnetz erstreckt (vgl. Anhang 1 zu § 2 der Telekommunikationsordnung vom 16. Juni 1987, BGBl I, 1761, Stichwort: "Nahtarifzone"). Wieder andere Gesichtspunkte mögen für die Festlegung des öffentlichen Personennahverkehrs maßgeblich sein.

d) Auch der in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers läßt sichere Rückschlüsse nicht zu. Durch die Einführung des Begriffs "Nahbereich" durch das 4. StBerÄndG in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG sollte lediglich die Residenzpflicht (hinsichtlich des Wohnsitzes) gelockert und durch ihre Ausdehnung über die politische Gemeinde, in der sich der Sitz der Gesellschaft befindet, auf deren (so die Gesetzesbegründung in BTDrucks. 11/3915 S. 24) oder dessen (so das Gesetz) Nahbereich der "insbesondere in Ballungsgebieten üblichen Trennung von Geschäfts- und Wohnbereich Rechnung" getragen werden. Immerhin läßt die Begründung erkennen, daß der Gesetzgeber mit dem Begriff "Nahbereich" eine gewisse räumliche Entfernung zwischen Kanzlei der Gesellschaft und Wohnsitz ihres Geschäftsführers tolerieren wollte, wobei als Anhaltspunkt für eine Auslegung die Tolerierung der insbesondere in den Ballungsgebieten üblich gewordenen Trennung von Geschäfts- und Wohnbereich dienen könnte. Der mit dem 5. StBerÄndG vollzogene Austausch von Wohnsitz und beruflicher Niederlassung hat zwar den Inhalt des Begriffs "Nahbereich" als solche nicht verändert. Wohl aber ist daraus auch das Zugeständnis zu entnehmen, daß eine gewisse räumliche Entfernung von der Kanzlei der Gesellschaft zur Kanzlei ihres Geschäftsführers unschädlich sein sollte.

Diese Beweggründe lassen allerdings eine feste, nach Kilometern bestimmte Fixierung des Nahbereichs als alleinigen Maßstab nicht zu. Welche Entfernung zwischen Geschäfts- und Wohnbereich bzw. zwischen den getrennten Geschäftsbereichen als unschädlich anzusehen ist, darf nicht nur nach der räumlichen Entfernung bestimmt werden. Zu berücksichtigen sind vielmehr auch die Verkehrsverhältnisse, die bestehenden öffentlichen Nahverkehrsverbindungen unter Berücksichtigung ihrer Fahrtdauer sowie ganz allgemein die Verhältnisse des Immobilienmarktes in einer bestimmten Region. Insoweit teilt der Senat die Auffassung von Gehre (a. a. O., § 50 Rz. 6), folgt aber nicht der von diesem im Regelfall für geboten gehaltenen Begrenzung des Nahbereichs auf die unmittelbare politische Nachbargemeinde. In einer Großstadt, wie z. B. München, in die sehr viele Menschen nicht nur aus den unmittelbaren politischen Nachbargemeinden zur Arbeit pendeln, ist eine solche Eingrenzung schon mit Rücksicht auf die Bedeutung des S-Bahn-Bereichs für die Beförderung der Pendler sicher nicht gerechtfertigt.

