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  BFH-Urteil vom 4.6.1997 (X R 12/94) BStBl. 1997 II S. 740

War im Beitrittsgebiet ein Gewerbebetrieb nach den Vorschriften der DDR im ersten Halbjahr 1990 von der Gewerbesteuer befreit, so beginnt seine Gewerbesteuerpflicht ab 1. Juli 1990. Ein Gewerbeverlust des ersten Halbjahres 1990 darf bei der Schätzung des "mutmaßlichen Ergebnisses der ersten 12 Monate des Gewerbebetriebes" gemäß § 10 Abs. 4 GewStG DDR nicht berücksichtigt werden (Fortführung der bisherigen Rechtsprechung, insbesondere des BFH-Urteils vom 25. Oktober 1995 I R 138/94, BFHE 179, 140, BStBl II 1996, 74).

GewStG DDR § 7, 10 Abs. 4: DB-StÄndG DDR § 4.

Vorinstanz: Sächsisches FG

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betreibt im Beitrittsgebiet eine Gastwirtschaft. Aus deren Betrieb erklärte er für das erste Halbjahr 1990 einen Verlust in Höhe von 26.503 Mark der DDR (Mark). Im zweiten Halbjahr 1990 ermittelte der Kläger (durch Einnahmeüberschußrechnung) einen Gewinn in Höhe von 23.487 DM.

Ausgehend von dem vom Kläger für das zweite Halbjahr 1990 erklärten Gewinn ermittelte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den maßgeblichen Gewerbeertrag mit 21.715 DM für das zweite Halbjahr 1990; er setzte den einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag auf 905 DM und die Gewerbesteuer auf 3.620 DM fest.

Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage machte der Kläger geltend, ein Gewerbeertrag ergebe sich nicht, weil nach § 4 der Durchführungsbestimmungen zum Steueränderungsgesetz der DDR vom 16. März 1990 - DB-StÄndG DDR - (Gesetzblatt der DDR - GBl DDR - I Nr. 21, S. 195) i. V. m. § 7 des Gewerbesteuergesetzes der DDR (GewStG DDR) der Gewinn des zweiten Halbjahres 1990 mit dem Verlust des ersten Halbjahres 1990 auszugleichen sei. Im übrigen beginne die Gewerbesteuerpflicht erst mit dem 1. August 1990 (§ 22 GewStG DDR).

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus:

Die Gewerbesteuerpflicht habe am 1. Juli 1990 begonnen; § 22 GewStG DDR - nach dem die Steuer bei Eintritt der Steuerpflicht infolge des Wegfalls eines Befreiungsgrundes erst vom Beginn des auf den Eintritt der Steuerpflicht folgenden Monats erhoben wird - sei nicht anwendbar.

Bei Wegfall einer Steuerbefreiung während des Erhebungszeitraums sei nach § 10 Abs. 4 GewStG DDR das "mutmaßliche Ergebnis der ersten 12 Monate des Gewerbebetriebes" anzusetzen. Diese Vorschrift gehe als Sonderregelung der Ermittlung des Gewerbeertrages nach §§ 7 ff. GewStG DDR vor. § 4 DB-StÄndG DDR gelte ausschließlich für die Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Vermögensteuer. Die Vorschrift dürfe deshalb auch nicht mittelbar durch die in § 7 GewStG DDR vorgeschriebene Anknüpfung des Gewerbeertrages an den nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu ermittelnden Gewinn berücksichtigt werden.

Soweit Buchhaltungsunterlagen vorhanden seien, habe das FA diese berücksichtigt. Darüber hinaus habe der Kläger nicht bestritten, daß der vom FA ermittelte Gewerbeertrag das mutmaßliche Ergebnis der ersten 12 Monate repräsentiere. Aus den Akten ergebe sich nichts anderes. Vielmehr habe das FA zu Unrecht nicht bezahlte Gewerbesteuer in Höhe von 3.620 DM berücksichtigt. Auch deshalb sei der Gewerbesteuermeßbetrag jedenfalls nicht zu hoch festgesetzt.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung von § 22 GewStG DDR und § 4 DB-StÄndG DDR.

Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Einspruchsentscheidung den Gewinn des zweiten Halbjahres 1990 mit dem Verlust des ersten Halbjahres 1990 zu verrechnen und den Gewerbesteuermeßbetrag auf 0 DM festzusetzen sowie die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Zutreffend geht das FG davon aus, daß die Gewerbesteuerpflicht des Klägers am 1. Juli 1990 begonnen hat.

Die bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung steuerlicher Rechtsvorschriften bei Einführung der Währungsunion mit der Bundesrepublik Deutschland vom 22. Juni 1990 - StAnpG DDR - (GBl DDR Sonderdruck Nr. 1427) u. a. auch für private Gastwirte geltende Gewerbesteuerbefreiung nach § 2 der Verordnung zur Ergänzung der Rechtsvorschriften über die Besteuerung privater Handwerker und Gewerbetreibender vom 5. April 1976 (GBl DDR I Nr. 13, S. 193) ist mit Inkrafttreten des StAnpG DDR am 1. Juli 1990 weggefallen (§ 20 Abs. 1 und 3 StAnpG DDR). Damit unterlag der Gewerbebetrieb des Klägers der Gewerbesteuerpflicht nach dem GewStG DDR vom 18. September 1970 (GBl DDR Sonderdruck Nr. 672), das bis zum 31. Dezember 1990 weitergalt (ausführlich hierzu Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 15. März 1994 XI R 10/93, BFHE 174, 241, BStBl II 1994, 813; vom 26. Oktober 1995 IV R 23/94, BFH/NV 1996, 550, m. w. N.).

Allerdings ist nach § 22 Abs. 1 GewStG DDR die Steuer, wenn ein Gewerbebetrieb im Lauf des Erhebungszeitraums neu gegründet wird oder wenn ein bereits bestehender Gewerbebetrieb infolge Wegfalls des Befreiungsgrundes in die Steuerpflicht eintritt, erst vom Beginn des Monats ab zu erheben, der auf den Eintritt in die Steuerpflicht folgt. § 20 Abs. 3 StAnpG DDR, durch den u. a. die Gewerbesteuerbefreiung für Gastwirte aufgehoben wurde, ist jedoch als konstitutive Regelung zu verstehen, durch welche die DDR ihren in dem Vertrag über die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bundesrepublik Deutschland eingegangenen Verpflichtungen (vgl. Art. 31 Abs. 1 des Vertrages i. V. m. I. Nr. 4 der Anlage IV) entsprach und - ohne daß Besteuerungslücken entstehen sollten - mit Wirkung vom 1. Juli 1990 bisher in der DDR geltenden Regelungen geändert oder ergänzt werden sollten. § 20 Abs. 3 StAnpG DDR stellt sich daher im Verhältnis zu § 22 GewStG DDR als Sonderregelung dar, die den sich nach allgemeinem Gewerbesteuerrecht ergebenden Erhebungsbeginn vorverlegt. War ein Gewerbebetrieb nach den Vorschriften der DDR im ersten Halbjahr von der Gewerbesteuer befreit und ist - wie im Streitfall - die Gewerbesteuerbefreiung mit Inkrafttreten des StAnpG DDR weggefallen, ist deshalb ab dem 1. Juli 1990 Gewerbesteuer zu erheben (BFH-Urteile in BFHE 174, 241, BStBl II 1994, 813; vom 30. März 1994 I R 124/93, BFHE 175, 46, BStBl II 1994, 852; vom 2. Februar 1995 III R 179/94, BFH/NV 1995, 923, m. w. N.; vom 12. Oktober 1995 I R 154/94, BFH/NV 1996, 408; vom 15. September 1994 XI R 20/93, BFHE 176, 130, BStBl II 1996, 609; in BFH/NV 1996, 550). Im einzelnen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung in BFHE 174, 241, BStBl II 1994, 813 verwiesen, der sich der erkennende Senat anschließt.

