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  BFH-Urteil vom 20.1.1997 (V R 28/95) BStBl. 1997 II S. 716

1. Die Verzinsung nachträglich festgesetzter Umsatzsteuer beim Leistenden ist nicht deshalb unbillig, weil sich per Saldo ein Ausgleich mit den vom Leistungsempfänger abgezogenen Vorsteuerbeträgen ergibt.

2. Umsatzsteuer für steuerbare und steuerpflichtige Leistungen entsteht unabhängig davon, ob der leistende Unternehmer sie in einer Rechnung gesondert ausweist oder beim FA voranmeldet.

FGO § 102; AO 1977 §§ 227, 233a, § 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3; UStG 1980 § 16 Abs. 1 und 2, §§ 13, 10, 17.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) stellt Offsetreproduktionen (Druckvorlagen) her. Im Juli 1988 wurde bei ihm eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung durchgeführt. Dabei beurteilte der Prüfer eine Leistung an die A-GmbH in C (Schweiz) als nicht steuerbar, weil es sich um eine sonstige Leistung handele, die der Werbung diene und bei der der Ort der Leistung gemäß § 3a Abs. 3 i. V. m. Abs. 4 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1980 im Außengebiet liege. Mit Schreiben vom 7. Juli 1988 bestätigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) dem Kläger die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung.

In der Folgezeit führte der Kläger gleichartige Leistungen aus, die er (bei Preisvereinbarung, bei Inrechnungstellung und im Rahmen seiner Umsatzsteuererklärungen) als nicht steuerbar behandelte.

Im Rahmen einer im Jahre 1992 durchgeführten Umsatzsteuer-Sonderprüfung für die Streitjahre (1989 und 1990) gelangte der Prüfer zu der Auffassung, daß die den Leistungen zugrundeliegenden Rechtsbeziehungen nur mit der inländischen Firma X bestanden hätten und diese Leistungsempfänger gewesen sei. Die Leistungen seien deshalb steuerpflichtig.

Der Kläger berichtigte daraufhin seine Rechnungen an X und wies Umsatzsteuer gesondert aus.

Das FA änderte mit Bescheid vom 15. Juli 1992 die Umsatzsteuerfestsetzungen 1989 und 1990 des Klägers und berücksichtigte dabei die Steuerpflicht der Leistungen des Klägers. Zugleich setzte es gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO 1977) Zinsen wegen der Steuernachforderung fest. Der Einspruch des Klägers gegen die Zinsfestsetzung blieb ohne Erfolg.

Im Klageverfahren setzte das FA die Zinsen für die Streitjahre mit der Begründung herab, daß, soweit die Umsatzsteuer erst 1992 im (zeitlichen) Rahmen der Rechnungsberichtigung entstanden sei (Erhöhung des Entgelts um den Betrag der Umsatzsteuer), eine Verzinsung nicht rechtmäßig sei. Die Beteiligten erklärten daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.

Im Anschluß daran beantragte der Kläger mit Schreiben vom 8. März 1993, die Zinsen insoweit zu erlassen, als sie auf Steuernachforderungen wegen der Umsätze an B beruhen (Zinsen 1989 in Höhe von 4.224 DM und 1990 in Höhe von 1.186 DM). Das FA lehnte den Erlaß ab. Die Beschwerde blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) wies die anschließende Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Finanzbehörden hätten zu Recht einen Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen abgelehnt. Die Verzinsung entspreche dem Gesetzeszweck. § 233a AO 1977 stelle nicht darauf ab, aus welchem Grund die Steuer nicht zeitnah, sondern erst in einem später erlassenen Änderungsbescheid zutreffend festgesetzt worden sei. Die mit der Regelung verbundenen Härten habe der Gesetzgeber bewußt in Kauf genommen. Für Umsatzsteuernachforderungen sei unerheblich, ob der Steuerpflichtige die Umsatzsteuer in einer Rechnung gesondert ausgewiesen und ihren Betrag im Rahmen der Gegenleistung vom Leistungsempfänger vereinnahmt habe. Auch seien für die Verzinsung gemäß § 233a AO 1977 die steuerlichen Verhältnisse beim Leistungsempfänger unerheblich. Die Vorentscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 1994, 909 veröffentlicht.

