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  BFH-Urteil vom 9.8.2000 (I R 95/99) BStBl. 2001 II S. 13

Der Anlauf der Festsetzungsfrist gegenüber einem Haftungsschuldner wird gehemmt, wenn der Haftungsschuldner von Gesetzes wegen zur Abgabe einer Steueranmeldung oder zur Erstattung einer Anzeige verpflichtet ist und dieser Verpflichtung nicht nachkommt.

AO 1977 § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 191 Abs. 3 Satz 1; KVStDV § 4 Abs. 1 Satz 1.

Vorinstanz: FG Düsseldorf (EFG 1999, 1164)

Sachverhalt

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Anlauf der Festsetzungsfrist gegenüber einem Haftungsschuldner gehemmt ist, solange der Steuerschuldner seine Verpflichtung zur Anzeige eines steuerpflichtigen Vorgangs nicht erfüllt.

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine KG, war alleinige Kommanditistin einer GmbH & Co. KG (nachfolgend: KG). Zum 31. Dezember 1988 übernahm sie deren Verlustvortrag durch Umbuchung von einem Darlehenskonto. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) sah hierin einen gesellschaftsteuerpflichtigen Vorgang und setzte gegenüber der KG Kapitalverkehrsteuer fest.

Die KG legte gegen den betreffenden Bescheid vom 2. November 1990 fristgerecht Einspruch ein. Das FA setzte die Vollziehung des Bescheids antragsgemäß aus, entschied aber über den Einspruch nicht. Im Jahr 1992 wurde die KG im Handelsregister gelöscht; seither wurde das Einspruchsverfahren nicht mehr betrieben.

Mit Bescheid vom 4. August 1994 nahm das FA die Klägerin als Haftungsschuldnerin für die Kapitalverkehrsteuer in Anspruch. Auf die Klage der Klägerin hin hat das Finanzgericht (FG) den Haftungsbescheid aufgehoben, da er nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen sei. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 1164 veröffentlicht.

Mit seiner Revision rügt das FA sinngemäß Verletzung des § 170 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Es beantragt, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Dessen Ansicht, dass der angefochtene Bescheid nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen sei, vermag sich der Senat nicht anzuschließen:

1. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 b des Kapitalverkehrsteuergesetzes (KVStG) in der hier maßgeblichen Fassung unterliegt der freiwillige Verzicht eines Gesellschafters auf eine Forderung gegen eine inländische Kapitalgesellschaft der Gesellschaftsteuer. Als Kapitalgesellschaft gilt dabei auch die GmbH & Co. KG (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 KVStG). Die Steuer entsteht im Zeitpunkt der steuerpflichtigen Leistung (§ 38 AO 1977). Steuerschuldnerin ist die Gesellschaft (§ 10 Abs. 1 KVStG); der leistende Gesellschafter haftet für die Steuer (§ 10 Abs. 2 Nr. 2 KVStG).

Im Streitfall hat das FA angenommen, dass die Klägerin nach den vorgenannten Vorschriften für eine von der KG geschuldete Gesellschaftsteuer haftet. Das FG hat keine Feststellungen getroffen, aus denen sich ergibt, dass entweder die Steuerschuld oder eine Haftung von Anfang an nicht bestand. Deshalb ist im Rahmen des Revisionsverfahrens davon auszugehen, dass die Klägerin den vom FA in Anspruch genommenen haftungsbegründenden Tatbestand verwirklicht hat.

2. Wer kraft Gesetzes für eine Steuerschuld haftet, kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden (§ 191 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Auf den Erlass von Haftungsbescheiden sind die Vorschriften über die Steuerfestsetzung entsprechend anzuwenden (§ 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977). Die regelmäßige Festsetzungsfrist beträgt vier Jahre (§ 191 Abs. 3 Satz 2 AO 1977); sie beginnt mit Ablauf des Jahres, in dem der haftungsbegründende Tatbestand verwirklicht worden ist (§ 191 Abs. 3 Satz 3 AO 1977). Nach Ablauf der Festsetzungsfrist ist der Erlass eines Haftungsbescheids unzulässig (§ 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977).