2. Zu Recht sind FA und FG davon ausgegangen, daß der vor dem 1. Juli 1990 erzielte Verlust bei der Ermittlung des Gewerbeertrages nicht berücksichtigt werden darf.

a) Wird im Laufe des Erhebungszeitraumes ein Betrieb neu gegründet oder - wie im Streitfall - ein bereits bestehender Gewerbebetrieb infolge Wegfalls einer Gewerbesteuerbefreiung erstmals gewerbesteuerpflichtig, ist nach § 10 Abs. 4 GewStG DDR das "mutmaßliche Ergebnis der ersten 12 Monate des Gewerbebetriebes als Gewerbeertrag" zugrundezulegen, d. h. der Gewerbeertrag dieses Zeitraums ist zu schätzen (BFH-Urteil vom 25. Oktober 1995 I R 138/94, BFHE 179, 140, BStBl II 1996, 74).

b) Entgegen der Auffassung des Klägers ist § 4 DB-StÄndG DDR weder unmittelbar noch mittelbar anwendbar.

Nach dieser - zu § 1 StÄndG DDR ergangenen und mithin die Einkommensteuer betreffenden - Durchführungsbestimmung können Verluste aus mehreren Quellen einer Einkunftsart mit Einkünften dieser Einkunftsart verrechnet werden (Abs. 1); Verluste, die in einer oder mehreren Einkunftsarten entstehen, sind auch mit Einkünften aus anderen Einkunftsarten verrechenbar (Abs. 2). Diese Regelung betrifft allein die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen für die Einkommensteuer. Eine vergleichbare Regelung für die Gewerbesteuer fehlt. Allerdings ist nach § 7 GewStG DDR für die Ermittlung des Gewerbeertrages von dem nach den Vorschriften des EStG zu ermittelnden Gewinn auszugehen. Hiervon abweichend regelt § 10 Abs. 4 GewStG DDR den Fall, daß im Laufe des Erhebungszeitraums ein Gewerbebetrieb neu gegründet oder - wie im Streitfall - ein bereits bestehender Gewerbebetrieb infolge Wegfalls eines Befreiungsgrundes steuerpflichtig wird. Dies schließt - systematisch folgerichtig - die Berücksichtigung des vor Eintritt in die Gewerbesteuerpflicht erzielten Gewinnes oder Verlustes für Zwecke der Gewerbesteuer aus; denn danach ist nicht das mutmaßliche Ergebnis des Veranlagungszeitraums (hier 1990), sondern das mutmaßliche Betriebsergebnis der ersten 12 Monate ab dem Beginn der Gewerbesteuerpflicht zu schätzen (BFH-Urteil in BFHE 179, 140, BStBl II 1996, 74). Verluste des ersten Halbjahres dürfen deshalb ebensowenig berücksichtigt werden wie Gewinne, die vor Eintritt in die Gewerbesteuerpflicht erwirtschaftet wurden (vgl. bereits BFH-Urteile in BFH/NV 1996, 408; in BFHE 175, 46, 54, BStBl II 1994, 852).

Das Schreiben des Bundesministers der Finanzen vom 17. September 1991 IV 2/IV B 1 - S 2532 - 81/91 (Steuererlasse in Karteiform, Organisation Nr. 29) erlaubt - entgegen der Auffassung des Klägers - keine andere Beurteilung. Tz. 8.4 dieses Schreibens führt zwar zu § 4 DB-StÄndG DDR aus, diese Regelung gelte sowohl für Zwecke der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer als auch für Zwecke der Gewerbesteuer. "Dementsprechend können auch Verluste eines Halbjahres mit Gewinnen aus dem anderen Halbjahr verrechnet werden. Verluste aus dem ersten Halbjahr 1990 sind für Zwecke der Gewerbesteuer auch dann verrechenbar, wenn für das erste Halbjahr 1990 wegen besonderer Besteuerungsformen (Gewinnsteuer) keine Gewerbesteuer zu entrichten ist (z. B. Handwerker und Produktionsgenossenschaften des Handwerks)." Selbst wenn diese Verwaltungsanweisung so zu verstehen wäre, daß ungeachtet der Gewerbesteuerbefreiung bis zum Ablauf des ersten Halbjahres 1990 dennoch Gewinne oder Verluste aus dem ersten Halbjahr bei der Ermittlung des Gewerbeertrages für 1990 mit Gewinnen oder Verlusten des zweiten Halbjahres zu verrechnen wären, könnte ihr nicht gefolgt werden. Denn norminterpretierende Verwaltungsvorschriften binden die Steuergerichte grundsätzlich nicht. Die Gerichte folgen ihnen nur dann, wenn sie eine zutreffende Auslegung des Gesetzes enthalten (z. B. BFH-Urteil vom 17. Januar 1984 VI R 24/81, BFHE 140, 261, BStBl II 1984, 522). Das ist hier nach der bereits dargestellten Senatsauffassung nicht der Fall.

