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  EuGH-Urteil vom 6.2.1997 (C-247/95) BStBl. 1999 II S. 426

Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 4 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG) ist so auszulegen, daß er es den Mitgliedstaaten erlaubt, die in Artikel 13 dieser Richtlinie aufgezählten Tätigkeiten bei Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Tätigkeiten zu behandeln, die diesen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, obwohl sie in gleicher Weise ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer.

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Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluß vom 21. März 1995, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juli 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung des Artikels 4 Abs. 1, 2 und 5 sowie des Artikels 13 Teile B und C der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG, ABl. L 145, S. 1; nachstehend: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

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Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Finanzamt Augsburg-Stadt und der Marktgemeinde Welden, einer deutschen Gemeinde (nachstehend: Gemeinde), über deren Eigenschaft als Steuerpflichtige.

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Artikel 4 der Sechsten Richtlinie definiert den Begriff des Steuerpflichtigen. In bezug auf Einrichtungen des öffentlichen Rechts wird in Abs. 5 bestimmt:

"Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.

Falls sie jedoch solche Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Leistungen als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.

Die vorstehend genannten Einrichtungen gelten in jedem Fall als Steuerpflichtige in bezug auf die in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.

Die Mitgliedstaaten können die Tätigkeiten der vorstehend genannten Einrichtungen, die nach Artikel 13 oder 28 von der Steuer befreit sind, als Tätigkeiten behandeln, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen. "

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Artikel 13 der Sechsten Richtlinie sieht vor, daß bestimmte Tätigkeiten oder Leistungen von der Steuer befreit werden. Zu diesen gehört nach Artikel 13 Teil B Buchstabe b die Vermietung und Verpachtung von Grundstücken mit Ausnahme bestimmter Geschäfte, um die es in der vorliegenden Rechtssache nicht geht.

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Artikel 13 Teil C der Sechsten Richtlinie bestimmt jedoch, daß die Mitgliedstaaten ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen können, bei der Vermietung und Verpachtung von Grundstücken für eine Besteuerung zu optieren.

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Nach § 4 Nummer 12 des deutschen Umsatzsteuergesetzes 1980 (im folgenden: UStG) ist die Vermietung und Verpachtung von Grundstücken grundsätzlich umsatzsteuerfrei.

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Gemäß § 9 UStG kann der Unternehmer einen Umsatz, der u. a. nach § 4 Nummer 12 UStG steuerfrei ist, als steuerpflichtig behandeln, wenn der Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird.

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Der Begriff "Unternehmer" wird in § 2 Abs. 1 UStG wie folgt definiert: "Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. " Gemäß Abs. 3 sind die juristischen Personen des öffentlichen Rechts nur im Rahmen ihrer Betriebe gewerblicher Art und ihrer land- oder forstwirtschaftlichen Betriebe gewerblich oder beruflich tätig.

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Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, daß die Gemeinde einen Neubau errichten ließ und die Räumlichkeiten an eine Brauerei zum Betrieb einer Gaststätte verpachtete. Das Gaststätteninventar - Herde, Maschinen, Dunstabzugshauben, Möblierung, Geschirr - wurde nicht von der Gemeinde beschafft.

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Die Gemeinde verzichtete nach § 9 UStG auf die Steuerbefreiung der Verpachtungsumsätze gemäß § 4 Nummer 12 UStG und machte die auf die Kosten für die Errichtung des Gebäudes entfallende Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend.

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Das Finanzamt Augsburg-Stadt erkannte diesen Verzicht nicht an, da die Verpachtung der Gaststätte in dem Neubau ohne die Mitverpachtung des erforderlichen Gaststätteninventars kein Betrieb gewerblicher Art sei. Die Gemeinde sei deshalb nicht unternehmerisch tätig geworden und falle somit nicht unter die Mehrwertsteuerregelung.

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Die Gemeinde erhob hiergegen Klage, der das Finanzgericht aus folgenden Gründen stattgab: Als Betrieb gewerblicher Art gelte zwar auch die Verpachtung eines Betriebes, nach in Deutschland allgemeiner Auffassung allerdings nur dann, wenn bei größerem Einrichtungsbedarf das Inventar vom Verpächter beschafft und dem Pächter zur Nutzung überlassen werde. Andernfalls handele es sich um Vermögensverwaltung. Aus der Sechsten Richtlinie ergebe sich aber, daß bei einer Einrichtung des öffentlichen Rechts die Unternehmereigenschaft nur verneint werde, wenn diese Einrichtung im Rahmen der öffentlichen Gewalt auftrete. Da die Gemeinde im Streitfall dem Pächter gegenüber nicht hoheitlich, sondern privatwirtschaftlich aufgetreten sei, sei sie folglich Unternehmerin und könne sich unmittelbar auf die Sechste Richtlinie berufen.

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Das Finanzamt Augsburg-Stadt legte Revision zum Bundesfinanzhof ein, der beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende drei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Erlaubt Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 4 der Richtlinie 77/388/EWG den Mitgliedstaaten, steuerbefreite Tätigkeiten, für deren Besteuerung aber optiert werden kann, bei Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Tätigkeiten zu behandeln, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, obgleich sie sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen und in gleicher Weise ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer?

