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  BFH-Urteil vom 23.10.1997 (V R 36/96) BStBl. 1998 II S. 584

Die Überlassung der von einem Kieferorthopäden bei der Heilbehandlung für einen Patienten selbst angefertigten kieferorthopädischen Apparate ist regelmäßig Teil des steuerfreien Umsatzes aus der Tätigkeit als Zahnarzt.

UStG 1980 § 3 Abs. 1, § 4 Nr. 14; Richtlinie 77/388/EWG Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c.

Vorinstanz: FG Berlin

Sachverhalt

I.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) zu 1 und 2 betreiben eine Gemeinschaftspraxis. In dieser ist der Kläger zu 2 als Kieferorthopäde tätig. Für kieferorthopädische Behandlungen stellen die Kläger in einem in der Praxis unterhaltenen Labor kieferorthopädische Apparate her. Nach einer Betriebsprüfung begehrten sie, die kieferorthopädischen Umsätze - entgegen der eigenen bisherigen Beurteilung - als steuerfrei zu behandeln. Sie machten dazu im Einspruchsverfahren u. a. geltend, sie hätten keine von der Steuerbefreiung ausgenommenen Umsätze durch Lieferung kieferorthopädischer Behandlungsmittel (Zahnspangen) ausgeführt. Die Patienten müßten diese Gegenstände nach der Behandlung zurückgeben. Sie, die Kläger, bewahrten die Gegenstände für die Beurteilung der weiteren Behandlung und zur Abwehr möglicher Schadensersatzansprüche auf und vernichteten sie dann. Das Eigentum an den Gegenständen hätten sie nicht übertragen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) wies den Einspruch zurück.

Die Klage gegen die Steuerfestsetzungen für 1986 bis 1989 hatte keinen Erfolg, weil die darin besteuerten Laborumsätze nach Ansicht des Finanzgerichts (FG) zutreffend als Lieferungen von kieferorthopädischen Apparaten durch einen Zahnarzt nach § 4 Nr. 14 Satz 4 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1980) beurteilt worden seien. Steuerpflichtige Lieferungen würden - so führte das FG u. a. weiter aus - von dem Zahnarzt auch ausgeführt, wenn er Eigentümer der bei einer kieferorthopädischen Behandlung verwendeten Apparate bleibe. Das FA habe mit Recht darauf hingewiesen, daß die wirtschaftlich verbrauchten, zu keiner weiteren Nutzung mehr geeigneten Zahnspangen nur zur Entsorgung zurückgenommen worden seien. Die Rücknahme lasse nicht die von den Klägern vertretene Schlußfolgerung einer reinen Gebrauchsüberlassung zu. Daß die Zahnspangen in der Zahnarztpraxis nicht nach Patienten geordnet aufbewahrt worden seien, sondern völlig unsortiert "für das Finanzamt" vor späterer Entsorgung gesammelt würden, führe ebenfalls nicht dazu, die Abgabe der Zahnspangen an die Patienten als reine Gebrauchsüberlassung zu beurteilen.

Mit der Revision rügen die Kläger Verfahrensfehler und unrichtige Anwendung von § 4 Nr. 14 Satz 4 UStG 1980. Sie vertreten weiter die Auffassung, daß sie die kieferorthopädischen Apparate nicht geliefert hätten, weil das Eigentum daran nicht übertragen worden sei. Sie hätten die bei der Behandlung verwendeten kieferorthopädischen Apparate nach Abschluß der jeweiligen Behandlungsstufe von den Patienten zurückerhalten, um den nächsten Behandlungsschritt vorzubereiten und um Schadensersatzansprüchen besser entgegentreten zu können.

Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Das FA ist der Revision entgegengetreten.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). In der Vorentscheidung des FG sind die hier zu beurteilenden Umsätze insgesamt als steuerpflichtig angesehen worden. Die bisher vorhandenen Feststellungen reichen jedoch nicht aus, um dies abschließend zu entscheiden.

1. Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1980 sind die Umsätze aus der Tätigkeit als Zahnarzt steuerfrei. Dies gilt nach § 4 Nr. 14 Satz 4 Buchst. b UStG 1980 nicht für die Lieferung oder Wiederherstellung von Zahnprothesen (aus Unterposition 9021.21 und 9021.29 des Zolltarifs - ZT -), und kieferorthopädischen Apparaten (aus Unterposition 9021.19 ZT), soweit sie der Unternehmer in seinem Unternehmen hergestellt oder wiederhergestellt hat.

Die Vorschrift setzt Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c und e der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) um. Danach befreien die Mitgliedstaaten unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, von der Steuer:

- die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von den betreffenden Mitgliedstaaten definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden (Buchst. c),

- ... die Lieferungen von Zahnersatz durch Zahnärzte und Zahntechniker (Buchst. e).

Nach Art. 28 Abs. 3 i. V. m. Anhang E Nr. 2 Richtlinie 77/388/EWG können die Mitgliedstaaten die in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. e Richtlinie 77/388/EWG bezeichneten Umsätze während einer Übergangszeit (Art. 28 Abs. 4 Richtlinie 77/388/EWG) weiter besteuern.

Ob und welche Umsätze die Kläger durch Lieferungen von kieferorthopädischen Apparaten ausgeführt haben, kann nach den vorhandenen Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden. In der Vorentscheidung werden "Laborumsätze", "kieferorthopädische Umsätze", "kieferorthopädische Laborumsätze", "Prothetikumsätze" und "Umsätze aus Lieferungen und Wiederherstellungen von kieferorthopädischen Apparaten" erwähnt. Es werden außerdem "kieferorthopädische Behandlungsmittel" und "Zahnspangen" aufgezählt, ohne daß der Vorentscheidung eindeutige Feststellungen zu entnehmen sind, ob es sich dabei um die in der Unterposition 9021.19 ZT erwähnten kieferorthopädischen Apparate handelt. Da die Vorentscheidung eine materiell-rechtliche Prüfung - auch zur Höhe der ggf. nach § 4 Nr. 14 Satz 4 Buchst. b UStG 1980 steuerpflichtigen Umsätze - nicht ermöglicht, ist sie aufzuheben.

2. Nach der erneuten Verhandlung wird das FG bei seiner Entscheidung beachten müssen:

a) Die Steuerbefreiungsvorschrift des § 4 Nr. 14 Satz 1 und 4 UStG 1980 betrifft bei richtlinienkonformer Auslegung nach Maßgabe der vorrangigen Bestimmung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c Richtlinie 77/388/EWG nur Dienstleistungen durch Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin. Die Steuerbefreiung schließt grundsätzlich keine Lieferungen von Gegenständen ein. Das ergibt sich aus der Stellung und dem Zusammenhang, in dem die Steuerbefreiungsvorschrift des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c Richtlinie 77/388/EWG steht. Sie folgt der Steuerbefreiung für Krankenhausleistungen und schließt - anders als andere Steuerbefreiungsvorschriften - keine Lieferungen ein. Es handelt sich, wie der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) entschieden hat (Urteil vom 23. Februar 1988 Rs. 353/85, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1988, 831, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, 6. USt-Richtl. (EWG), Art. 13, Rechtsspruch 9, Rdnr. 33), um Leistungen, die außerhalb von Krankenanstalten im Rahmen einer auf Vertrauen gegründeten Beziehung zwischen Patienten und Behandelndem erbracht werden, wobei diese Beziehung normalerweise in dessen Praxisräumen zum Tragen kommt.

b) Ob ein bestimmter Umsatz als Lieferung eines Gegenstandes oder als Dienstleistung zu beurteilen ist, richtet sich nach dem im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu ermittelnden Wesen des Vorgangs (vgl. EuGH-Urteil vom 2. Mai 1996 Rs. C 231/94, Faaborg-Gelting Linien, Slg. 1996, I-2395, 2406, StRK, 6. USt- Richtl. (EWG), Art. 9, Rechtsspruch 8, Rdnrn. 12 bis 14). Maßgebend sind der Umfang und die Bedeutung von Dienstleistungen für den Gesamtvorgang.