3. Im Streitfall ist der vom FA angenommene - und vom FG als gegeben unterstellte - haftungsbegründende Tatbestand im Jahr 1988 verwirklicht worden. Denn in diesem Jahr hat die Klägerin ihre Leistung an die KG erbracht. Hierdurch ist die Festsetzungsfrist gegenüber der Klägerin indessen nicht in Lauf gesetzt worden. Der Anlauf dieser Frist wurde vielmehr gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 gehemmt, da die Klägerin nach § 4 Abs. 1 Satz 1 der Kapitalverkehrsteuer-Durchführungsverordnung (KVStDV) zur Anmeldung des steuerpflichtigen Vorgangs verpflichtet war und dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist.

a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 KVStDV haben die Beteiligten kapitalverkehrsteuerpflichtige Vorgänge binnen zwei Wochen dem zuständigen Kapitalverkehrsteueramt zu melden. Beteiligter in diesem Sinne ist u.a. der Gesellschafter, der die der Gesellschaftsteuer unterliegende Leistung erbringt. Die Klägerin war deshalb, wie sie auch selbst einräumt, zur Abgabe der vorgeschriebenen Anmeldung verpflichtet. Diese Verpflichtung hat sie, wie ebenfalls unstreitig ist, nicht erfüllt. Ebenso hat die KG als Steuerschuldnerin die erforderliche Anmeldung nicht abgegeben.

b) Nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 beginnt die Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, nicht vor der Erfüllung dieser Verpflichtung. Diese Regelung greift auch im Fall des § 4 Abs. 1 Satz 1 KVStDV. Dabei mag offen bleiben, ob die in jener Vorschrift vorgeschriebene "Meldung" des steuerpflichtigen Vorgangs als "Steueranmeldung" oder als "Anzeige" i.S. des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 zu werten ist. Jedenfalls führt das Unterlassen jener Meldung dazu, dass der Anlauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalverkehrsteuer gehemmt wird (ebenso Hicks, Deutsche Verkehrsteuer-Rundschau 1984, 180, 181, m.w.N.).

c) Diese Hemmung wirkt gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 auch gegenüber der Klägerin als Haftungsschuldnerin. Die Annahme des FG, dass die dortige Verweisung auf die Vorschriften über die Festsetzungsfrist sich nicht auf die Regelungen über die Anlaufhemmung erstrecke, teilt der Senat nicht.

aa) Zum einen hält er nicht die Erwägung des FG für durchgreifend, dass sich die Nichtanwendbarkeit des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 im Haftungsverfahren aus § 191 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 ergeben könne. Diese Vorschrift bestimmt lediglich, dass die Festsetzungsfrist gegenüber dem Haftungsschuldner mit Ablauf desjenigen Kalenderjahres beginnt, in dem der haftungsbegründende Tatbestand verwirklicht wird. Es handelt sich um ein Gegenstück zu § 170 Abs. 1 AO 1977, der eine vergleichbare Regelung in Bezug auf den Steuerschuldner trifft. Nach dieser Regelung kommt es für den (regelmäßigen) Anlauf der Festsetzungsfrist auf die Entstehung der Steuer an. Demgegenüber stellt § 191 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 klar, dass im Verhältnis zum Haftungsschuldner nicht die Entstehung der Steuer, sondern die Verwirklichung des Haftungstatbestands das fristauslösende Ereignis ist. In dieser Klarstellung erschöpft sich die Aussage der Vorschrift; ein weitergehender Inhalt kann ihr nicht entnommen werden. Insbesondere vermag der Senat in § 191 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 keine abschließende Spezialregelung des Inhalts zu erkennen, dass hierdurch trotz der Verweisung in § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 eine Anwendung der Vorschriften über die Anlaufhemmung im Haftungsverfahren ausgeschlossen wird.

bb) Zum anderen folgt ein solches Ergebnis - entgegen der Annahme des FG - auch nicht aus § 191 Abs. 3 Satz 4 AO 1977. Dort heißt es, dass die Festsetzungsfrist gegenüber dem Haftungsschuldner nicht abläuft, solange die Steuer gegenüber dem Steuerschuldner nicht festgesetzt worden ist. Die Vorschrift begründet damit eine speziell im Haftungsverfahren wirkende Ablaufhemmung, schließt aber die sich aus § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 ergebende Anlaufhemmung nicht aus.

