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  BFH-Urteil vom 26.1.2001 (VI R 26/98) BStBl. 2001 II S. 194

1. Eine über 300 Jahre alte Meistergeige, die im Konzertalltag regelmäßig bespielt wird, unterliegt einem technischen Verschleiß, der eine AfA auch dann rechtfertigt, wenn es wirtschaftlich zu einem Wertzuwachs kommt.

2. Bei Instrumenten, die bereits über 100 Jahre alt sind und die regelmäßig im Konzertalltag bespielt werden, kann die Restnutzungsdauer mit 100 Jahren angesetzt werden, sofern der Steuerpflichtige keine kürzere Nutzungsdauer darlegt und nachweist bzw. zumindest glaubhaft macht.

EStG § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7, § 7 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin war in den Streitjahren 1991 und 1992 als erste Konzertmeisterin im Philharmonischen Orchester X tätig. Sie hatte im Jahre 1988 in Genf eine Geige "Jean-Baptiste Rogerius, Brescia 1693" zum Preis von umgerechnet 247.280 DM erworben. Nach einer Bescheinigung ihres Arbeitgebers benutzte sie die Geige in den Spielzeiten 1988/1989 bis 1991/1992 durchschnittlich 190-mal pro Spielzeit in Ausübung ihres Berufs. Nach einer in den Steuerakten befindlichen Bescheinigung vom 13. Oktober 1992 betrug der Wert der Geige zu diesem Zeitpunkt ca. 392.000 DM. Dieser Wert liegt auch der für das Instrument abgeschlossenen Versicherung zugrunde. Die Geige wird regelmäßig von einem Fachmann gewartet, was zur Erhaltung der Klangeigenschaften des Instruments erforderlich ist.

Die Kläger machten in ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre jährliche Absetzungen für Abnutzung (AfA) in Höhe von 8.242 DM (entsprechend einer Nutzungsdauer von 30 Jahren) als Werbungskosten bei den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erkannte die Kosten nicht an.

Mit der Klage verfolgten die Kläger ihr Begehren weiter. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage insoweit statt, als es Werbungskosten in Form von AfA dem Grunde nach zuließ, dabei aber die Höhe der absetzbaren Beträge auf der Basis einer 50-jährigen Nutzungsdauer ermittelte. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Bei der Geige handle es sich um ein Arbeitsmittel, weil sie in jeder Spielzeit so häufig beruflich genutzt werde, dass eine gelegentliche private Nutzung daneben untergeordnet sei. Wenn auch ein wirtschaftlicher Wertverzehr nicht feststellbar sei, so unterliege die Geige doch einer nicht nur unbedeutenden technischen Abnutzung. Sie sei ein Handwerkserzeugnis, das zum Gebrauch bestimmt sei und das seiner Bestimmung gemäß tatsächlich eingesetzt werde. Anders als ein reines Sammlungsstück unterliege sie deshalb vom Zeitpunkt der Fertigstellung an mechanischen Belastungen durch den Gebrauch sowie Umwelteinflüssen durch Temperatur und Luftfeuchtigkeit.

Der Abschreibungszeitraum sei mit 50 Jahren zu schätzen. Damit werde berücksichtigt, dass es sich um ein langlebiges Wirtschaftsgut handle, bei dem eine Verschlechterung gegenüber dem Vorjahr nur begrenzt feststellbar sei. Diese Schätzung sei vergleichbar mit typisierten Abschreibungssätzen in anderen Fällen. So betrage die Abschreibungsdauer bei Gebäuden nicht mehr als 50 Jahre, obwohl die tatsächliche Nutzungsdauer unter Umständen deutlich darüber liege. Eine über mehr als 50 Jahre laufende Abschreibung sei zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, eine solche sei aber weder im Gesetz noch in Verwaltungsvorschriften zu finden.

Mit der Revision trägt das FA vor, eine technische Abnutzbarkeit komme nicht in Betracht, wenn der Verschleiß wie im Streitfall so gering sei, dass eine betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer auch nicht annähernd ermittelt werden könne. Dem Verschleiß unterlägen nur solche Teile der Geige, die auswechselbar und deshalb nicht wesens- und wertbestimmend seien.