c) Die - dem FA bzw. dem FG obliegende - Schätzung des "mutmaßlichen Gewerbeertrages" ist Tatsachenfeststellung i. S. des § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO), die revisionsrechtlich nur darauf überprüft werden darf, ob anerkannte Schätzungsgrundsätze, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze beachtet wurden (BFH-Urteil in BFHE 179, 140, BStBl II 1996, 74).

Kein Raum für eine Schätzung ist in der Regel, wenn das tatsächliche Ergebnis der ersten 12 Monate buchhalterisch vorliegt. Dies setzte voraus, daß - anders als im Streitfall - eine Gewerbeertragsermittlung auch für die Zeit vom 1. Januar 1991 bis 30. Juni 1991 vorgelegen hätte. Im übrigen kann der tatsächliche Gewerbeertrag des zweiten Halbjahres 1990 auf einen Jahresbetrag hochgeschätzt werden oder der Gewerbeertrag des ersten Halbjahres 1991 wird aus dem Gewerbeertrag des Gesamtjahres 1991 herausgeschätzt und dem Gewerbeertrag des zweiten Halbjahres 1990 hinzugerechnet. Beide Schätzungsmethoden sind revisionsrechtlich anzuerkennen, wenn nicht Besonderheiten des Einzelfalls zu Verzerrungen führen würden (BFH-Urteil in BFHE 179, 140, BStBl II 1996, 74).

d) Die Entscheidung des FG hierzu ist in sich nicht schlüssig. Es ist deshalb nicht erkennbar, ob das FG bei seinem Urteil von diesen Grundsätzen ausgegangen ist. Die Sache geht deshalb an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück.

Das FG sieht keine Anhaltspunkte dafür, daß das "mutmaßliche Ergebnis der ersten 12 Monate unter dem vom FA geschätzten Gewerbeertrag" liege.

Das FA hat als maßgeblichen Gewerbeertrag lediglich den Gewerbeertrag des zweiten Halbjahres 1990 zugrunde gelegt und von dem daraus nach § 11 GewStG DDR folgenden Steuermeßbetrag - da ein Steuermeßbetrag nach dem Gewerbekapital nicht festgesetzt und deshalb kein einheitlicher Meßbetrag (§ 14 GewStG DDR) zu bilden war - nach dem Hebesatz von 400 % die Gewerbesteuer festgesetzt. Diesen Betrag hat das FA - obwohl der Kläger erst ab 1. Juli 1990 gewerbesteuerpflichtig war und deshalb die Steuer nur für sechs Monate erhoben werden durfte (§ 22 Abs. 1 GewStG DDR) - nicht anteilig gekürzt. Möglicherweise war das FA dabei der Ansicht, durch die Berücksichtigung des Gewerbeertrages nur für ein halbes Jahr (des zweiten Halbjahres 1990) sei im Ergebnis zutreffend berücksichtigt, daß Gewerbesteuer nur für sechs Monate erhoben werden durfte.

Geht man - wie das FG - davon aus, daß der vom FA für das zweite Halbjahr 1990 ermittelte Gewerbeertrag dem "mutmaßlichen Ergebnis der ersten 12 Monate des Gewerbebetriebes" entsprach, hätte das FG die vom FA festgesetzte Steuer auf die Hälfte herabsetzen müssen, weil die - grundsätzlich nach einem Jahresbetrag zu ermittelnde - Steuer nur für sechs Monate festgesetzt werden durfte. Andererseits ist nicht auszuschließen, daß das FG - möglicherweise wie das FA - zum Ergebnis gelangt ist, der tatsächlich ermittelte Halbjahresbetrag entspreche der Hälfte des mutmaßlichen Ergebnisses für die ersten 12 Monate und deshalb sei die festgesetzte Steuer im Ergebnis zutreffend.