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  BFH-Urteil vom 19.8.1999 (III R 57/98) BStBl. 2000 II S. 330

Nicht wiedereinsetzungsfähig sind die gesetzlichen Fristen, die von den Finanzbehörden als Verwaltungsträger im Verwaltungsverfahren zu beachten sind, wie z.B. die Fristen des § 169 AO 1977.

Ist Festsetzungsverjährung eingetreten, kann die Geltung von Treu und Glauben einerseits nicht dazu führen, dass zu Lasten des Steuerpflichtigen ein erloschener Anspruch des FA aus dem Steuerschuldverhältnis wieder auflebt. Andererseits kann nach diesem Grundsatz ein Verschulden des FA in der Regel nicht zur Folge haben, dass nach Eintritt der Festsetzungsverjährung ein Steuerbescheid zugunsten des Steuerpflichtigen zu ändern ist.

AO 1977 § 110, § 169 Abs. 1 Nr. 1, § 171 Abs. 3 und 10, § 175 Abs. 1 Nr. 1.

Vorinstanz: FG Köln (EFG 1998, 1623)

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden in den Streitjahren (1980 und 1981) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger war seit 1971 an der "R-GmbH & Co. KG" (KG) in A beteiligt. Die beim Finanzamt in A steuerlich geführte KG wurde zum 31. Dezember 1981 liquidiert. Für die Jahre 1976 bis 1981 fand bei der KG eine Betriebsprüfung statt, die im April 1987 beendet wurde. Im Jahre 1988 führte der Kläger mit Steuerberater B, der von den Gesellschaftern der KG zum Empfangsbevollmächtigten bestellt worden war, einen Schriftverkehr wegen seiner Einkünfte aus der Beteiligung an der KG. Mit Schreiben vom 28. April 1988 teilte B dem Kläger mit, die Betriebsergebnisse der KG für die Jahre 1976 bis 1979 lägen vor und die Abschlussarbeiten für das Jahr 1980 seien fast fertig. Nach erneuter Anfrage unterrichtete B den Kläger unter dem 21. September 1992 davon, dass das Betriebsfinanzamt in A mit Bescheid vom 9. November 1988 die auf den Kläger entfallenden Einkünfte u.a. für die Streitjahre mit ./. 13.462 DM (1980) und ./. 7.008 DM (1981) festgestellt und dem Wohnsitzfinanzamt entsprechende "ESt-4B-Mitteilungen" zugesandt habe.

Der Kläger wandte sich daraufhin an den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -), informierte diesen über seine Beteiligungsverluste und bat um Überprüfung und Stellungnahme; er könne nicht erkennen, ob die Verluste bei den jeweiligen Veranlagungen berücksichtigt worden seien. Das FA wertete dieses Schreiben als Antrag auf Änderung der Einkommensteuerveranlagungen der Jahre 1976 bis 1981. Mit Bescheid vom 28. September 1994 lehnte das FA (unter Beifügung einer Rechtsbehelfsbelehrung) den zwischenzeitlich auf die Streitjahre beschränkten Änderungsantrag wegen Festsetzungsverjährung ab.

Das Einspruchsverfahren hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 1998, 1623 veröffentlichten Urteil statt. Es war der Ansicht, das FA sei verpflichtet, unter entsprechender Anwendung der Regelungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 der Abgabenordnung - AO 1977 -) die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 zu ändern und hierbei die negativen Einkünfte des Klägers aus der Beteiligung an der KG zu berücksichtigen.

Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es ist der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Änderung der bestands- und rechtskräftigen Steuerfestsetzungen für die Streitjahre nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 i.V.m. § 171 Abs. 10 AO 1977 seien im Streitfall nicht gegeben. Das FG sei zwar zutreffend davon ausgegangen, dass die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer 1980 und 1981 in bezug auf die vorzunehmenden Änderungen in ihrem Ablauf nach § 171 Abs. 10 AO 1977 a.F. bis zum 12. November 1989 gehemmt gewesen sei; mit Ablauf dieses Zeitpunkts sei aber Festsetzungsverjährung i.S. des § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 eingetreten, so dass eine Änderung ausgeschlossen sei. Die Vorschriften der §§ 172 bis 177 AO 1977 befassten sich ausschließlich mit den Grenzen der materiellen Rechtskraft von Steuerbescheiden. Andere formelle Hindernisse könnten über diese Vorschriften nicht überwunden werden. Das zeige auch der § 171 Abs. 10 AO 1977. Dieser Vorschrift hätte es nicht bedurft, wenn über § 110 AO 1977 i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 die bei Folgebescheiden i.S. des § 182 Abs. 1 AO 1977 bereits eingetretene Festsetzungsverjährung durchbrochen werden könnte (Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. März 1989 I R 77/85, BFH/NV 1991, 311). Unter § 110 AO 1977 fielen außerdem nur solche Fristen, die "einzuhalten" seien; nicht erfasst würden die von den Finanzbehörden als Verwaltungsträger im Verwaltungsverfahren zu beachtenden gesetzlichen Fristen, wozu auch die Verjährungsfrist gehöre. Diese Fristen könnten nicht von dem Steuerpflichtigen eingehalten und daher auch nicht ohne (sein) Verschulden versäumt werden. Die Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 und folglich auch die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 10 AO 1977 als solche seien somit keine wiedereinsetzungsfähigen Fristen i.S. des § 110 AO 1977 (Hinweis auf das BFH-Urteil vom 21. Oktober 1996 VI R 4/94, BFH/NV 1997, 330).