Die für den Austausch von Wohnsitz und beruflicher Niederlassung als Anknüpfungskriterium für die Bestimmung des Nahbereichs vom Finanzausschuß gegebene Begründung (BTDrucks. 11/8343 S. 19) spricht im übrigen mehr dafür, daß der Begriff "Nahbereich" in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG unter Heranziehung auch anderer Gesichtspunkte als der rein räumlichen Entfernung der Kanzleien in Kilometern und zudem nicht allzu kleinlich auszulegen ist. Wenn der Finanzausschuß mit der Neuregelung erreichen wollte, daß Steuerberatungsgesellschaft und Geschäftsführer möglichst derselben Berufsaufsicht unterstehen sollen, ist anzunehmen, daß es vor der Neuregelung zahlreiche Fälle gegeben hat, bei denen sich die beruflichen Niederlassungen von Steuerberatungsgesellschaft einerseits und Geschäftsführer-Steuerberater andererseits in unterschiedlichen Kammerbezirken, mithin in unterschiedlichen Oberfinanzbezirken (§ 73 Abs. 1, § 74 Abs. 1 StBerG), befunden haben. Das wiederum spricht dafür, daß in die Neuregelung auch Kanzleien einbezogen werden sollten, zwischen denen eine größere, über die Grenzen der Oberfinanzbezirke hinausreichende räumliche Entfernung besteht. Wenn auch Gehre (a. a. O., § 50 Rz. 6) mit Recht darauf hinweist, daß das Ziel der Neuregelung, Gesellschaft und Steuerberater in einem Kammerbezirk einer einheitlichen Berufsaufsicht zu unterstellen, nicht vollständig zu erreichen war, weil insbesondere in Ballungsgebieten, aber auch in Randlagen, der "Nahbereich" jenseits der Grenze des Kammerbezirks liegen kann, in der sich der Sitz der Steuerberatungsgesellschaft befindet, so ist doch der Gesichtspunkt der einheitlichen Kammerzugehörigkeit mit Rücksicht auf seine Bedeutung als Motiv der Neuregelung bei der Auslegung des Begriffs "Nahbereich" nicht völlig außer acht zu lassen.

e) Keine Anhaltspunkte für die Auslegung des Begriffs "Nahbereich" liefern die häufig vergleichbare Problemlösungen bietenden verwandten Berufsordnungen.

§ 28 Abs. 1 Satz 2 der Wirtschaftsprüferordnung i. d. F. des Dritten Änderungsgesetzes vom 15. Juli 1994 (BGBl I, 1569) hat zwar den Austausch von Wohnsitz und beruflicher Niederlassung als Anknüpfungskriterium nachvollzogen, verlangt aber eine unbedingte Identität der Kanzleiorte des Wirtschaftsprüfers und der Gesellschaft. Hieraus lassen sich aber auch keine Folgerungen für eine entsprechend enge Auslegung des Begriffs "Nahbereich" im StBerG ziehen; denn hätte der Gesetzgeber eine ähnlich restriktive Handhabung im Steuerberatungsrecht gewollt, hätte er das StBerG entsprechend ändern können bzw. müssen.

Nach § 27 Abs. 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung i. d. F. des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts usw. vom 2. September 1994 (BGBl I, 2278) muß ein Rechtsanwalt seine Kanzlei grundsätzlich am Ort des Gerichts, bei dem er zugelassen ist, einrichten; jedoch kann die Landesjustizverwaltung bestimmen, daß benachbarte Orte im Sinne dieser Vorschrift als ein Ort anzusehen sind. Nach § 10 Abs. 2 der Bundesnotarordnung vom 24. Februar 1961 (BGBl I, 98) muß ein Notar Geschäftsstelle und Wohnsitz grundsätzlich am Ort des Amtssitzes nehmen. Auch aus diesen Regelungen läßt sich für die Auslegung des Begriffs "Nahbereich" im StBerG nichts herleiten.

f) Bei einer Auslegung nach Sinn und Zweck der Regelung, wie sie richtigerweise auch von der Vorinstanz vorgenommen worden ist, folgt der Senat dem FG darin, daß die Regelung in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG den Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit und Höchstpersönlichkeit der Berufsausübung (§ 57 Abs. 1, § 32 Abs. 3 Satz 2 StBerG) zum Ausdruck bringt. Die erwähnten Gesetzesmaterialien lassen aber erkennen, daß trotz örtlich getrennter Kanzleien des in einer Mehrfachfunktion tätigen Steuerberaters, etwa als Geschäftsführer einer Steuerberatungsgesellschaft einerseits und als selbständiger Steuerberater andererseits, der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit gewahrt sein kann, wenn sich diese Kanzleien im "Nahbereich" befinden. Anders können die angeführten Begründungen "Von der Gesetzesänderung unberührt bleibt das Erfordernis von der verantwortlichen Leitung der Gesellschaft" (BTDrucks. 11/8343 S. 19) bzw. "Die allgemeinen Berufsgrundsätze, insbesondere auch über die Eigenverantwortlichkeit des Steuerberaters, gelten für solche auswärtigen Beratungsstellen ohne Einschränkung" (BTDrucks. 11/7665 S. 9) nicht verstanden werden.

