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BFH-Urteil
vom 27.11.1996 (X R 20/95) BStBl. 1997 II S. 791
Hat das FA die Steuerfestsetzung "im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen" gemäß § 165 Abs. 1 AO 1977 für vorläufig erklärt, erstreckt sich die Vorläufigkeit nicht auf die Frage, ob der Steuerpflichtige zum Abzug von Sonderausgaben mit oder ohne Kürzung des Vorwegabzugs berechtigt ist. AO 1977 § 124 Abs. 1 Satz 2, § 165 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3: BGB § 133. Vorinstanz: FG München Sachverhalt Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist von Beruf Steuerberater. Er erzielte im Streitjahr 1990 u. a. Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit als Gesellschafter-Geschäftsführer einer Steuerberatungsgesellschaft mbH. In seiner Steuererklärung für 1990 ließ er die Zeilen 32 bis 37 der Anlage N unausgefüllt. Er hat damit nicht erklärt, im Jahre 1990 habe keine gesetzliche Rentenversicherungspflicht und "auch keine Anwartschaft auf Altersversorgung oder eine Anwartschaft nur aufgrund eigener Beitragsleistung" bestanden. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) kürzte im Einkommensteuerbescheid für 1990 den Vorwegabzug für Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) um 4.000 DM. Der Bescheid erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -) sowie teilweise vorläufig (§ 165 Abs. 1 AO 1977). In den Erläuterungen zur Festsetzung heißt es u. a.: "Die Steuerfestsetzung ist im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. Revisionen nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig hinsichtlich ... der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen ...". Unter dem 20. Oktober 1992 erging ein Änderungsbescheid. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde aufgehoben. Die Vorläufigkeitsvermerke blieben in vollem Umfang erhalten. Mit Schreiben vom 23. Juni 1993 beantragte der Kläger, unter Änderung des Einkommensteuer-Bescheides für 1990 die Kürzung des Vorwegabzugs rückgängig zu machen. Er sei Gesellschafter- Geschäftsführer einer GmbH und habe keinen Anspruch auf eine betriebliche Altersversorgung. Das FA lehnte den Antrag ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben. Der hier zu beurteilende Vorläufigkeitsvermerk erstrecke sich schon nach seinem Wortlaut "auf alle Tatsachen, die damit im Zusammenhang (stünden), daß Vorsorgeaufwendungen nur in beschränkter Höhe abziehbar" seien. Hierzu gehöre auch der Vorwegabzug nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG sowie dessen mögliche Minderung, weil der Vorwegabzug Teil der Berechnung der abziehbaren Vorsorgeaufwendungen sei. Der Hinweis des Vermerks auf "anhängige Verfassungsbeschwerden und Revisionen" erläutere nicht, um welche Verfahren es sich hierbei handele und um welche Streitpunkte es dort im einzelnen gehe. Soweit in einem anhängigen Verfahren die lediglich beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen angegriffen werde, sei denkbar, daß auch die Höhe des Vorwegabzugs bzw. dessen mögliche Minderung streitig seien. Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts. Es beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Entscheidungsgründe Die Revision ist begründet. Das FG hat zu Unrecht entschieden, daß die Minderung des Vorwegabzugs vom Vorläufigkeitsvermerk umfaßt war. 1. Nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiß ist, ob die Voraussetzungen für ihre Entstehung eingetreten sind. Eine vorläufige Festsetzung ist nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977 i. d. F. des Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetzes (StMBG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993 