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  BFH-Urteil vom 2.12.1998 (X R 15-16/97 BStBl. 1999 II S. 412

1. In finanzgerichtlichen Wiederaufnahmeverfahren entscheidet der Vollsenat auch dann, wenn die Entscheidung, um deren Korrektur es geht, gemäß § 79a Abs. 3, 4 FGO vom Einzelrichter erlassen wurde.

2. Die in § 579 Abs. 1 Nr. 2 ZPO enthaltene Einschränkung, wonach die erfolglose Geltendmachung eines Nichtigkeitsgrundes im Vorprozeß der Wiederaufnahme entgegensteht, gilt - anders als die in § 579 Abs. 2 ZPO geregelte abstrakte Begrenzung - grundsätzlich auch im Fall nicht ordnungsgemäßer Vertretung nach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO.

FGO § 6, § 79a Abs. 3, 4, § 115 Abs. 2 Nr. 1, § 118 Abs. 3 Satz 1, § 134; ZPO §§ 578 ff.

Vorinstanz: FG Hamburg (EFG 1997, 628)

Sachverhalt

I.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) hatte für die Streitjahre dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) gegenüber Hinzuschätzungen vorgenommen. Dessen hiergegen erhobene Klagen hatten in dem (durch Abtrennungen entstandenen) Verfahren I 31/95 wegen gesonderter Feststellung von Einkünften und Gewerbesteuer 1977 bis 1981 im Urteil des Finanzgerichts (FG) vom 14. August 1995 nur zu einem Teilerfolg und in dem (ebenfalls aus Abtrennungen hervorgegangenen) Verfahren I 134/95 wegen Feststellung von Einkünften und Gewerbesteuer 1982 bis 1984 im FG-Urteil vom 6. September 1995 zur Klageabweisung geführt. Beide Entscheidungen waren gemäß § 79a Abs. 3 und Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch den Berichterstatter als Einzelrichter und - nach beiderseitigem Verzicht auf mündliche Verhandlung - nach § 90 Abs. 2 FGO im schriftlichen Verfahren ergangen.

In beiden Fällen hatte der Kläger Nichtzulassungsbeschwerden erhoben, zu deren Begründung er fristgerecht verschiedene Verfahrensmängel geltend machte und nach Ablauf der Beschwerdefrist rügte, daß die Urteile nicht ohne vorherige mündliche Verhandlung hätten ergehen dürfen, weil die Verzichtserklärungen jeweils durch verschiedene anschließende Erörterungstermine, Beweiserhebungen, sonstige Sachverhaltsermittlungen und Auflageverfügungen verbraucht gewesen seien. Beide Beschwerden wurden vom erkennenden Senat durch Beschlüsse vom 9. Mai 1996 X B 223/95 und X B 224/95 als unbegründet zurückgewiesen, wobei eine Sachprüfung des letztgenannten Einwands am verspäteten Vorbringen scheiterte.

In beiden Fällen erhob der Kläger am 24. Juli 1996 Nichtigkeitsklage, die er jeweils auf § 134 FGO i. V. m. § 579 Abs. 1 Nr. 4 der Zivilprozeßordnung (ZPO) stützte und zu deren Begründung er sich erneut auf den Verbrauch seiner gemäß § 90 Abs. 2 FGO abgegebenen Verzichtserklärung berief.

Die Nichtigkeitsklagen hat das FG, jeweils in voller Senatsbesetzung, durch Urteile vom 25. November 1996 I 97/96 und I 98/96 - letzteres veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1997, 628 - abgewiesen und hierzu im wesentlichen folgendes ausgeführt: Die Klagen seien zwar zulässig, aber unbegründet. Der Verstoß gegen § 90 Abs. 2 FGO gelte zwar als Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO, § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO sei aber trotz gleichen Wortlauts im Hinblick auf den unterschiedlichen Gesetzeszweck enger auszulegen.

Mit den vom FG zugelassenen Revisionen rügt der Kläger Verletzung des § 579 ZPO, insbesondere des Abs. 2 dieser Vorschrift. Die enge Auslegung des FG finde im Gesetz, das dem Rechtsuchenden ein Wahlrecht zwischen Revision und Nichtigkeitsklage einräume, keine Stütze.

