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  BFH-Urteil vom 24.5.2000 (VI R 89/99) BStBl. 2000 II S. 580

Ein etwaiger Wohnwert einer Heimunterbringung gehört grundsätzlich zum behinderungsbedingten Mehrbedarf eines behinderten Kindes und stellt deshalb keinen anzusetzenden Bezug dar.

EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2.

Vorinstanz: FG Bremen

Sachverhalt

I.

Die im Jahre 1962 geborene Tochter des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) ist schwerbehindert. In ihrem Schwerbehindertenausweis sind u.a. die Merkzeichen G (gehbehindert) und H (hilflos) eingetragen. Die Tochter ist in einer Einrichtung für Schwerbehinderte untergebracht. Die Kosten dieser Unterbringung werden im Rahmen der erweiterten Eingliederungshilfe vom zuständigen Sozialleistungsträger getragen (§§ 39 ff., § 43 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG -). Dieser zahlt monatlich einen Betrag in Höhe von 5.830,56 DM unter Berücksichtigung eines monatlichen Taschengeldes in Höhe von 162 DM. In obigem Betrag ist bereits ein Pflegeversicherungszuschuss in Höhe von 500 DM monatlich abgezogen. Aus ihrer Tätigkeit in einer Behindertenwerkstätte erzielt die Tochter jährliche Einkünfte von rd. 3.870 DM. Während ihrer Freizeit und an den Wochenenden hält sich die Tochter regelmäßig beim Kläger und dessen Ehefrau auf; diese besuchen die Tochter auch zu Freizeitveranstaltungen in der Einrichtung.

Mit Bescheid vom 4. Februar 1999, der nach § 68 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gegenstand des Verfahrens wurde, hob das Arbeitsamt - Familienkasse - (Beklagter und Revisionskläger - Beklagter -) die Kindergeldfestsetzung ab Februar 1997 auf. Der Lebensunterhalt der Tochter werde durch die gewährte Eingliederungshilfe gedeckt.

Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen gerichteten Klage statt. Es bestehe weiterhin ein Anspruch auf Kindergeld, da die Tochter außerstande sei, sich selbst zu unterhalten (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). Die Leistungen der Eingliederungshilfe sowie der Pflegeversicherung änderten daran nichts; auch finde der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG keine Anwendung.

Mit der Revision rügt der Beklagte, das Urteil verletze die Vorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Die Tochter sei imstande, sich selbst zu unterhalten. Dies ergebe sich - unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Senatsurteile vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98 (BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75) und VI R 182/98 (BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79) - durch einen Vergleich des Bedarfs der Tochter mit deren Mitteln.

a. Bedarf    
     
Grundbedarf  

12.000 DM

     
Heimkosten (12 x 6.168,56 DM)

74.022 DM

 
./. Verpflegung

4.212 DM

 
./. Unterkunft

4.044 DM

 
 

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65.766 DM

   

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Gesamtbedarf  

77.766 DM

     
b. Mittel    
     
Heimunterbringung  

74.022 DM

Taschengeld  

1.944 DM

Arbeitslohn

3.870 DM

 
./. Werbungskostenpauschale

2.000 DM

 
 

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1.870 DM

   

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Summe der Mittel  

77.836 DM

Dabei sei der Wohnwert nach der Sachbezugsverordnung (SachBezV) 1997 zu berechnen. Fahrtkosten seien im Übrigen nicht zu berücksichtigen, weil diese in der Vorinstanz weder geltend noch glaubhaft gemacht worden seien.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er ist im Wesentlichen der Ansicht, seine Tochter sei außerstande, sich selbst zu unterhalten. Ein Wohnwert für die vollstationäre Heimunterbringung sei nicht anzusetzen, weil insoweit ein behinderungsbedingter Mehrbedarf vorliege. Er - der Kläger - halte in seinem Haus ständig zwei Zimmer und Nebenräume für die Tochter bereit, die sie auch regelmäßig an Wochenenden und während des Urlaubs nutze. Zudem seien Fahrtkosten pauschal nach den Bestimmungen der Einkommensteuer-Richtlinien mit 3.000 km x 0,52 DM anzusetzen. Die Kosten seien u.a. für Fahrten von und zum Heim, für Arztbesuche und für Freizeitgestaltungen angefallen. Vergleiche man den Bedarf und die Mittel der Tochter, so ergebe sich eine Bedarfslücke in Höhe von rd. 5.000 DM.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 und 4 FGO). Das FG hat im Ergebnis zu Recht den Kindergeldanspruch des Klägers für seine behinderte Tochter bejaht. Eine Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung besteht nicht.