Danach wird der Umsatz durch kieferorthopädische Behandlung von der Dienstleistung des Kieferorthopäden geprägt. Die kieferorthopädische Heilbehandlung ist darauf gerichtet, Mißbildungen des Kiefers zu erkennen, zu korrigieren oder zu vermindern. Der Zahnarzt untersucht dabei, ob und wodurch der Fehlbildung begegnet werden kann. Wenn er ihr durch den Einsatz von kieferorthopädischen Apparaten entgegenwirkt, ist die Überlassung dieser Gegenstände Teil der Heilbehandlung. Die Behandlung ist ohne ihren Einsatz nicht fachgerecht. Das gilt jedenfalls, wenn die Apparate für die Behandlung unentbehrlich sind oder die Heilbehandlung in maßgeblichem Umfang unterstützen und nur für die Zwecke der einzelnen Behandlung von dem behandelnden Zahnarzt oder in seinem Labor angefertigt werden. Lieferungen von Gegenständen sind unter den bezeichneten Voraussetzungen nicht gegeben. Die zahnärztliche Dienstleistung ist steuerfrei und umfaßt auch die Überlassung der zur Heilbehandlung von dem Arzt angefertigten Gegenstände (ebenso Eckhardt/Weiß, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 14 Rz. 63).

Dadurch unterscheidet sich die mit kieferorthopädischen Apparaten unterstützte Heilbehandlung von der in dem Urteil des Senats vom 28. November 1996 V R 23/95 (BFHE 181, 540) beurteilten zahnärztlichen Leistung, bei der Zahnprothesen geliefert worden waren. Die Zahnprothesen waren nicht Teil einer einheitlichen Dienstleistung und konnten wegen des in § 4 Nr. 14 Satz 4 UStG 1980 enthaltenen Aufteilungsgebots auch nicht als Nebenleistung (durch Lieferung) zur steuerfreien zahnärztlichen Tätigkeit angesehen werden.

c) Für den Fall, daß das FG selbst unter Beachtung der dargelegten Grundsätze bei der erneuten Entscheidung (z. B. für einen Teil der von den Klägern überlassenen kieferorthopädischen Apparate) zu der Überzeugung kommen sollte, daß sie nicht zur Verwirklichung der Heilbehandlung eingesetzt worden sein sollten, können Lieferungen dieser Gegenstände nicht schon deshalb ausgeschlossen werden, weil die Kläger sich das Eigentum daran vorbehalten haben.

Nach ständiger Rechtsprechung überträgt der Unternehmer dem Abnehmer bei der Lieferung eines Gegenstands (§ 3 Abs. 1 UStG 1980) die Verfügungsmacht, wenn er ihm Substanz, Wert und Ertrag wirtschaftlich zuwendet (ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 8. November 1995 XI R 63/94, BFHE 179, 189, BStBl II 1996, 114 - Weinrebenlieferung). Sofern und solange der bürgerlich-rechtliche Eigentümer über den wirtschaftlichen Gehalt des Gegenstands nicht mehr verfügt, weil er ihn einem Abnehmer zugewendet hat, sind die Voraussetzungen für eine Lieferung erfüllt, selbst wenn sich der Lieferer das Eigentum vorbehalten hat (vgl. auch BFH-Beschluß vom 18. Dezember 1980 V B 24/80, BFHE 132, 147, BStBl II 1981, 197 zu 1. - Abzahlungsverkauf). Das gilt für kieferorthopädische Apparate, die von einem Patienten bestimmungsgemäß ge- und verbraucht werden. Nach Beendigung der Benutzung ist der Gegenstand regelmäßig wirtschaftlich verbraucht. Er kann als Spezialanfertigung von anderen Patienten grundsätzlich nicht oder nicht gleichwertig benutzt werden. Eine der umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung des Vorgangs als Lieferung widersprechende zivilrechtliche Zuordnungsvereinbarung (vgl. dazu BFH-Urteil vom 7. Mai 1987 V R 56/79, BFHE 150, 85, BStBl II 1987, 582 zu II. 2. a, m. w. N. - Flaschenpfand) hat keine rechtserhebliche Bedeutung.