In der mündlichen Verhandlung vom 2. Dezember 1998 sind die beiden Revisionssachen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.

Der Kläger beantragt, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Sachen zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt unter Berufung auf die Meinung des FG, die Revisionen als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revisionen, deren Verbindung auf § 121 Satz 1 i. V. m. § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO beruht, sind unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das FG die Nichtigkeitsklagen abgewiesen. - Das ist zutreffenderweise durch den Senat - in der Besetzung mit drei Richtern und zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 5 Abs. 3 FGO) - geschehen.

1. Insoweit ist zwar keine Verfahrensrüge erhoben worden. Der Senat hat die Revisionsprüfung gleichwohl auf diese Frage erstreckt, weil es hier um eine Frage von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung geht (§ 118 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).

2. Beizupflichten ist dem FG darin, daß sich die Frage, ob in Fällen der hier streitigen Art der Einzelrichter oder der Senat entscheidungsbefugt ist, durch Auslegung des § 134 FGO i. V. m. § 584 ZPO nicht beantworten läßt. In § 584 ZPO ist nur die "externe" Zuständigkeit des Gerichts als Institution in örtlicher, sachlicher und funktionaler Hinsicht geregelt (vgl. Greger in Zöller, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., 1999, § 584 Rdnr. 1 ff.; Thomas/Putzo, Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., 1998, § 584 Rdnr. 1 ff., jeweils m. w. N.). Hingegen betrifft die hier zu beantwortende Frage, wie in Einzelrichtersachen zu verfahren ist, die "interne" Entscheidungsbefugnis. Die Antwort hieraus folgt aus der besonderen verfahrensrechtlichen Bedeutung der Entscheidung über den Wiederaufnahmegrund und aus der begrenzten Funktion des Einzelrichters im Rechtsschutzsystem der FGO.

a) Durch die Erhebung der Klage wird die Rechtshängigkeit begründet (§ 261 ZPO); diese endet, sofern der Rechtsstreit mit einem Urteil abgeschlossen wird, mit dessen formeller Rechtskraft (§ 705 ZPO). Nach § 578 Abs. 1 ZPO kann die Wiederaufnahme eines "durch rechtskräftiges Endurteil geschlossenen Verfahrens durch Nichtigkeitsklage und durch Restitutionsklage erfolgen". Bereits der Wortlaut des Gesetzes legt die Auslegung nahe, daß es sich beim Wiederaufnahmeverfahren um ein neues Verfahren handelt. Dies wird durch die Regelung des § 585 ZPO bestätigt, daß "für die Erhebung der Klagen und das weitere Verfahren" grundsätzlich die allgemeinen Vorschriften entsprechend gelten. Nach § 590 Abs. 1 ZPO wird "die Hauptsache ..., insoweit sie von einem Anfechtungsgrunde betroffen ist, von neuem verhandelt".