Der Kläger rügt mit der Revision Verletzung materiellen Rechts, insbesondere Verletzung der §§ 227, 233a AO 1977.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das erstinstanzliche Urteil, die Beschwerdeentscheidung und den Ablehnungsbescheid aufzuheben sowie das FA zu verpflichten, über seinen Erlaßantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet.

Gemäß § 227 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch die Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen wie die hier streitigen Zinsen (§ 37 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 3 AO 1977).

Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme ist eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den durch § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gezogenen Grenzen nachprüfbar ist (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Nach § 102 FGO ist die gerichtliche Prüfung des den Erlaß ablehnenden Bescheides und der hierzu ergangenen Beschwerdeentscheidung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

Das FG hat nach diesem Prüfungsmaßstab eine Verletzung des Ermessens fehlerfrei verneint. Sachliche Billigkeitsgründe, die hier allein in Betracht kommen, sind nicht gegeben.

1. Unbilligkeit aus sachlichen Gründen - auf die der Kläger den Erlaßantrag stützt - kann gegeben sein, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrundeliegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297). Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Vorschrift bewußt in Kauf genommen hat, stehen jedoch dem Erlaß entgegen (ständige Rechtsprechung des BFH; vgl. Senatsentscheidung vom 9. September 1993 V R 45/91, BFHE 172, 237, BStBl II 1994, 131; BFH-Urteil vom 5. Juni 1996 X R 234/93, BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503).

2. Im Streitfall widersprechen die vom Kläger geltend gemachten Umstände nicht den der Verzinsungsregelung des § 233a AO 1977 zugrundeliegenden Wertungen.

a) Führt die Festsetzung von Umsatzsteuer zu einer Steuernachforderung oder Steuererstattung, ist diese zu verzinsen. Dies gilt nicht für die Festsetzung von Vorauszahlungen (§ 233a Abs. 1 Satz 2 AO 1977). Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 233a Abs. 2 Satz 1 AO 1977). Die Umsatzsteuer für das Kalenderjahr (Jahressteuer) entsteht im Sinne der genannten Vorschrift in dem Zeitpunkt, in dem sie nach § 16 Abs. 1 und 2 UStG 1980 berechenbar ist. Dieser Zeitpunkt ist das Ende des Besteuerungszeitraums, mithin des Kalenderjahres (BFH-Urteil vom 9. Mai 1996 V R 62/94, BFHE 181, 188, BStBl II 1996, 662).

Nach § 233a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 (in der bis zum 31. Dezember 1993 geltenden Fassung gemäß Art. 15 Nr. 3 des Steuerreformgesetzes - StRG - 1990 vom 25. Juli 1988, BGBl I 1988, 1093, BStBl I 1988, 224) endet der Zinslauf mit der Fälligkeit der Steuernachforderung oder Steuererstattung, spätestens vier Jahre nach seinem Beginn.

Zweck der Vorschrift des § 233a AO 1977 ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, daß die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (so die Gesetzesbegründung in BTDrucks 11/2157, S. 194; vgl. auch BFH in BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503 unter 3. b). Soweit zweifelsfrei feststeht, daß der Steuerpflichtige durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil oder Nachteil hatte, kann durch die Verzinsung der sich aus der verspäteten Steuerfestsetzung ergebenden Steuernachforderung oder Steuererstattung kein Vorteil oder Nachteil ausgeglichen werden. Für den durch die Vorschrift des § 233a AO 1977 bezweckten "Ausgleich" ist insoweit kein Raum (BFH-Urteil vom 11. Juli 1996 V R 18/95, BFHE 180, 524).

b) Entgegen der Auffassung des Klägers kommt es nicht darauf an, daß die nachträglich festgesetzte Umsatzsteuer und die vom Leistungsempfänger X abgezogenen Vorsteuerbeträge sich per Saldo ausgeglichen haben. Denn § 233a AO 1977 stellt auf einen Vorteil nicht des FA, sondern des Steuerpflichtigen ab. Im übrigen sind die Entstehungsvoraussetzungen für die Steuer des Leistenden und den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers nicht deckungsgleich. Die Umsatzsteuer des Leistenden (hier: des Klägers) entsteht unabhängig von einer Rechnungserteilung. Der Anspruch auf Vorsteuerabzug hängt von der Ausgabe der Rechnung und weiteren Voraussetzungen gemäß § 15 Abs. 2 UStG 1980 ab.