S. 2310, 2345) auch dann Rechtens, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens u. a. beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) oder einem obersten Bundesgericht ist. Nach Art. 27 Nr. 1 Buchst. a StMBG ist die Neufassung des § 165 AO 1977 auf alle am 22. Dezember 1993 anhängigen Verfahren anzuwenden. Nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 kann die Finanzbehörde eine Steuerfestsetzung aufheben oder ändern, soweit sie die Steuer vorläufig festgesetzt hat. Maßgebend ist, welchen Inhalt und Umfang der Vorläufigkeitsvermerk tatsächlich hat. Die Vorläufigkeit muß in einem sachlichen Zusammenhang mit der Ungewißheit über den tatsächlich verwirklichten Sachverhalt oder über die Rechtsgültigkeit einer anzuwendenden Norm stehen. Bei der Anwendung des § 165 AO 1977 hat die Finanzbehörde insoweit einen Ermessensspielraum, als sie die Steuer vorläufig festsetzen kann. Sie kann daher die Vorläufigkeit auf alle Besteuerungsfolgen ausdehnen, die noch in einem Zusammenhang mit der Ungewißheit stehen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. Oktober 1988 I R 189/84, BFHE 155, 8, BStBl II 1989, 130, unter II. 2.). 2. Für den Vorläufigkeitsvermerk als Nebenbestimmung zu einem Verwaltungsakt gilt in gleicher Weise wie für den Verwaltungsakt selbst, daß er mit dem Inhalt wirksam wird, mit dem er bekanntgegeben wird (§ 124 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). § 165 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 verlangt, daß Umfang und Grund der Vorläufigkeit für den Steuerpflichtigen ausreichend erkennbar gemacht werden (BFH-Beschluß vom 22. Dezember 1987 IV B 174/86, BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234). Dabei ist es im Regelfall unerheblich, wenn sich der Vorläufigkeitsvermerk unmittelbar auf eine Besteuerungsgrundlage und nicht, wie § 165 Abs. 1 AO 1977 dies vorschreibt, auf die festzusetzende Steuer bezieht. Es reicht deshalb aus, wenn durch den Vermerk jedenfalls mittelbar auch der Rahmen abgesteckt ist, innerhalb dessen die Steuerfestsetzung abänderbar sein soll (BFH-Entscheidungen in BFHE 155, 8, BStBl II 1989, 130; vom 6. März 1992 III R 47/91, BFHE 167, 290, BStBl II 1992, 588; und vom 16. August 1995 VIII B 156/94, BFH/NV 1996, 125). 3. Der Regelungsinhalt eines Verwaltungsakts ist erforderlichenfalls im Wege der Auslegung zu ermitteln. Entscheidend ist, wie der Adressat selbst nach den ihm bekannten Umständen - seinem "objektiven Verständnishorizont" (BFH-Urteil vom 8. November 1995 V R 64/94, BFHE 179, 211, 214, BStBl II 1996, 256) - den materiellen Gehalt der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (vgl. § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) verstehen konnte (vgl. - zur Auslegung von Verwaltungsakten - BFH-Urteile vom 25. September 1990 IX R 84/88, BFHE 162, 4, BStBl II 1991, 120; vom 18. April 1991 IV R 127/89, BFHE 164, 185, BStBl II 1991, 675, jeweils m. w. N. der Rechtsprechung; Senatsurteile vom 14. März 1990 X R 104/88, BFHE 160, 207, BStBl II 1990, 612, unter I. 1.; vom 23. September 1992 X R 10/92, BFHE 169, 331, BStBl II 1993, 338, unter 1. c; vom 18. Juli 1994 X R 33/91, BFHE 175, 294, 299 f.; BStBl II 1995, 4, unter 4.). Weil der Verwaltungsakt mit dem bekanntgegebenen Inhalt wirksam wird, muß die Auslegung zumindest einen Anhalt in der bekanntgegebenen Regelung haben (BFH-Beschluß vom 19. Februar 1992 II B 100/91, BFH/NV 1992, 784). Im Zweifel ist das den Betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis vorzuziehen, da er als Empfänger einer auslegungsbedürftigen Willenserklärung der Verwaltung durch etwaige Unklarheiten aus ihrer Sphäre nicht benachteiligt werden