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage. Das FG hat zu Unrecht die Möglichkeit für eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen gegenüber den Klägern für die Streitjahre aufgrund des Feststellungsbescheides vom 9. November 1988 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 bejaht.

Die Festsetzungsfrist war hinsichtlich der sich aus dem Feststellungsbescheid vom 9. November 1988 ergebenden Änderungen für die Einkommensteuerfestsetzung bereits abgelaufen.

Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist eine Steuerfestsetzung oder ihre Änderung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Soweit jedoch für die Festsetzung einer Steuer ein Feststellungsbescheid als sog. Grundlagenbescheid bindend ist, endet nach § 171 Abs. 10 AO 1977 a.F. die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheides. Zweck dieser Regelung ist es, den Finanzbehörden ausreichend Zeit für die Auswertung eines Grundlagenbescheids einzuräumen. § 171 Abs. 10 AO 1977 ist somit die verjährungsrechtliche Ergänzung zu § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977, wonach ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern ist, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird (BFH-Urteil vom 12. August 1987 II R 202/84, BFHE 150, 319, BStBl II 1988, 318). Die durch § 171 Abs. 10 AO 1977 a.F. vorgeschriebene Frist für die Anpassung der Einkommensteuerbescheide der Streitjahre an den geänderten Feststellungsbescheid vom 9. November 1988 war bei Stellung des Änderungsantrags im September 1992 bereits abgelaufen, was auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist.

Entgegen der Auffassung des FG ist im Streitfall die (notwendige) Anpassung der Einkommensteuerbescheide 1980 und 1981 an den geänderten Feststellungsbescheid auch unter dem Gesichtspunkt einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zulässig. Die Regelung des § 110 Abs. 1 AO 1977, nach der auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, erfasst nur verfahrensrechtliche und materiell-rechtliche Fristen, die "einzuhalten" sind; das sind Handlungs- und Erklärungsfristen, die Beteiligte (§ 78 AO 1977) oder Dritte gegenüber der Finanzbehörde zu wahren haben. Nicht wiedereinsetzungsfähig sind dagegen die gesetzlichen Fristen, die von den Finanzbehörden als Verwaltungsträger im Verwaltungsverfahren zu beachten sind. So fällt unter § 110 AO 1977 nicht der Ablauf von Festsetzungsfristen (vgl. BFH-Entscheidungen vom 13. Juni 1995 I B 108/94, BFH/NV 1996, 104, und in BFH/NV 1997, 330; s. auch Kuczynski in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 110 AO 1977 Rz. 7; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 110 AO 1977 Rz. 6 a; Hofmann in Kühn/Hofmann, Abgabenordnung, 17. Aufl., § 110 Anm. 2; Brockmeyer in Klein, Abgabenordnung, 6. Aufl., § 110 Anm. 1).

