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  BFH-Urteil vom 21.10.1997 (IX R 29/95) BStBl. 1998 II S. 142

Der Nutzungswert einer im Beitrittsgebiet belegenen Wohnung ist nur dann entsprechend § 21 Abs. 2 EStG i. V. m. § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG (sog. große Übergangsregelung) zu besteuern, wenn er im Jahre 1986 nach dem Recht und der Besteuerungspraxis der (ehemaligen) DDR im wesentlichen ebenso wie eine in der Bundesrepublik Deutschland belegene Wohnung zu besteuern war.

GG Art. 3 Abs. 1; AO 1977 § 163; EStG § 21 Abs. 2, § 21a Abs. 7, § 52 Abs. 21, § 56 Nr. 2; EStG DDR 1970/1990 § 21 Abs. 2; FördG § 7.

Vorinstanz: Thüringer FG (EFG 1995, 805)

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zu je einem Viertel Eigentümer eines Mehrfamilienhauses in Thüringen. Dieses nutzen die Miteigentümer teils zu eigenen Wohnzwecken, teils vermieten sie es.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erkannte im Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für das Streitjahr 1991 die von den Klägern geltend gemachten Werbungskosten nicht an, soweit die Aufwendungen auf die von den Klägern selbstgenutzten Wohnungen entfielen. Hiergegen erhoben die Kläger mit der Begründung Einspruch, in den erklärten Mieteinnahmen seien die Mietwerte der eigengenutzten Wohnungen enthalten; die diesbezüglich angefallenen Werbungskosten seien zu berücksichtigen. In der Einspruchsentscheidung erfaßte das FA den Nutzungswert der selbstgenutzten Wohnungen nicht mehr. Es stellte die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung auf ./. 11.974 DM fest. Der weitergehende Einspruch hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit der die Kläger eine Fortführung der Nutzungswertbesteuerung nach § 52 Abs. 21 Satz 2 i. V. m. § 21 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) begehrten, durch sein in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1995, 805 veröffentlichtes Urteil als unbegründet ab.

Bereits während des Klageverfahrens hatten die Kläger ergänzend beantragt, die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus sachlichen Billigkeitsgründen gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) unter Ansatz der Mietwerte und der vollen mit der Nutzung des Mehrfamilienhauses in Zusammenhang stehenden Aufwendungen festzustellen. Das FA lehnte eine Billigkeitsmaßnahme ab.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger Verletzung des § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG, des § 56 Nr. 2 EStG und des § 163 AO 1977. § 56 Nr. 2 EStG schließe die Anwendung der sog. großen Übergangsregelung für Veranlagungszeiträume ab 1991 nicht aus. Die Voraussetzungen des § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG dürften nicht deshalb verneint werden, weil im Jahre 1986 im Beitrittsgebiet noch das frühere Recht der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gegolten habe. Eine derartige Auslegung führe zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen Ungleichbehandlung und zu einer sachlichen Unbilligkeit i. S. des § 163 AO 1977.

Die Beschwerde der Kläger gegen die Ablehnung ihres Antrags nach § 163 AO 1977 hat das FA zwischenzeitlich durch die bestandskräftig gewordene Einspruchsentscheidung als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung gesondert und einheitlich auf ./. 20.991 DM festzustellen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Nach § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Das FG hat zu Unrecht eine Fortführung der Nutzungswertbesteuerung gemäß § 52 Abs. 21 Satz 2 i. V. m. § 21 Abs. 2 Satz 1 EStG im Beitrittsgebiet verneint, ohne zu prüfen, ob die vorgenannten Normen unter Berücksichtigung der - bislang nicht festgestellten - Besteuerungspraxis in der ehemaligen DDR aus verfassungsrechtlichen Gründen (Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) entsprechend anzuwenden sind.

1. Gemäß Art. 8 Anlg. I Kap. IV Sachgebiet B Abschn. II Nr. 14 des Einigungsvertrages (EinigVtr), der durch das Einigungsvertragsgesetz (EinigVtrG) vom 23. September 1990 (BGBl II 1990, 885) in nationales Recht umgesetzt worden ist, gilt das Einkommensteuerrecht der alten Bundesrepublik ab dem 1. Januar 1991 auch in den neuen Bundesländern (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 5. März 1993 VI R 37/92, BFH/NV 1993, 533). Entsprechend dieser allgemeinen Regelung ist § 52 Abs. 21 EStG im Streitjahr 1991 grundsätzlich im Beitrittsgebiet anzuwenden. § 56 Nr. 2 EStG steht dem nicht entgegen; diese Norm schließt - unter bestimmten Voraussetzungen - die Anwendung des § 52 Abs. 2 bis 33 EStG nur für Veranlagungszeiträume oder Wirtschaftsjahre vor 1991 aus.