Zwar heißt es in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (Beschluß vom 27. Oktober 1992 VII R 71/92, BFH/NV 1993, 314) und in der Literatur (z. B. Greger in Zöller, a. a. O., § 590 Rdnr. 9; Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 134 FGO Rdnr. 5) überwiegend, das Wiederaufnahmeverfahren sei "prozessual als Fortsetzung des Vorprozesses anzusehen". Diese gegenständlich begrenzt zutreffende Aussage kann insofern nicht verallgemeinert werden, als der "Neuverhandlung der Hauptsache" (§ 590 Abs. 1 ZPO) die Entscheidung über die Zulässigkeit (§ 589 ZPO) und über die Begründetheit der Wiederaufnahmeklage - mithin über das Vorliegen des behaupteten Wiederaufnahmegrundes - vorangeht (vgl. allgemein zur "gestuften" Struktur des Wiederaufnahmeverfahrens Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl., 1993, § 159 II.1.; Gaul, Festschrift für Kralik, 1986, S. 157, 160 ff., m. w. N.). Allenfalls mit Bezug auf den "dritten Verfahrensabschnitt" läßt sich sagen, daß die "Neuverhandlung" mit der mündlichen Verhandlung des Vorprozesses "eine Einheit bildet". Die prozessual vorrangige Entscheidung darüber, ob ein rechtskräftiges Urteil aufzuheben ist, wird getroffen aufgrund einer Prüfung der Begründetheit der statthaften Wiederaufnahmeklage, mithin im zweiten - vorgelagerten - Verfahrensabschnitt, der als solcher im vorangegangenen Verfahren keine gegenständliche Entsprechung findet und daher nicht als dessen "Fortsetzung" angesehen werden kann. Aufgrund dieser Begründetheitsprüfung entscheidet sich, ob die Rechtskraft eines Urteils (§ 110 FGO) mit rückwirkender Kraft durchbrochen wird. Wegen dieser besonderen prozessualen Bedeutung der Entscheidung über den Wiederaufnahmegrund kann in dieser Hinsicht eine verfahrensrechtliche Einheit mit der Verhandlung des Vorprozesses nicht angenommen werden (a. M. Albert, Deutsche Steuer-Zeitung - DStZ - 1998, 239, 241).

b) Hinzu kommt außerdem, daß die Einführung des Einzelrichters allein der Verfahrensstraffung und Entlastung dient, am Prinzip der Ausgestaltung der FG als Kollegialgerichte nichts grundlegend hat ändern sollen (s. dazu näher: Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 5. Mai 1998 1 BvL 24/97 und 1 BvL 23/97, Deutsches Steuerrecht, Eildienst - DStRE - 1998, 534 und 535, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1998, 680 und 682). Daraus ist zu folgern, daß auch die diesem Gerichtssystem zugrundeliegende Erwägung, den richterlichen Entscheidungen eines Kollegiums größere Richtigkeitsgewähr beizumessen, weiterhin Gültigkeit hat (BVerfG in DStRE 1998, 535, HFR 1998, 680).

c) Weil sich Wiederaufnahmeverfahren und Revision hinsichtlich der tatbestandsmäßigen Voraussetzung des Eintritts der Rechtskraft (s. o. unter a) grundlegend unterscheiden (s. auch Gaul, a. a. O., S. 157, 159; Greger in Zöller, a. a. O., Vor § 578 Rz. 1, jeweils m. w. N.), bedarf es hier keines näheren Eingehens auf die neuere BFH-Rechtsprechung zur Einzelrichterkompetenz in Fällen der Zurückverweisung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO; BFH-Urteile vom 15. April 1996 VI R 98/95, BFHE 180, 509, BStBl II 1996, 478, unter 3.; vom 20. September 1996 VI R 40/96, BFH/NV 1997, 110, 111, sowie vom 26. Oktober 1998 I R 22/98, BFHE 187, 206, BStBl II 1999, 60).

3. Der Senat läßt dahingestellt, ob er der Ansicht des FG folgen könnte, wonach § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO enger auszulegen sei als § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO. Denn die Klageabweisung ist jedenfalls deshalb gerechtfertigt, weil der Kläger den Gesichtspunkt, der nun zur Wiederaufnahme geführt hat, zuvor schon erfolglos im Rechtsmittelverfahren geltend gemacht hat.

a) Zwar ist dem FG darin zuzustimmen, daß das Wiederaufnahmebegehren nicht an § 579 Abs. 2 ZPO scheitert, weil diese Vorschrift den Tatbestand des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO gerade nicht erfaßt.