Die restriktive Auffassung der Vorinstanz zur Auslegung des Begriffs "Nahbereich" beruht im wesentlichen darauf, daß eine gleichzeitige Leitung des Steuerberaters von Hauptniederlassung und Zweigniederlassung die gewissenhafte Berufsausübung gefährde (§ 34 Abs. 2 Satz 2 StBerG). In der Tat ist es anerkannt, daß ein Steuerberater nicht gleichzeitig zwei auf eigene Rechnung betriebene Kanzleien leiten kann (Gehre, a. a. O., § 34 Rz. 12 m. w. N.). Das gilt jedoch nach § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG nicht, wenn eine Kanzlei selbständig auf eigene Rechnung und die andere Kanzlei für Rechnung einer Steuerberatungsgesellschaft betrieben wird. Diese Doppelfunktion darf nicht ohne weiteres dahin gewertet werden, sie schließe die verantwortliche Führung der Gesellschaft durch einen Steuerberater (§ 32 Abs. 3 Satz 2 StBerG) aus. Vielmehr geht die Regelung in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG erkennbar davon aus, daß örtlich, rechtlich und organisatorisch getrennte Unternehmungen durch ein und dieselbe Person umfassend und pflichtbewußt geleitet werden können. Insofern folgt das Berufsrecht der Steuerberater nicht der strengen Betrachtungsweise, die für das Berufsrecht der Wirtschafts- und Buchprüfer vertreten wird (vgl. dazu Verwaltungsgericht Hannover, Urteil vom 25. August 1993 5 A 3374/91, Wirtschaftsprüferkammer-Mitteilungen 1/1994, 65). Die Beratungsstelle der Steuerberatungsgesellschaft darf demgemäß "der Sache nach" nicht als weitere Beratungsstelle des Steuerberater-Geschäftsführers entsprechend § 34 Abs. 2 Satz 2 StBerG angesehen werden, selbst wenn dieser der einzige Geschäftsführer der Gesellschaft ist. Das bedeutet, daß daraus auch keine Schlüsse für eine enge Auslegung des Begriffs "Nahbereich" in § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG gezogen werden können.

Eine zutreffende Auslegung nach Sinn und Zweck der Norm hat zu berücksichtigen, daß der Steuerberater-Geschäftsführer während der Bürozeiten nicht ständig an der Beratungsstelle der Gesellschaft präsent sein muß. Die verantwortliche Führung der Steuerberatungsgesellschaft (§ 32 Abs. 3 Satz 2 StBerG) erfordert es indessen doch, daß er während der Bürozeiten jederzeit innerhalb einer angemessenen und vernünftigen Zeitspanne für die Mandanten und für die Erledigung von Bürogeschäften erreichbar ist. Während letzteres, wenn es eilt, weitgehend durch moderne Telekommunikationsmittel bewerkstelligt werden kann, muß für das kurzfristig notwendig werdende persönliche Gespräch mit dem Mandanten sichergestellt sein, daß der Steuerberater in angemessener Zeit von der einen Beratungsstelle zur anderen Beratungsstelle gelangen kann.