darf (Senatsurteil in BFHE 175, 294, 299, BStBl II 1995, 4, unter 4., m. w. N.). Zur Auslegung ist auch das Revisionsgericht befugt, wenn die tatsächlichen Feststellungen des FG ausreichen (BFH-Urteile vom 30. September 1988 III R 218/84, BFH/NV 1989, 749; in BFHE 162, 4, 8, BStBl II 1991, 120; BFHE 175, 294, 299, BStBl II 1995, 4, unter 4.; vom 5. Oktober 1994 I R 31/93, BFH/NV 1995, 576, jeweils m. w. N. der Rechtsprechung). Nach diesen Grundsätzen ist auch ein Vorläufigkeitsvermerk auszulegen (BFH-Urteile in BFHE 155, 8, BStBl II 1989, 130; in BFHE 167, 290, BStBl II 1992, 588). Sein Inhalt kann im Wege der Auslegung aus seiner Begründung "oder aus anderen Umständen" ermittelt werden (BFH-Urteil vom 30. Juni 1994 V R 106/91, BFH/NV 1995, 466). 4. Steht der Umfang der Vorläufigkeit - gegebenenfalls aufgrund einer Auslegung der dem Bescheid beigefügten Nebenbestimmung - fest, ist eine sachlich weitergehende Durchbrechung der Bestandskraft des Steuerbescheids hinsichtlich solcher Besteuerungsgrundlagen abzulehnen, die einem anderen Besteuerungsmerkmal zuzuordnen sind, das keinen sachlichen Bezug zum Gegenstand der Ungewißheit hat (vgl. BFH-Urteil in BFHE 167, 290, 295 f., BStBl II 1992, 588). In dieser Hinsicht erschließt sich der Umfang der Vorläufigkeit zum einen aus dem materiell-rechtlichen Gehalt des jeweils anzuwendenden Rechtssatzes, zum anderen aus den bei der verfahrensrechtlichen Bewältigung von Ungewißheit zu beachtenden Sachzwängen, die für die Ausübung des bei Anwendung des § 165 AO 1977 vorgesehenen behördlichen Ermessens (vgl. Beschluß in BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234, unter 3. a) erheblich sein können. a) Ist ungewiß, ob eine Norm verfassungsgemäß ist, hat der hierauf abhebende Vorläufigkeitsvermerk im Zweifel zur Folge, daß alle sachlich zusammenhängenden ("kohärenten"), d. h. zu einem bestimmten Regelungskomplex gehörenden Rechtsfolgen offengehalten werden sollen. Aus diesem Grunde hat beispielsweise der III. Senat des BFH mit Urteil vom 12. Juli 1991 III R 23/88 (BFH/NV 1992, 172) entschieden, daß mit der Vorbehaltsklausel "soweit es sich um die Berücksichtigung von Kindern ... handelt" die Bestandskraft hinsichtlich aller Minderungen der steuerlichen Leistungsfähigkeit offengehalten wird, die im weitesten Sinne mit Aufwendungen für Kinder zusammenhängen. b) Aus Gründen der Verwaltungsökonomie braucht die Finanzbehörde, wenn sie eine Besteuerungsgrundlage vorläufig "anerkennt", nachrangige Fragen, die sich bei einer endgültigen "Aberkennung" nicht stellen und daher keinen Ermittlungs- und Prüfungsbedarf zeitigen würden, nicht abschließend zu prüfen; sie kann - in dem durch § 165 Abs. 1 und 2 AO 1977 abgedeckten Ermessensspielraum - diese Fragen in den Vorbehalt vorläufiger Festsetzung einbeziehen. Denn es ist sachgerecht, nachrangige Ermittlungen zurückzustellen, solange noch nicht feststeht, daß den diesbezüglichen Besteuerungsgrundlagen überhaupt Bedeutung zukommt (BFH-Beschluß in BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234). In diesem Umfang kann das FA nachrangige Fehlbeurteilungen des Steuerpflichtigen vorläufig hinnehmen; dies gilt unabhängig davon, ob die betreffenden Besteuerungsgrundlagen mit Ungewißheit behaftet waren oder nicht. c) Der IV. Senat des BFH hat in seinem vorgenannten Beschluß in BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234 zugleich ausgesprochen, daß es in jenem Falle "für den Steuerpflichtigen offensichtlich und auch nachvollziehbar" sei, daß das FA in dieser Weise verfahren wolle. Der erkennende Senat versteht dies verallgemeinernd in dem Sinne, daß die objektiv erkennbaren Belange des Verwaltungsverfahrens zu den