b) Die in § 579 Abs. 2 ZPO enthaltene Regel, ebenso wie die Ausnahme hiervon, betrifft aber nur die Fälle, in denen die Nichtigkeit mittels eines Rechtsmittels - abstrakt - nicht geltend gemacht werden konnte, nicht die, in denen dies tatsächlich - konkret - ohne Erfolg geschehen ist. Für diese Fälle ist gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 2 (2. Halbsatz) ZPO die Nichtigkeitsklage ausdrücklich ausgeschlossen. Diese letztgenannte Ausgrenzung gilt zwar nach ihrem Wortlaut nur für den Nichtigkeitsgrund der Mitwirkung eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen Richters, wird aber von der herrschenden Meinung als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes gewertet (s. allgemein: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 97 ff.), der die Statthaftigkeit der Nichtigkeitsklage auch hinsichtlich der übrigen in § 579 Abs. 1 ZPO aufgezählten Tatbestände mit der Folge beschränkt, daß ein solches Rechtsschutzbegehren nur zulässig ist, wenn der in Frage stehende Nichtigkeitsgrund übersehen, nicht aber, wenn er z. B. im Vorprozeß schon geprüft und verneint worden war (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 5. Mai 1982 IV b ZR 707/80, BGHZ 84, 24, 26, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1982, 2449; Gaul, a. a. O., S. 157, 158 f.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, a. a. O., § 160 I.3.; Greger in Zöller, a. a. O., § 579 Rz. 12; Grunsky in Stein/Jonas, Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., 1994, § 579 Rz. 2; Wieczorek/Rössler, Zivilprozeßordnung, 2. Aufl., 1988, § 579 A II., jeweils m. w. N.). Die auch für den Senat entscheidende Erwägung hierbei ist, daß sämtlichen Wiederaufnahmegründen der Gesichtspunkt der "evidenten Erschütterung der Urteilsgrundlagen" gemeinsam ist (s. dazu näher Gaul, a. a. O., S. 157, 161 f.), daß mit der Wiederaufnahme die Aufrechterhaltung von Entscheidungen verhindert werden soll, die soviel an Autorität eingebüßt haben, daß das Vertrauen verlorengegangen ist, sie würden das Recht verwirklichen. Dies gilt vornehmlich nicht nur für den Fall der bloßen Fehlerberichtigung, sondern auch für die Aufdeckung eines bisher völlig unerkannt gebliebenen schweren Verfahrensmangels (Gaul, a. a. O., m. w. N.).

c) Dieser Ansicht schließt sich der Senat auch für den hier zu entscheidenden Fall an, daß die Wiederaufnahmeklage auf einen Nichtigkeitsgrund i. S. des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO gestützt wird, den der Kläger im Vorprozeß deshalb erfolglos geltend gemacht hat, weil er die Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht erfüllte. In einem solchen Fall ist die Zielsetzung dieser Vorschrift nicht tangiert, einem Prozeßbeteiligten die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs zu garantieren, der zuvor im Prozeß aus von ihm nicht zu vertretenden Umständen gehindert war, sich zu äußern (BGH in BGHZ 84, 24, 28, NJW 1982, 2449; Beschluß des BVerfG vom 29. Oktober 1997 2 BvR 1390/95, NJW 1998, 745). Der Kläger hatte eine solche Möglichkeit; er hat sie nur nicht genutzt. Würde man derartige Fälle gleichwohl für das Wiederaufnahmeverfahren öffnen, würde es außerdem nicht nur in zweckentfremdeter Weise zur reinen Fehlerkorrektur mißbraucht, sondern diente schließlich auch dazu, die Sachentscheidungsvoraussetzungen des Vorprozesses (hier die Frist zur Einlegung und Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde) zu unterlaufen (vgl. auch Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. März 1965 11 RA 304/64, BSGE 23, 30, Monatsschrift für Deutsches Recht 1965, 518).

d) Mit dieser Entscheidung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zum Urteil des BGH in BGHZ 84, 24, NJW 1982, 2449, weil dort ausdrücklich nur der Mangel in der Prozeßfähigkeit als besonders schwerwiegend von dem in § 579 Abs. 1 Nr. 2 ZPO normierten Grundsatz ausgenommen wurde und weil das dem Rechtsuchenden für solche Fälle eröffnete Wahlrecht ausdrücklich nur die alternative Geltendmachung (im Rechtsmittelweg oder mit Hilfe der Nichtigkeitsklage), nicht aber deren Kumulation ermöglichen soll. Um den Fall einer solchen zusätzlichen Rechtswahrnehmung aber handelt es sich hier.