2. Nach § 52 Abs. 21 Satz 1 EStG sind § 21 Abs. 2 Satz 1 EStG und § 21a EStG letztmals für den Veranlagungszeitraum 1986 anzuwenden. Allerdings kann nach der sog. großen Übergangsregelung des § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG für eine Wohnung im eigenen Haus der Nutzungswert weiter im Wege der Einnahme-Überschußrechnung ermittelt werden, wenn bei dem Steuerpflichtigen im Veranlagungszeitraum 1986 die Voraussetzungen für die Ermittlung des Nutzungswertes als Überschuß des Mietwerts über die Werbungskosten vorgelegen haben.

§ 52 Abs. 21 Satz 2 EStG ermöglicht nach seinem Wortlaut eine "weitere" Anwendung des § 21 Abs. 2 Satz 1 EStG nur, sofern bei dem Steuerpflichtigen bereits im Veranlagungszeitraum 1986 für die Wohnung im eigenen Haus ein Nutzungswert (im Wege der Einnahme-Überschußrechnung) aufgrund des § 21 Abs. 2 EStG zu ermitteln war. Da es sich bei § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG um eine Regelung des Einkommensteuerrechts der alten Bundesrepublik handelt, bezieht sich die Verweisung auf § 21 Abs. 2 EStG der Bundesrepublik und nicht (auch) auf den gleichlautenden § 21 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes der ehemaligen DDR vom 18. September 1970 - EStG-DDR - (Gesetzblatt der DDR - GBl DDR -, Sonderdruck 670). Für Steuerpflichtige in den neuen Bundesländern kommt deshalb ausgehend vom Gesetzeswortlaut eine Fortführung der Nutzungswertbesteuerung (regelmäßig) nicht in Betracht, weil sie im Veranlagungszeitraum 1986 hinsichtlich der im Beitrittsgebiet belegenen Wohnungen keinen Nutzungswert nach dem EStG der alten Bundesrepublik zu ermitteln hatten (im Ergebnis ebenso Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 16. Aufl., § 10e Rz. 0; Schmidt/Weber-Grellet, a. a. O., § 56 Rz. 2; Jansen in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, § 21 EStG Anm. 178, 181; Stephan, Die Wohnungseigentumsförderung, 5. Aufl., S. 391, allerdings unter Erwägung von Billigkeitsmaßnahmen, S. 473 ff.; Bundesminister der Finanzen vom 13. August 1991 IV B 3 - S 2254 - 16/91; vgl. auch Märkle/Hiller, Die Einkommensteuer bei Land- und Forstwirten, 7. Aufl., Rdnr. 252 b).

3. Der Senat kann jedoch nicht abschließend entscheiden, ob der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) eine analoge Anwendung des § 52 Abs. 21 Satz 2 i. V. m. § 21 Abs. 2 EStG in den neuen Bundesländern gebietet. Insoweit fehlen Feststellungen des FG zur Besteuerung selbstgenutzter Wohnungen in der ehemaligen DDR.

a) Eine Analogie setzt eine planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts voraus. Eine Lücke des Gesetzes liegt (nur) vor, wo das Gesetz, gemessen an seinem eigenen Ziel und Zweck, unvollständig, also ergänzungsbedürftig ist und eine Ergänzung nicht etwa einer dem Gesetz gewollten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht (BFH-Urteil vom 14. September 1994 I R 136/93, BFHE 175, 406, BStBl II 1995, 382). Auch bei einem eindeutigen Gesetzeswortlaut ist eine Gesetzeslücke nicht stets ausgeschlossen (BFH-Urteil vom 2. Juli 1997 I R 32/95, Deutsches Steuerrecht 1997, 1599). Insbesondere kann die tatsächliche oder rechtliche Entwicklung eine bis dahin eindeutige und vollständige Regelung lückenhaft, ergänzungsbedürftig und zugleich ergänzungsfähig werden lassen (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 3. April 1990 1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6).

b) Die Übergangsregelung des § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG wurde aufgrund des Übergangs von der Nutzungswertbesteuerung zur Konsumgutlösung durch das Wohneigentumsförderungsgesetz vom 15. Mai 1986 (BGBl I 1986, 730, BStBl I 1986, 278) in das EStG aufgenommen. Zum damaligen Zeitpunkt konnte der Gesetzgeber den späteren Beitritt der neuen Bundesländer noch nicht berücksichtigen. Die durch das EinigVtrG eingefügten und im Streitjahr maßgebenden Änderungen des EStG sollten zwar das bisherige bundesdeutsche Recht an die veränderten Gegebenheiten nach der Wiedervereinigung anpassen. Angesichts der Fülle der aufgrund des Beitritts zu regelnden Fragen läßt aber allein die Beibehaltung des Wortlauts des § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG nicht den Schluß zu, der Gesetzgeber habe bewußt eine Fortführung der Nutzungswertbesteuerung im Beitrittsgebiet ausschließen wollen.