1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Dies ist nach den Grundsätzen der zwischenzeitlich ergangenen Urteile des erkennenden Senats in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75, und in BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79 zu prüfen.

Nach diesen Entscheidungen ist bei vollstationär untergebrachten Kindern der behinderungsbedingte Mehrbedarf in Form der Heimkosten hinsichtlich der Verpflegung zu bereinigen, da derartige Kosten bereits im Grundbedarf enthalten sind. Der Senat hat in den genannten Entscheidungen allerdings offen gelassen, ob der behinderungsbedingte Mehrbedarf auch um einen etwaigen, nach der SachBezV anzusetzenden Wert für die Unterkunft zu mindern ist.

Mit Schreiben des Bundesamts für Finanzen vom 1. Februar 2000 St I 4 - S-2280 - 2/20 00 (BStBl I 2000, 319, 321) hat die Verwaltung zwischenzeitlich verfügt, dass ein Sachbezugswert für die Unterkunft in einem Heim oder in einer Wohngruppe nicht anzusetzen sei (vgl. auch Runderlass der Bundesanstalt für Arbeit vom 21. Februar 2000 IIb2-7602.35(1)-A-/7541/9403/2112, Ziffer II. 2. a und 3.). Der erkennende Senat stimmt dieser Auffassung im Grundsatz zu.

Das FG hat im Streitfall nach § 118 Abs. 2 FGO für das Revisionsgericht bindend festgestellt, dass sich die Tochter während ihrer Freizeit und an den Wochenenden regelmäßig bei dem Kläger und seiner Ehefrau aufhält. Unter diesen Umständen gehört ein etwaiger Wohnwert der Heimunterbringung zum behinderungsbedingten Mehrbedarf.

Diese Auffassung steht auch in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (vgl. Urteile vom 24. Februar 2000 III R 80/97 , BStBl II 2000, 294, und vom 10. August 1990 III R 2/86 , BFH/NV 1991, 231) zur steuerrechtlichen Berücksichtigung von Aufwendungen für die krankheitsbedingte Unterbringung in einem Pflegeheim nach § 33 Abs. 1 EStG. Abziehbar sind dabei neben Pflegekosten auch die auf die Unterbringung entfallenden Kosten, soweit es sich hierbei um gegenüber der normalen Lebensführung entstehende Mehrkosten handelt.

2. Demnach ist die Tochter des Klägers i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG außerstande, sich selbst zu unterhalten.

Der Gesamtbedarf der Tochter beträgt 81.810 DM pro Jahr. Er setzt sich zusammen aus dem Grundbedarf in Höhe von 12.000 DM und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf in Höhe von 69.810 DM (74.022 DM Kosten der Heimunterbringung abzüglich 4.212 DM Verpflegungskosten). Diesem Gesamtbedarf stehen indessen lediglich Mittel in Höhe von 77.836 DM gegenüber. Bei dieser Bedarfslücke kommt es nicht darauf an, ob der Kläger im Revisionsverfahren noch einen Fahrtbedarf geltend machen könnte.

Wird alternativ darauf abgestellt, ob die Tochter eigene Einkünfte oder Bezüge, die zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 12.000 DM hat, so ergibt sich nichts anderes. Anzusetzen ist insoweit lediglich das Taschengeld in Höhe von 1.944 DM, ein Sachbezug für die Verpflegung in Höhe von 4.212 DM und Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 1.870 DM. Der Jahresgrenzbetrag von 12.000 DM ist nicht erreicht.