Eine Pflicht des FA zur Änderung der Einkommensteuerfestsetzung, unabhängig von der Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, ergibt sich im Streitfall auch nicht daraus, dass nicht das Verhalten des Klägers, sondern offenbar die fehlende Mitteilung des für die KG zuständigen Finanzamts über die anteiligen Einkünfte des Klägers für die Streitjahre das FA daran gehindert hat, seiner Verpflichtung zu einer Änderung der Einkommensteuerbescheide 1980 und 1981 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 (s. hierzu z.B. BFH-Urteil vom 4. September 1996 XI R 50/96, BFHE 181, 388, BStBl II 1997, 261) rechtzeitig nachzukommen. Unter der Voraussetzung, dass die Finanzverwaltung im Streitfall fehlerhaft gehandelt hat (und die ESt-4B-Mitteilungen nicht etwa auf dem Postwege verlorengegangen sind), ist zwar nicht auszuschließen, dass die Festsetzungsverjährung nicht eingetreten wäre, wenn die Finanzverwaltung innerorganisatorisch fehlerfrei gehandelt hätte. Doch ergibt sich aus der Systematik der AO 1977, dass nicht jedes fehlerhafte Verwaltungshandeln, das zu einem rechtswidrigen Steuerbescheid führt, unter Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben ohne Rücksicht auf den Eintritt der Verjährung korrigiert werden kann. Dieser Grundsatz gebietet, dass im Steuerrechtsverhältnis jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teiles angemessen Rücksicht nimmt und sich zu seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzt (vgl. BFH-Urteil vom 9. August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990). Gleichwohl dürfen sich daraus keine Steuerrechtsfolgen ergeben, ohne dass der Sachverhalt vorliegt, an den das Gesetz diese Rechtsfolgen knüpft. Denn der Grundsatz von Treu und Glauben bringt keine Steueransprüche zum Entstehen oder zum Erlöschen, er kann allenfalls verhindern, dass eine Forderung oder ein Recht geltend gemacht werden kann (BFH-Urteil vom 8. Februar 1996 V R 54/94, BFH/NV 1996, 733, m.w.N.). Ist aber - wie im Streitfall - Festsetzungsverjährung eingetreten, darf die Geltung von Treu und Glauben einerseits nicht dazu führen, dass zu Lasten des Steuerpflichtigen ein erloschener Anspruch des FA aus dem Steuerschuldverhältnis wieder auflebt. Das ist unabhängig davon, ob dem Steuerpflichtigen der Eintritt der Verjährung vorwerfbar ist oder nicht. Dann kann aber andererseits auch ein Verschulden des FA jedenfalls im Regelfall nicht dazu führen, dass ein Steuerbescheid nach Eintritt der Festsetzungsverjährung noch zugunsten des Steuerpflichtigen zu ändern ist. Ob dies im Ausnahmefall anders sein kann, wenn das FA durch eigenes aktives Tun einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat, es werde rechtzeitig vor Ablauf der Festsetzungsfrist die Änderung von sich aus vornehmen, kann offen bleiben. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Denn die Festsetzungsfrist ist abgelaufen, weil das FA aufgrund des Feststellungsbescheides vom 9. November 1988 überhaupt nicht tätig geworden ist.

Der Eintritt der Festsetzungsverjährung bewirkt, wie sich aus § 47 AO 1977 ergibt, dass Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlöschen und dass die Ungewissheit über das Bestehen von Ansprüchen endgültig entfällt (BFH-Urteil vom 6. Februar 1996 VII R 50/95, BFHE 179, 556, BStBl II 1997, 112). Daraus folgt nicht nur, dass nach Ablauf der Festsetzungsfrist eine Steuer nicht mehr festgesetzt werden kann, sondern auch, dass eine Aufhebung oder Änderung der Festsetzung unzulässig ist (§ 169 Abs. 1 AO 1977). Weder kann der Steuergläubiger den Steueranspruch, noch der Steuerpflichtige den Anspruch auf Festsetzung einer Erstattung oder Vergütung oder auf Änderung einer Steuerfestsetzung zu seinen Gunsten geltend machen. Die Verjährungsvorschriften dienen der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden (vgl. BFH-Urteile vom 31. Januar 1989 VII R 77/86, BFHE 156, 30, BStBl II 1989, 442; vom 15. Juni 1988 I R 68/86, BFH/NV 1990, 128), und zwar in gleicher Weise im Interesse der Steuerpflichtigen als auch im Interesse der Allgemeinheit an einem geordneten Arbeitsablauf bei der Finanzverwaltung. Dieser wäre gestört, wenn Steuerbescheide, die sich nachträglich als unrichtig erweisen, ohne zeitliche Begrenzung geändert werden müssten (Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., vor § 169 AO 1977 Rz. 4).

Der Ablauf der durch § 171 Abs. 10 AO 1977 a.F. vorgeschriebenen Frist für die Anpassung der Einkommensteuerbescheide an den geänderten Feststellungsbescheid vom 9. November 1988 war entgegen der Auffassung der Kläger auch nicht etwa nach § 171 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 gehemmt. Danach läuft, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist ein Antrag auf Steuerfestsetzung, Aufhebung oder Änderung einer Steuerfestsetzung gestellt wird, die Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über den Antrag unanfechtbar entschieden worden ist. Der Senat kann offen lassen, ob ein Antrag auf Änderung einer Steuerfestsetzung nach § 175 AO 1977 zu den Anträgen i.S. des § 171 Abs. 3 AO 1977 gehören kann (s. dazu Hofmann, a.a.O., § 171 AO 1977 Anm. 3 a). Geht man mit den Klägern von einer erstmaligen Antragstellung im September 1992 aus, ist diese nicht vor Ablauf der Festsetzungsfrist sowohl hinsichtlich des 1988 ergangenen (rechtskräftigen) Feststellungsbescheides als auch hinsichtlich der (rechtskräftigen) Einkommensteuerbescheide 1980 und 1981 erfolgt.

Das Urteil des FG, das auf einer anderen Rechtsauffassung beruht, ist aufzuheben. Die Sache ist spruchreif, die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).