c) Dem Zusammenhang der Vorschriften des im Streitjahr geltenden EStG läßt sich ebenfalls nicht eindeutig entnehmen, ob der Gesetzgeber den Wortlaut des § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG bewußt unverändert gelassen hat oder ob eine planwidrige Gesetzeslücke besteht. Auch der Regelung über die Förderung von Baumaßnahmen bei zu eigenen Wohnzwecken genutzten Gebäuden im Beitrittsgebiet nach § 7 des Fördergebietsgesetzes (FördG) kann nicht entnommen werden, daß diese neben oder anstelle einer übergangsweise fortgeführten Nutzungswertbesteuerung in den neuen Bundesländern treten sollte. Dies auch deshalb, weil die steuerlichen Vorteile aufgrund des § 7 FördG bereits wegen der begrenzten Höhe der abziehbaren Aufwendungen mit Steuerminderungen, wie sie im Fall der Fortführung der Nutzungswertbesteuerung geltend gemacht werden könnten, nicht vergleichbar sind.

d) Läßt eine Norm mehrere Deutungen zu, von denen nur eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diejenige Auslegung geboten, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht (BVerfG-Beschluß vom 3. Juni 1992 2 BvR 1041/88, 78/89, BVerfGE 86, 288, 320). Art. 3 Abs. 1 GG verbietet, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 12. März 1996 1 BvR 609, 692/90, BVerfGE 94, 241, 260; vom 12. November 1996 1 BvL 4/88, BVerfGE 95, 143, 154 f.). Eine analoge Anwendung der sog. großen Übergangsregelung nach § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG ist im Beitrittsgebiet zur Vermeidung einer verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Ungleichbehandlung deshalb nur dann geboten, wenn sich für das Jahr 1986 in der ehemaligen DDR eine Nutzungswertbesteuerung selbstgenutzter Wohnungen feststellen läßt, die der Nutzungswertbesteuerung nach dem Recht der damaligen Bundesrepublik im wesentlichen entsprach. Abzustellen ist insoweit nicht nur auf die Rechtsvorschriften zur Nutzungswertbesteuerung und deren Auswirkungen im Rahmen der Einkommensermittlung (z. B. bezüglich des Verlustausgleichs), sondern ebenso auf die Besteuerungspraxis in der früheren DDR. (Nur) Im Falle einer vergleichbaren Nutzungswertbesteuerung wäre der Gesetzgeber gehalten gewesen, den Steuerpflichtigen im Beitrittsgebiet unter denselben tatsächlichen Voraussetzungen wie sie in den alten Bundesländern für eine Nutzungswertermittlung im Wege der Einnahme-Überschußrechnung maßgebend waren (insbesondere Art und Nutzung des Gebäudes in 1986, Zeitpunkt der Anschaffung oder des Bauantrags - vgl. § 21a Abs. 7 EStG -, Eigentumsverhältnisse), eine Fortführung der Nutzungswertbesteuerung entsprechend dem EStG der Bundesrepublik zu ermöglichen. Entgegen der Ansicht der Kläger war der Gesetzgeber nicht verpflichtet, einen tatsächlichen Vorgang (die Wiedervereinigung) auf einen früheren Zeitpunkt zu fingieren, m. a. W. die Kläger so zu stellen, als wären die neuen Bundesländer der alten Bundesrepublik bereits vor dem Wegfall der Nutzungswertbesteuerung - also vor dem Jahre 1987 - beigetreten.

Ob die vorgenannten Voraussetzungen vorliegen, kann der Senat als Revisionsgericht nicht selbst feststellen (§ 118 Abs. 2 FGO).

4. Die Feststellungen zur Steuererhebung in der DDR sind nicht deshalb entbehrlich, weil die Kläger (auch) eine niedrigere Feststellung der Einkünfte aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO 1977 in Form einer sinngemäßen Anwendung des § 52 Abs. 21 Satz 2 EStG im Beitrittsgebiet begehren. Über eine abweichende Feststellung der Einkünfte aus Billigkeitsgründen ist nicht in diesem Feststellungsverfahren, sondern in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden (vgl. BFH-Urteil vom 8. September 1993 I R 30/93, BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81). Dieses ist im Streitfall bestandskräftig abgeschlossen.

5. Die Vorentscheidung ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, damit es die erforderlichen Feststellungen zur Besteuerungspraxis in der ehemaligen DDR nachholen kann.