Das FA beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet, soweit das FG einen Absetzungszeitraum von 50 Jahren zugrunde gelegt hat; im Übrigen ist sie unbegründet. Bei einer Meistergeige, die bereits über 100 Jahre alt ist und die im Konzertalltag bespielt wird, ist die Restnutzungsdauer regelmäßig mit noch einmal 100 Jahren zu schätzen.

1. Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 i.V.m. § 7 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind Werbungskosten auch AfA bei ausschließlich oder zumindest weitaus überwiegend beruflich genutzten Wirtschaftsgütern, deren Nutzung sich erfahrungsgemäß über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt. Voraussetzung für die Vornahme der AfA ist, dass es sich bei dem zu beurteilenden Gegenstand um ein abnutzbares Wirtschaftsgut handelt (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 31. Januar 1986 VI R 78/82, BFHE 146, 76, BStBl II 1986, 355, und vom 9. August 1989 X R 131-133/87, BFHE 158, 321, BStBl II 1990, 50). Abnutzbar ist ein Wirtschaftsgut, wenn die Dauer, während der es bestimmungsgemäß genutzt werden kann, durch seinen wirtschaftlichen und/oder technischen Wertverzehr erfahrungsgemäß begrenzt ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 158, 321, BStBl II 1990, 50, m.w.N.).

a) Eine wirtschaftliche Abnutzung scheidet bei solchen Wirtschaftsgütern aus, die - wie die Geige im Streitfall - keinem Zeitgeschmack unterliegen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 158, 321, BStBl II 1990, 50).

b) Beschränkt sich der körperliche Verschleiß eines Wirtschaftsguts - wie bei in Räumen aufbewahrten Kunstgegenständen - im Wesentlichen auf geringfügige Umwelteinflüsse und vollzieht er sich deshalb in so großen Zeiträumen, die es nicht mehr erlauben, eine Nutzungsdauer annähernd zu bestimmen, kann eine technische AfA im Hinblick auf ihre Geringfügigkeit im jeweiligen Veranlagungszeitraum steuerlich vernachlässigt werden. Ein solches Wirtschaftsgut ist nicht abnutzbar i.S. des § 7 Abs. 1 EStG (vgl. BFH-Urteil vom 2. Dezember 1977 III R 58/75, BFHE 124, 172, BStBl II 1978, 164 - "Gemälde anerkannter Meister").

c) Diese zu Kunstgegenständen ergangene Rechtsprechung gilt auch für Gebrauchsgegenstände, wenn sie nicht entsprechend ihrer jeweiligen Bestimmung genutzt werden, sondern - wie Kunstobjekte - in erster Linie als Sammlungs- und Anschauungsstücke dienen (BFH-Urteil in BFHE 158, 321, BStBl II 1990, 50). Werden solche Gegenstände hingegen in ihrer Gebrauchsfunktion verwendet, unterliegen sie bei ständigem Gebrauch in der Regel einem technischen Verschleiß, der eine AfA auch dann rechtfertigt, wenn ein wirtschaftlicher Wertverzehr nicht eintritt oder es wirtschaftlich sogar zu einem Wertzuwachs kommt (vgl. BFH-Urteil in BFHE 146, 76, BStBl II 1986, 355). Denn wirtschaftliche oder technische Abnutzung sind jeweils für sich zu beurteilen und berechtigen jeweils für sich gesehen zur Inanspruchnahme von AfA (BFH-Urteil in BFHE 158, 321, BStBl II 1990, 50); eine Saldierung von technischer Abnutzung und wirtschaftlichem Wertzuwachs ist ausgeschlossen. An der technischen Abnutzbarkeit ändert sich auch nichts dadurch, dass dem infolge des Gebrauchs eintretenden Verschleiß durch entsprechende Erhaltungsmaßnahmen entgegengewirkt werden kann (von Bornhaupt in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 9 Rz. I 54).

