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BFH-Urteil
vom 21.8.1997 (V R 47/96) BStBl. 1997 II S. 781
Nach dem UStG DDR unterliegen Bauleistungen, die nach dem 30. Juni 1990 ausgeführt worden sind, auch dann der Umsatzsteuer, wenn die maßgeblichen Verträge vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen worden waren. Die Besteuerung entspricht selbst dann dem Gesetzeszweck, wenn dem Unternehmer die Abwälzung der Umsatzsteuer auf den Leistungsempfänger nicht gelungen ist. UStG DDR § 27 Abs. 1; AO 1977 § 163. Vorinstanz: FG des Landes Brandenburg (EFG 1996, 963) Sachverhalt I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist im Baugewerbe tätig. Im ersten Halbjahr 1990 schloß sie in der seinerzeitigen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) mit mehreren Auftraggebern, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt waren, Verträge über auszuführende Bauleistungen. Die Bauten wurden erst nach dem 1. Juli 190 (dem Zeitpunkt der Währungsunion und des Inkrafttretens des Umsatzsteuergesetzes vom 22. Juni 1990 in der DDR, Gesetzblatt der DDR, Sonderdruck Nr. 1432, im folgenden: UStG DDR) fertiggestellt und auch erst danach vollständig bezahlt. Regelungen hinsichtlich der Umsatzsteuer enthielten die Verträge nicht. Nach der Sachverhaltsschilderung des Finanzgerichts (FG) behandelte die Klägerin die geschilderten Umsätze sowohl in den Umsatzsteuervoranmeldungen als auch in der Umsatzsteuerjahreserklärung 1990 als nicht umsatzsteuerbar. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) vertrat nach einer Umsatzsteuersonderprüfung die Auffassung, daß insoweit nach dem UStG DDR steuerpflichtige Umsätze vorlägen. Bei der Umsatzsteuerveranlagung ließ das FA die noch im ersten Halbjahr erbrachten Leistungsteile unter Berufung auf § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) unberücksichtigt, erfaßte aber die restlichen im zweiten Halbjahr 1990 fertiggestellten Arbeiten mit einer Bemessungsgrundlage von 1.755.864 DM (Umsatzsteuerbescheid für 1990 vom 1. Dezember 1994). Da die Auftraggeber einen Ausgleich der umsatzsteuerlichen Mehrbelastung der Klägerin ablehnten, hatte diese bereits vor Ergehen des Umsatzsteuerbescheids beantragt, die genannten Umsätze gemäß § 163 Abs. 1 AO 1977 aus sachlichen Billigkeitsgründen bei der Veranlagung ganz unberücksichtigt zu lassen. Feststellungen dazu, daß der in DM vereinnahmte Werklohn nominal dem in M (DDR) vereinbarten Lohn entspricht, bzw. zu Vor- oder Nachteilen der Umrechnung fehlen. Das FA lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 7. November 1994). Die nach erfolgloser Beschwerde erhobene Klage hatte Erfolg. Das FG, dessen Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte 1996, 963 veröffentlicht ist, verpflichtete das FA, die Umsatzsteuer 1990 abweichend von dem Bescheid vom 7. November 1994 um 245.820,96 DM niedriger festzusetzen. Es stützte seine Entscheidung im wesentlichen auf die Aussage des ehemaligen Ministerpräsidenten der DDR und Abgeordneten der Volkskammer de Maiziere, der als Zeuge bekundet hatte, er hätte darauf gedrungen, daß in das UStG DDR eine Vorschrift zur Entlastung von Altverträgen aufgenommen worden wäre, wenn ihn jemand auf die Problematik wie im Streitfall hingewiesen hätte. Hiergegen wendet sich das FA mit seiner Revision; es rügt im wesentlichen Verletzung vom § 163 AO 1977 und § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin ist der Revision entgegengetreten. Entscheidungsgründe II. Die Revision ist begründet. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuern unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuern nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, ist die Entscheidung über eine abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen eine Ermessensentscheidung, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BStBl II 1972, 603; Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. August 1987 VIII R 297/82, BFHE 151, 35, BStBl II 1988, 139). Die Rechtmäßigkeit von Ermessensentscheidungen darf das Gericht nach § 102 FGO (nur) daraufhin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. FA und Oberfinanzdirektion (OFD) haben die Steuerpflicht der streitbefangenen Umsätze zu Recht bejaht und es abgelehnt, sie bei der Umsatzsteuerveranlagung für 1990 aus sachlichen Billigkeitsgründen unberücksichtigt zu lassen. Mit dieser (teilweisen) Ablehnung einer abweichenden Steuerfestsetzung haben sie von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Vorschrift des § 163 AO 1977 entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Eine abweichende Steuerfestsetzung aus sachlichen Gründen kommt in Betracht, wenn die Besteuerung eines Sachverhalts, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand fällt, im Einzelfall mit Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar ist und dadurch ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers besteht (vgl. BFH-Urteil vom 20. Februar 1991 II R 63/88, BFHE 164, 114, BStBl II 1991, 541, m. w. N.). FA und OFD sind bei ihrer Ermessensentscheidung davon ausgegangen, das UStG DDR habe alle nach dem 30. Juni 1990 ausgeführten Umsätze besteuern wollen. Sie schlossen im Anschluß an das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 24. März 1994 VII ZR 159/92 (Umsatzsteuer-Rundschau 1995, 28 mit Anmerkung Widmann) aus einem Vergleich von § 29 des Umsatzsteuergesetzes der Bundesrepublik Deutschland (UStG 1980) und § 28 Abs. 2 UStG DDR, daß die Erhebung der Umsatzsteuer für die nach Inkrafttreten des UStG DDR (1. Juli 1990) erfüllten Altverträge den Wertungen des UStG DDR entspreche, obwohl es dem Unternehmer nicht möglich gewesen sei, in dem vereinbarten Preis die erst später eingeführte Umsatzsteuer auf den Auftraggeber abzuwälzen. Während § 29 UStG 1980 die Umstellung langfristiger Verträge für den Fall der Änderung des Gesetzes (§ 29 Abs. 2 UStG 1980) und für vor Inkrafttreten des UStG 1980 abgeschlossene Verträge (§ 29 Abs. 1 UStG 1980) vorsehe, enthalte § 28 Abs. 2 UStG DDR eine entsprechende Regelung nur für den Fall der Änderung des Gesetzes. Schließlich spreche auch die Gleichbehandlung aller Bauunternehmer gegen die beantragte Nichtbesteuerung. Der Senat läßt dahinstehen, ob er diesen Erwägungen in allen Punkten folgen kann (vgl. Widmann, a. a. O.). Zutreffend und für die Ablehnung der beantragten Billigkeitsentscheidung ausreichend ist jedenfalls die Erwägung, daß die Besteuerung sämtlicher nach dem 30. Juni 1990 ausgeführter (und bezahlter) Umsätze dem Gesetzeszweck entspricht. Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 UStG DDR sind nach dem 30. Juni 1990 ausgeführte Lieferungen und sonstige Leistungen der Umsatzsteuer zu unterwerfen "ohne Rücksicht darauf, wann das Entgelt vereinbart ... worden ist". Diesem Gesetzesbefehl widerspräche es, die nach dem 30. Juni 1990 ausgeführten Umsätze gleichwohl aus sachlichen Billigkeitsgründen unbesteuert zu lassen, weil die den Leistungen zugrundeliegenden Vereinbarungen vorher getroffen worden waren. Dies gilt unabhängig davon, ob es dem Unternehmer gelungen ist, bei der Umstellung der Verträge auf DM die Umsatzsteuer auf den Vertragspartner abzuwälzen, und ob die Vertragsparteien dabei die sonstigen mit der Währungsumstellung und Änderung des Abgabenrechts verbundenen Vor- und Nachteile angemessen berücksichtigt haben. Aus dem Umstand, daß das UStG DDR dem leistenden Unternehmer bei sog. Altverträgen nicht ausdrücklich das Recht einräumt, vom Leistungsempfänger einen Ausgleich für die durch die Einführung der Umsatzsteuer eingetretene Mehrbelastung entsprechend dem § 29 Abs. 1 UStG 1980 zu verlangen, kann nicht geschlossen werden, daß statt dessen das FA verpflichtet sein soll, die gesetzlich entstandene Umsatzsteuer zu erlassen.
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