Der Senat vermag nicht zu erkennen, dass - wie das FG meint - einer solchen Auslegung des § 191 Abs. 3 Satz 4 AO 1977 die Regelung in § 191 Abs. 3 Satz 5 Nr. 1 AO 1977 entgegenstehen könnte. Hiernach ist zwar der Erlass eines Haftungsbescheids nicht mehr zulässig, wenn die Steuer nicht festgesetzt worden ist und wegen des Ablaufs der Festsetzungsfrist auch nicht mehr festgesetzt werden kann. Daraus folgt jedoch nicht, dass § 191 Abs. 3 Satz 4 AO 1977 - über seinen Wortlaut hinaus - die Frage des Fristbeginns betrifft. Vielmehr geht es in beiden genannten Vorschriften um zwei ganz unterschiedliche Ausgangssituationen: § 191 Abs. 3 Satz 4 AO 1977 behandelt den Fall, in dem die Frist für den Erlass eines Haftungsbescheids nach den allgemeinen Kriterien vor der Steuerfestsetzungsfrist ablaufen würde, und verlängert sie unter bestimmten Voraussetzungen bis zum Ablauf jener Frist. Demgegenüber greift § 191 Abs. 5 Nr. 1 AO 1977 dort ein, wo gegenüber dem Haftungsschuldner eigentlich eine längere Frist liefe als gegenüber dem Steuerschuldner, und begrenzt für diesen Fall die im Haftungsverfahren geltende auf die im Steuerfestsetzungsverfahren maßgebliche Frist. Das Ziel beider Regelungen ist daher letztlich die Anpassung des Fristablaufs für den Haftungsbescheid an denjenigen für den Steuerbescheid, was eher dafür denn dagegen spricht, auch im Hinblick auf die Anlaufhemmung beide Verfahren gleich zu behandeln. Jedenfalls aber bietet auch im Lichte des § 191 Abs. 5 Nr. 1 AO 1977 die Regelung in Abs. 3 Satz 4 der Vorschrift keine Handhabe dafür, die Möglichkeit einer Anlaufhemmung im Haftungsverfahren grundsätzlich zu verneinen.

cc) Aus diesen Überlegungen heraus ist der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 eingreift, wenn ein Entrichtungsschuldner zur Abgabe einer Steueranmeldung verpflichtet ist und dieser Verpflichtung nicht nachkommt (Senatsurteil vom 17. April 1996 I R 82/95, BFHE 180, 365, BStBl II 1996, 608; Senatsbeschluss vom 14. Juli 1999 I B 151/98, BFHE 190, 1, BFH/NV 1999, 1667). Diese Handhabung ist insoweit auf Kritik gestoßen, als sie auch Fallgestaltungen erfasst, in denen der Steuerschuldner selbst gar nicht erklärungs- oder anmeldepflichtig ist (hierzu z.B. Kempf/Schiegl, Der Betrieb 2000, 1538, m.w.N.). Dazu ist vor allem eingewandt worden, dass eine Anlaufhemmung gegenüber dem Steuerschuldner nicht an Umstände anknüpfen dürfe, die jener nicht beeinflussen kann und möglicherweise nicht einmal kennt (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 24. April 1997, BStBl I 1997, 414; ähnlich Urteil des Bundesfinanzhofs vom 16. Februar 1994 II R 125/90, BFHE 174, 185, BStBl II 1994, 866; Hessisches FG, Urteil vom 31. Oktober 1995 4 K 2023/92, EFG 1996, 164; Niedersächsisches FG, Urteil vom 8. Mai 1991 III 418 - 420/88, EFG 1992, 112, m.w.N.). Selbst wenn man indessen dieser Überlegung folgen wollte, lässt sich daraus für den Streitfall ein Ablauf der Festsetzungsfrist nicht ableiten.

Denn hier geht es nicht darum, dass der Steuerschuldnerin - der KG - aus einer Pflichtverletzung der Haftungsschuldnerin - der Klägerin - Nachteile erwachsen sollen. Der KG gegenüber ist die Steuer vielmehr unabhängig vom Eintritt einer Anlaufhemmung fristgerecht festgesetzt worden. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist allein die Frage, ob die Nichterfüllung der Meldepflicht durch die Klägerin für diese selbst zu nachteiligen Rechtsfolgen führt. Diese Frage zu bejahen, ist nicht sachwidrig; insbesondere liegt hierin keine Anknüpfung an Vorgänge, die für die Klägerin nicht erkennbar oder beeinflussbar gewesen wären. Vielmehr hätte die Klägerin den Anlauf der Festsetzungsfrist ohne weiteres bewirken können, indem sie die Anmeldung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 KVStDV abgegeben hätte. Insoweit beruht die Anlaufhemmung mithin auf ihrer eigenen Pflichtverletzung (mit dieser Abgrenzung ebenso Senatsbeschluss in BFHE 190, 1, BFH/NV 1999, 1667).

4. Das FG hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - nicht geprüft, ob und ggf. in welcher Höhe der vom FA als steuerpflichtig behandelte Vorgang tatsächlich Gesellschaftsteuer ausgelöst hat. Das wird nunmehr nachzuholen sein. Zu diesem Zweck wird die Sache gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an das FG zurückverwiesen.