2. Die im Streitfall zu beurteilende Geige wird von der Klägerin im Rahmen ihres Berufs laufend bespielt. Die Geige ist deshalb einer regelmäßigen Gebrauchsabnutzung ausgesetzt und unterliegt damit einem technischen Verschleiß, der nicht vernachlässigt werden kann. Aus diesem Grunde hat das FG die Berechtigung zur Vornahme von AfA gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7, § 7 Abs. 1 EStG zu Recht bejaht. Zu Unrecht wurde dabei allerdings ein Absetzungszeitraum von 50 Jahren zu Grunde gelegt.

a) Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 EStG sind die Anschaffungs- und Herstellungskosten auf die Gesamtdauer der Verwendung oder Nutzung zu verteilen. Deshalb ist die Nutzungsdauer für jedes Wirtschaftsgut grundsätzlich im Einzelfall zu ermitteln (BFH-Urteil vom 19. November 1997 X R 78/94, BFHE 184, 522, BStBl II 1998, 59), was allerdings Typisierungen für bestimmte Gruppen von Wirtschaftsgütern nicht ausschließt (BFH-Urteil vom 26. Juli 1991 VI R 82/89, BFHE 165, 378, BStBl II 1992, 1000, für Kfz; vgl. ferner BFH-Urteil in BFHE 184, 522, BStBl II 1998, 59).

b) Im Allgemeinen hat der Senat keine Bedenken, bei neuen Meistergeigen mit der Vorinstanz eine typisierende Nutzungsdauer von 50 Jahren zu Grunde zu legen. Damit wird berücksichtigt, dass es sich bei diesen Geigen um langlebige Wirtschaftsgüter handelt, bei denen eine Verschlechterung gegenüber dem Vorjahr nur begrenzt feststellbar ist.

Eine Orientierung an diesem Zeitraum hält der Senat allerdings dann für unzulässig, wenn es sich um Instrumente handelt, die bereits über 100 Jahre alt sind und die regelmäßig im Konzertalltag bespielt werden. Bei derartigen Unikaten würde eine Schätzung der Restnutzungsdauer mit 50 Jahren zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung führen. So war die Geige im Streitfall bei Erwerb bereits knapp 300 Jahre alt, aber dennoch in tadellosem Zustand und für den täglichen Gebrauch im Konzertalltag hervorragend geeignet. Bei solchen Meistergeigen dürfte eine Restnutzungsdauer von zumindest weiteren 100 Jahren die Regel sein. Auch wenn ein Abschreibungszeitraum von über 50 Jahren weder im Gesetz noch in Verwaltungsvorschriften zu finden ist, ist ein solcher nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

Ein Rückgriff auf den in § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG vorgesehenen Absetzungszeitraum von 50 Jahren für Gebäude, deren tatsächliche Nutzungsdauer diesen Zeitraum ebenfalls regelmäßig deutlich überschreitet, verbietet sich deshalb, weil diese Vorschrift nicht die typisierende Schätzung einer realitätsnahen Restnutzungsdauer für Gebäude auf gesetzlicher Grundlage bezweckt (BFH-Urteil vom 11. Dezember 1987 III R 266/83, BFHE 152, 128, BStBl II 1988, 335). Es ging vielmehr um die Festlegung eines "großzügig" knapp bemessenen Absetzungszeitraums zum Zwecke der Vereinfachung und zur Vermeidung von Streitigkeiten (BTDrucks IV/2008, S. 5 ff.).

c) Der Senat hält für die bereits über 100 Jahre alten, aber hervorragenden und im Konzertalltag bespielten Instrumente aus Praktikabilitätsgründen eine typisierende Restnutzungsdauer von weiteren 100 Jahren für gerechtfertigt. Dem Steuerpflichtigen bleibt es unbenommen, eine im Einzelfall kürzere Restnutzungsdauer darzulegen und nachzuweisen bzw. zumindest glaubhaft zu machen. Dies ist im Streitfall nicht geschehen.

3. Der Abzug der AfA wird schließlich auch nicht durch § 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 7 EStG berührt. Die gesamten Gegebenheiten des Streitfalles rechtfertigen es nicht, die angeführten Vorschriften auf das streitbefangene Arbeitsmittel anzuwenden.

4. Die Sache ist spruchreif. Ausgehend von einer Restnutzungsdauer von 100 Jahren ergibt sich ein AfA-Satz von jährlich 1 v.H., was im Streitfall einer jährlichen AfA in Höhe von 2.473 DM entspricht.