auslegungsrelevanten Umständen gehören, deren Berücksichtigung nach Treu und Glauben dem Erklärungsempfänger auch dann angesonnen werden kann, wenn der Verwaltungsakt selbst hierzu nichts verlautbart. Dies steht in Übereinstimmung mit dem Rechtsgrundsatz, daß § 133 BGB als auch für öffentlich-rechtliche Willensbekundungen geltende Auslegungsregel erlaubt und gebietet, die Aussage eines Verwaltungsakts unter Berücksichtigung der Interessenlagen von Adressat und Behörde zu würdigen (vgl. Beschluß in BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234, unter 3. c). d) Im Regelfall besteht auch für den Adressaten des Bescheids kein Grund zur Annahme, eine Besteuerungsgrundlage, die mit dem Grund für die Vorläufigkeit weder sachlich zusammenhängt noch im Verhältnis zu diesem rechtlich und/oder tatsächlich nachrangig ist, sei vom Vorläufigkeitsvermerk umfaßt. 5. Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Auslegung des Vorläufigkeitsvermerks durch das FG rechtsfehlerhaft. Mit der "beschränkten Abzugsfähigkeit der Vorsorgeaufwendungen" sind Gegenstand und Umfang der Vorläufigkeit in dem vom FA beanspruchten Sinne inhaltlich hinreichend bestimmt umschrieben. a) Die hier fragliche Nebenbestimmung bezieht sich nicht allgemein auf "die beschränkt abziehbaren Vorsorgeaufwendungen", sondern - gegenständlich enger - auf deren beschränkte Abziehbarkeit. Damit ist erkennbar die verfassungsrechtliche Frage angesprochen, ob die betragsmäßige Beschränkung der steuerlichen Berücksichtigung existenznotwendiger Privataufwendungen verfassungsgemäß ist. Der Zusammenhang mit dieser Sachfrage wird verdeutlicht durch den ersten Satzteil des Vorläufigkeitsvermerks, in dem auf - diese Rechtsfrage betreffende - "anhängige Verfassungsbeschwerden und Revisionen verwiesen" wird. Entgegen der Auffassung des FG ist unerheblich, daß die Verfahren nicht im einzelnen bezeichnet worden sind. b) Die Kürzung des Vorwegabzugs hat keinen sachlichen Bezug zur Frage der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen. Sie ist - unabhängig davon, ob die derzeitige Beschränkung verfassungsgemäß ist oder nicht - das rechtstechnische Instrument, mit dem insbesondere Arbeitnehmer und andere Personen, die im Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit Anwartschaften auf eine Altersversorgung oder Leistungen im Krankheitsfalle erlangen, ohne eigene Beiträge zu leisten, mit selbständig Tätigen gleichgestellt werden, die ihre Beiträge zur Altersvorsorge in voller Höhe aus eigenen Mitteln aufbringen müssen (Senatsurteil vom 12. Oktober 1994 X R 260/93, BFHE 175, 563, BStBl II 1995, 119, unter 3.). Der Vorwegabzug wirkt sich zwar bestimmungsgemäß auf die Höhe der abziehbaren Sonderausgaben aus. Deren Gesamtbetrag wird indes im hier zu beurteilenden Vorläufigkeitsvermerk nicht angesprochen. Der Vorwegabzug ist auch nicht Gegenstand einer "nachrangigen" Rechts- oder Tatfrage. Über die Anwendung des § 10 Abs. 3 EStG hat das FA "unbedingt" und stets unabhängig davon zu befinden, ob die Beschränkung des Abzugs von Vorsorgeaufwendungen verfassungsgemäß ist. Das FA hatte daher auch im Streitfall keine Veranlassung, die diesbezügliche Sachprüfung bis zu einer Entscheidung über die Höchstbetragsgrenzen zurückzustellen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 167, 290, 297, BStBl II 1992, 588, a. E.). 6. Da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist und sich die Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend erweist - andere Rechtsgründe für die vom Kläger beantragte Änderung des Steuerbescheides liegen nicht vor -, war sein Urteil aufzuheben und die spruchreife Klage abzuweisen.
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