c) Der Kläger hatte einen Liquiditätsvorteil in Höhe der Jahres-Umsatzsteuer, die auf die in 1989 und 1990 an X ausgeführten Umsätze entfiel. Diese Steuer war mit dem Ende des jeweiligen Kalenderjahres entstanden, wurde aber erst durch die Steuerbescheide vom 15. Juli 1992 festgesetzt. Für die Umsatzsteuer 1989 des Klägers begann der Zinslauf gemäß § 233a Abs. 2 Satz 1 AO 1977 15 Monate später, also am 1. April 1991, und für die Umsatzsteuer 1990 des Klägers am 1. April 1992.

d) Dem steht die Auffassung des Klägers nicht entgegen, aufgrund der Abrechnung der Leistungen ohne gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer habe er von X keine Umsatzsteuer vereinnahmt, die er dem Fiskus habe vorenthalten können.

Grundlage für die Berechnung der Jahressteuer i. S. des § 16 UStG 1980 ist die Summe der im Besteuerungszeitraum entstandenen Umsatzsteuer i. S. des § 13 UStG 1980 (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 2 UStG 1980). Die Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen entsteht - Steuerbarkeit und Steuerpflicht vorausgesetzt - mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen ausgeführt wurden (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a UStG 1980). Dies gilt auch für die Leistungen des Klägers an X. Die Steuer für diese Leistungen entstand unabhängig davon, ob der Kläger sie in einer Rechnung gesondert ausgewiesen und ob er sie beim FA vorangemeldet hatte. Keine Rolle spielt auch, ob der Kläger die Umsatzsteuer bei seiner Kalkulation berücksichtigt hatte. Für Umsätze, die ein Steuerpflichtiger in seinen Voranmeldungen oder Steuererklärungen nicht angibt (auch bei Rechtsirrtum über deren Steuerbarkeit), entsteht die Umsatzsteuer ebenso wie bei ordnungsgemäß erklärten Umsätzen (Wagner in Sölch/Ringleb/List, Umsatzsteuergesetz, Kommentar, Rz. 9 zu § 13).

Der für steuerbare und steuerpflichtige Leistungen geschuldete Steuerbetrag ist durch das Entgelt vorgegeben, d. h. den Betrag, den der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG 1980). Das gilt auch, wenn die Beteiligten rechtsirrtümlich die Gegenleistung ohne Umsatzsteuer vereinbaren. Der ursprünglich vereinbarte Betrag war daher in Entgelt und darauf entfallende Umsatzsteuer aufzuteilen. Eine etwaige nachträgliche Änderung der Bemessungsgrundlage war gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG 1980 im Besteuerungszeitraum der Änderung zu berücksichtigen.

e) Auch aus dem Umstand, daß die verspätete Festsetzung der Umsatzsteuer auf der mit Schreiben des FA vom 7. Juli 1988 mitgeteilten Auffassung beruhte, die Leistungen des Klägers seien nicht steuerbar, ergibt sich keine der Verzinsung der nacherhobenen Beträge entgegenstehende Wertung. Denn der durch die Verzinsung bezweckte Vorteilsausgleich behält grundsätzlich auch dann seinen Sinn, wenn staatliche Stellen für deren Entstehung und Höhe (mit-)verantwortlich sind (BFH in BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503 unter 3. c).

Im übrigen kann im Streitfall offenbleiben, ob der Grundsatz von Treu und Glauben der Festsetzung von Nachforderungszinsen entgegensteht bzw. ob diese Zinsen wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind, wenn ein Steuerpflichtiger verspätet festgesetzte Umsatzsteuer nicht mehr auf den Leistungsempfänger abwälzen kann. Denn nach den für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) hat der Kläger einen derartigen Schaden nicht geltend gemacht.