2. Falls die erste Frage zu verneinen ist: Kann der Umfang des Optionsrechts zur Besteuerung nach Maßgabe des Artikels 13 Teil C Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG in der Weise eingeschränkt werden, daß Tätigkeiten im Sinne des Artikels 13 Teil C Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG nur unter bestimmten Voraussetzungen als unternehmerische Tätigkeiten behandelt werden, wenn sie von Einrichtungen des öffentlichen Rechts ausgeübt werden?

3. Falls auch diese Frage zu verneinen ist: Kann eine Einrichtung des öffentlichen Rechts sich auch dann unmittelbar auf Artikel 4 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG berufen, um sich der Anwendung einer nationalen Vorschrift zu widersetzen, wenn sich die Anwendung dieser Richtlinienregelung zwar mittelbar über den Vorsteuerabzug begünstigend, im übrigen aber belastend auswirkt?

Zur ersten Frage

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Die Kommission trägt vor, Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 4 der Sechsten Richtlinie erlaube es den Mitgliedstaaten, bestimmte Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die nach dem System der Richtlinie grundsätzlich als Steuerpflichtige zu betrachten seien, als Nichtsteuerpflichtige zu behandeln, wenn ihre Tätigkeiten nach Artikel 13 der Richtlinie von der Steuer befreit seien. Beide Lösungen - Behandlung der Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nichtsteuerpflichtige oder Behandlung als Steuerpflichtige, die von der Steuer befreit seien - führten zum gleichen Ergebnis.

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Als Ausnahmebestimmung von der grundsätzlichen Systematik der Sechsten Richtlinie sei Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 4 jedoch eng auszulegen und könne auf die nach Artikel 13 befreiten Tätigkeiten nur insoweit Anwendung finden, als Artikel 13 sie ausdrücklich Einrichtungen des öffentlichen Rechts zuordne.

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Daher vertritt die Kommission die Ansicht, daß die Mitgliedstaaten nach Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 4 der Sechsten Richtlinie nicht befugt seien, Einrichtungen des öffentlichen Rechts für Tätigkeiten, die, wie die Vermietung und Verpachtung von Grundstücken, nicht dem in der vorstehenden Randnummer genannten Erfordernis entsprächen, als Nichtsteuerpflichtige zu behandeln.

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Bei den Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt im Sinne des Artikels 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie handelt es sich um solche, die die Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung ausüben; ausgenommen sind die Tätigkeiten, die sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer (Urteile vom 17. Oktober 1989 in den Rechtssachen 231/87 und 129/88, Ufficio distrettuale delle imposte dirette die Fiorenzuola d'Arda u. a., Slg. 1989, 3233, und vom 15. Mai 1990 in der Rechtssache C 4/89, Comune die Carpaneto Piacentino u. a., Slg. 1990, I-1869, Randnr. 8).

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Aus den Akten geht nicht hervor, daß die Gemeinde im Rahmen der öffentlichen Gewalt im Sinne von Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie gehandelt hätte. Vielmehr wurde die Tätigkeit der Verpachtung offenbar unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausgeübt, denen private Wirtschaftsteilnehmer unterliegen. Diese Vorschrift nimmt der Gemeinde daher nicht die Eigenschaft eines Steuerpflichtigen.

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Nach Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 4 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten jedoch außer den Tätigkeiten der Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die nach Unterabsatz 1 dieser Vorschrift nicht steuerbar sind, diejenigen, die nach Artikel 13 der Richtlinie von der Steuer befreit sind, als Tätigkeiten behandeln, die diesen Einrichtungen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, und demzufolge die Einrichtungen des öffentlichen Rechts für diese Tätigkeiten als Nichtsteuerpflichtige betrachten.

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Da Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 4 der Sechsten Richtlinie nicht zwischen diesen Tätigkeiten unterscheidet, können die Mitgliedstaaten die Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die nach Artikel 13 der Richtlinie von der Steuer befreite Tätigkeiten ausüben, auch dann als Nichtsteuerpflichtige behandeln, wenn sie diese in gleicher Weise ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer.

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Soweit eine Einrichtung des öffentlichen Rechts gemäß Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 4 der Sechsten Richtlinie so behandelt wird, als habe sie eine Tätigkeit im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübt, ist es Sache des nationalen Gerichts, gegebenenfalls zu beurteilen, ob die Voraussetzungen des Artikels 4 Abs. 5 Unterabs. 2 vorliegen.

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Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 4 Abs. 5 Unterabs. 4 der Sechsten Richtlinie so auszulegen ist, daß er es den Mitgliedstaaten erlaubt, die in Artikel 13 dieser Richtlinie aufgezählten Tätigkeiten bei Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Tätigkeiten zu behandeln, die diesen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, obwohl sie sie in gleicher Weise ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer.

Zur zweiten und dritten Frage

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Da die zweite und die dritte Frage nur für den Fall gestellt worden sind, daß die erste Frage verneint wird, brauchen sie nicht untersucht zu werden.