Die Auslegung des Begriffs "Nahbereich" nach dieser Zielsetzung führt auch mit Rücksicht auf die Gesetzgebungsgeschichte des § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG zu dem Ergebnis, daß die Erreichbarkeit des Steuerberaters in angemessener Zeit nicht ausschließlich nach der räumlichen Entfernung zwischen den beiden Beratungsstellen bestimmt werden kann. Zu berücksichtigen sind im Einzelfall auch andere Umstände, insbesondere die örtlichen Verkehrsverhältnisse im Raum zwischen den Kanzleien, wobei auch die Fahrtzeiten zwischen den Praxen entweder im Individualverkehr mit dem Pkw oder bei Benutzung der zur Verfügung stehenden öffentlichen Nahverkehrsmittel (Eisenbahn, S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn, Bus) von Bedeutung sein können.

Primärer Anknüpfungspunkt bei der Bestimmung des Bedeutungsinhalts des Begriffs "Nahbereich" muß allerdings - das ist dem Begriff immanent - die räumliche Entfernung zwischen den Kanzleien bleiben. Dabei erscheint zwar, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen, nach den gegenwärtigen Erkenntnissen eine starre Kilometerbegrenzung durch die Rechtsprechung, sei es nach Luftlinienentfernung, sei es nach Straßenkilometern, nicht gerechtfertigt. Auch der Gesetzgeber hat eine solch starre Festlegung nicht getroffen. Der Senat ist indessen der Auffassung, daß unter Berücksichtigung der heutigen Lebensverhältnisse, insbesondere der Verkehrsverhältnisse einschließlich der Verkehrsmittel, zum Nahbereich i. S. des § 50 Abs. 1 Satz 2 StBerG grundsätzlich ein Umkreis von in etwa 50 km Luftlinienentfernung um die Beratungsstelle der Steuerberatungsgesellschaft zu rechnen ist.

Bestehen aufgrund der Umstände im Einzelfall trotz Einhaltung dieser Entfernung Zweifel an der Erreichbarkeit des Steuerberater-Geschäftsführers innerhalb einer angemessenen Zeitspanne, erscheint es gerechtfertigt, die für die Bestimmung des Nahbereichs im Einzelfall maßgebende Entfernung auch unter Berücksichtigung einer zeitlichen Komponente zu bemessen. Angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen, insbesondere der unterschiedlichen Entfernungen, die innerhalb ein und derselben Zeitspanne in Ballungsräumen und Großstädten einerseits und auf dem Land andererseits bewältigt werden können, wird das Kriterium der rein räumlichen Entfernung für sich allein zumindest gelegentlich nicht geeignet sein, die von der Verfassung gebotene Gleichbehandlung sicherzustellen. Es ist daher in solchen Fällen die festgestellte räumliche Entfernung zwischen den Beratungsstellen ("von Haus zu Haus") zur Wahrung des Ziels der Erreichbarkeit in angemessener Zeit daraufhin zu überprüfen, ob der Steuerberater diese entweder im Individualverkehr oder mit den vorgenannten öffentlichen Nahverkehrsmitteln in den üblichen Berufsverkehrszeiten im Zeitraum von etwa einer Stunde zurücklegen kann.

3. Die Sache ist nicht spruchreif. Der Senat kann nicht durcherkennen, weil trotz der vom FG festgestellten Entfernung von ca. 30 km zwischen der Praxis der Klägerin in G. und der Praxis des S in S. - eine Distanz, die im Regelfall dem Nahbereich zuzuordnen ist - nicht auszuschließen ist, daß eine zeitliche Plausibilitätsprüfung im Streitfall zu einem anderen Ergebnis führt. Das FG hat nämlich - von seinem Standpunkt aus zu Recht - keine tatsächlichen Feststellungen darüber getroffen, ob die festgestellte Entfernung zwischen den beiden Praxen in den üblichen Berufsverkehrszeiten im Zeitraum von etwa einer Stunde zurückgelegt werden kann. Das FG hat die erforderlichen Feststellungen nachzuholen und seine erneute Entscheidung unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen des Senats zu treffen.