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  BFH-Urteil vom 17.12.1997 (I R 47/97) BStBl. 1998 II S. 269

Hat das FG im Rahmen des ihm gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 FGO eingeräumten Ermessens aus vertretbaren Gründen entschieden, daß es Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der von der Finanzbehörde nach § 364b AO 1977 gesetzten Frist im Einspruchsverfahren oder im finanzgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden, nicht zurückweisen will, so ist dies vom BFH in der Revisionsinstanz grundsätzlich als verbindlich hinzunehmen.

AO 1977 § 364b; FGO § 76 Abs. 3, § 79b Abs. 3.

Vorinstanz: FG Berlin (EFG 1997, 691)

Sachverhalt

I.

Da die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) für das Streitjahr 1993 keine Steuererklärungen abgab, erließ der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) die Steuerbescheide aufgrund geschätzter Besteuerungsgrundlagen. Während des Einspruchsverfahrens forderte das FA die Klägerin auf, die Einsprüche zu begründen und setzte ihr gemäß § 364b Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) zur Erledigung eine Frist von zunächst vier - später verlängert auf sechs - Wochen mit der entsprechenden Belehrung. Da die Klägerin die Steuererklärungen innerhalb der gesetzten Frist nicht abgab, wies das FA die Einsprüche zurück. Nach Klageerhebung reichte die Klägerin die entsprechenden Steuererklärungen nach. Die von der Klägerin zunächst auch mit Einspruch angefochtene Fristsetzung gemäß § 364b AO 1977 ist nicht mit der Klage weiterverfolgt worden.

Das Finanzgericht (FG) verzichtete seinerseits auf die Zurückweisung der Steuererklärungen gemäß § 76 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1997, 691 wiedergegebenen Gründen statt.

Seine Revision begründet das FA mit Verletzung von § 76 Abs. 3 und § 79b Abs. 3 FGO.

Es beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet.

Nach § 76 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der von der Finanzbehörde nach § 364b AO 1977 gesetzten Frist im Einspruchsverfahren oder im finanzgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden; die Maßstäbe des § 79b Abs. 3 FGO gelten hierbei sinngemäß (§ 76 Abs. 3 Satz 2 FGO). Dem FG ist sonach ein entsprechendes Verfahrensermessen eingeräumt, das pflichtgemäß wahrzunehmen ist. Bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen hat es die Möglichkeit, die verspätet vorgebrachten Erklärungen und Beweismittel zurückzuweisen, verpflichtet ist es dazu indessen nicht. Das Gericht wird durch die behördliche Entscheidung, das verspätete Vorbringen des Steuerpflichtigen gemäß § 364b AO 1977 zurückzuweisen, nicht präjudiziert, sondern lediglich zu einer - eigenständigen - Ermessensentscheidung gemäß § 76 Abs. 3 FGO veranlaßt (einhellige Auffassung, vgl. von Wedel in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 364b AO 1977 Rz. 54 ff., m. w. N.; Hellwig in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 76 FGO Rz. 78 b; Birkenfeld, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 364b AO 1977 Rz. 58 ff.). Allein dies entspricht der aus rechtsstaatlichen und damit verfassungsrechtlichen Gründen gebotenen Trennung des Verwaltungsverfahrens einerseits und des Gerichtsverfahrens andererseits (vgl. Art. 20 Abs. 3 und 19 Abs. 4 des Grundgesetzes - GG -).

Im Streitfall hat das FG im Rahmen des ihm hiernach eingeräumten Ermessens entschieden, daß die von der Klägerin im Verlaufe des Klageverfahrens nachgereichten Steuererklärungen zu berücksichtigen seien. Diese der Klägerin positive Verfahrensentscheidung des FG ist in der Revisionsinstanz grundsätzlich als verbindlich hinzunehmen. Sie unterliegt - anders als die Nichtzulassung des Vorbringens und anders auch als die gerichtliche Bestätigung der außergerichtlichen Präklusion - keiner revisionsrechtlichen Überprüfung und kann seitens des FA im Ergebnis nicht mittels der Verfahrensrüge (§ 115 Abs. 1 Nr. 3 FGO) angegriffen werden. Daß hierdurch die verfahrensbeschleunigenden Rechtsfolgen, die sich aus der vom FA im Einspruchsverfahren gesetzten und von dem Rechtsbehelfsführer dort versäumten Ausschlußfrist gemäß § 364b AO 1977 ergeben können (vgl. BTDrucks 12/7427, S. 37 f.), im finanzgerichtlichen Verfahren nicht fortwirken und deshalb letztlich ins Leere gehen können, ändert daran nichts. Denn (auch) die Zulassung des verspäteten Vorbringens durch das FG bezweckt die Wahrheitsfindung (§ 76 Abs. 1 FGO). § 76 Abs. 3 FGO dient insoweit der Effizienz des gerichtlichen Verfahrens, nicht (oder allenfalls mittelbar) aber den Interessen der beteiligten Finanzbehörde (vgl. zum Parallelfall des § 79b Abs. 3 FGO Stöcker in Beermann, a. a. O., § 79b FGO Rz. 182, m. w. N. zur vergleichbaren zivilprozessualen Rechtslage). Der Senat kann folglich dahinstehen lassen, ob das gerichtliche Ermessen restriktiv zu handhaben ist, weil anderenfalls die gesetzgeberische Intention, den Betroffenen mit seinem verspäteten Vorbringen im Einspruchsverfahren zu präkludieren, im Ergebnis unterlaufen würde (z. B. Blesinger in Haarmann, Rechtsschutz in Steuer- und Abgabensachen, F. 34110 Rz. 31, m. w. N.). Ob es sich ausnahmsweise anders verhalten kann, wenn das FG in offensichtlich gesetzeswidriger oder willkürlicher Weise entschieden haben sollte, mag dahinstehen (vgl. ähnlich die Rechtsprechung zur Frage der Revisionszulassung durch das FG, z. B. Bundesfinanzhof, Urteil vom 7. August 1967 VI R 297/66, BFHE 90, 29, BStBl III 1967, 789). Über einen derartigen Sachverhalt ist vorliegend nicht zu befinden. Das FG hat in nachvollziehbarer und plausibler Weise verdeutlicht, daß und weshalb es keine weiteren verzögernden Wirkungen annimmt.

Die vom FA hilfsweise beantrage Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung kommt nicht in Betracht. Das FA hat nicht geltend gemacht, weshalb eine solche Entscheidung in Betracht kommen sollte, insbesondere ist nicht erkennbar, daß es die Entscheidung der Vorinstanz in der Sache als unrichtig ansehen würde.