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  BFH-Urteil vom 19.12.2000 (VII R 63/99) BStBl. 2001 II S. 217

Die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners für die Hälfte der vom Steuerschuldner verwirkten Säumniszuschläge ist nicht deshalb ermessenswidrig, weil der Steuerschuldner in dem betreffenden Zeitraum zahlungsunfähig gewesen ist.

AO 1977 § 69 Satz 2, § 191 Abs. 1, § 240, § 227.

Vorinstanz: FG Nürnberg

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war Geschäftsführer einer Gesellschaft, die ihrer Verpflichtung zur Abführung von Lohnsteuer nicht nachgekommen ist. Er ist deswegen von dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) auf Haftung u.a. für Säumniszuschläge in Anspruch genommen worden, allerdings nur zur Hälfte, soweit die Säumniszuschläge nach dem Zeitpunkt entstanden sind, in dem für die Gesellschaft Konkursantrag gestellt worden ist. Die gegen die Haftungsinanspruchnahme erhobene Klage hatte insoweit Erfolg. Das Finanzgericht (FG) urteilte, die Haftung nach § 69 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) erstrecke sich nicht auf Säumniszuschläge, die ab dem Zeitpunkt der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Hauptschuldners verwirkt worden sind. In einem solchen Fall seien die verwirkten Säumniszuschläge dem Erstschuldner wegen Zweckverfehlung zu erlassen; denn die Ausübung eines Drucks zur Durchsetzung der Zahlung habe ihren Sinn verloren. So sei es im Streitfall. Die Gesellschaft sei bei Konkursantragstellung zahlungsunfähig und überschuldet gewesen. Die Heranziehung des Klägers als Haftungsschuldner sei folglich nur für solche Säumniszuschläge zulässig, die bis zu diesem Zeitpunkt verwirkt wurden. Die Haftungssumme sei - unter Abweisung der weiter gehenden Klage - insoweit herabzusetzen, als die Säumniszuschläge auf die Zeit nach Konkursantragstellung entfallen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom erkennenden Senat zugelassene Revision des FA, mit der im Wesentlichen gerügt wird, das FG habe verkannt, dass Säumniszuschläge nicht nur ein Druckmittel eigener Art seien, das zur Zahlung anhalten solle, sondern dass sie den zusätzlichen Zweck verfolgten, eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung und die Abgeltung eines zusätzlichen Verwaltungsaufwandes zu gewähren. Wegen dieses weiteren Zwecks der Säumniszuschläge sei im Streitfall nur ein Teilerlass bzw. eine Inanspruchnahme des Klägers auf die Hälfte der verwirkten Säumniszuschläge geboten gewesen, weil - über Zahlungsunfähigkeit der Steuerschuldnerin hinaus - persönliche oder sachliche Billigkeitsgründe, die zu einem Vollerlass hätten führen können, nicht gegeben gewesen seien.

Das FA beantragt, das Urteil des FG insoweit aufzuheben, als das FG die Haftung für die nach Konkurseröffnung der Hauptschuldnerin entstandenen Säumniszuschläge in Höhe von 4.224 DM verneint hat, und die Anfechtungsklage auch diesbezüglich als unbegründet abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision des FA zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Die Ansicht des FG, Säumniszuschläge, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der von dem Haftenden vertretenen Steuerschuldnerin entstanden sind, dürften von dem Haftungsschuldner nicht eingefordert werden, verletzt Bundesrecht.

Grundlage der Haftung ist im Streitfall, was die strittigen Säumniszuschläge angeht, § 69 Satz 2 AO 1977 i.V.m. § 34 Abs. 1 AO 1977, § 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG). Danach haftet der Geschäftsführer - hier der Geschäftsführer einer in einer KG geschäftsführenden Komplementär-GmbH - auch für die Säumniszuschläge, die infolge von Pflichtverletzungen gemäß § 240 AO 1977 entstanden sind, sofern er als gesetzlicher Vertreter der Gesellschaft pflichtwidrig nicht dafür gesorgt hat, dass die Steuern zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet werden. Nach § 69 Satz 2 AO 1977 ist die Haftung bei Säumniszuschlägen nicht davon abhängig, dass der Haftungsschuldner unmittelbar dafür Verantwortung trägt, dass ein Anspruch auf Zahlung von Säumniszuschlägen entstanden ist, d.h. die Säumnis des Steuerschuldners eingetreten oder weiter aufrecht erhalten worden ist.

Im Falle des Klägers liegen die Voraussetzungen des § 69 Satz 2 AO 1977 vor. Seine Inanspruchnahme als Haftungsschuldner steht daher nach § 191 Abs. 1 AO 1977 im Ermessen des FA. Dieses hat von seinem Ermessen dahin Gebrauch gemacht, dass es für die Zeit, nachdem für die vom Kläger vertretene Gesellschaft Konkursantrag gestellt worden und diese nach der vom FG als richtig bestätigten Einschätzung des FA tatsächlich zahlungsunfähig war, den Kläger nur auf die Hälfte der nach § 240 AO 1977 an sich verwirkten Säumniszuschläge in Anspruch genommen hat. Das beruht auf der zutreffenden Erwägung des FA, dass bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners nach § 191 Abs. 1 AO 1977 die Billigkeitsgesichtspunkte zu berücksichtigen sind, die bei der Erhebung der Säumniszuschläge bei dem Steuerschuldner nach § 227 AO 1977 zu einem Billigkeitserlass führen können und unter Umständen führen müssen. Denn bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners fehlt es wegen des durch § 191 Abs. 1 AO 1977 der Finanzbehörde eröffneten umfassenden Ermessens an der das Verfahren gegenüber dem Steuerschuldner kennzeichnenden Zweistufigkeit, d.h. der Unterscheidung zwischen der Feststellung der verwirkten Säumniszuschläge und dem unter Umständen vorzunehmenden Erlass der verwirkten Säumniszuschläge nach § 227 AO 1977. Die Rechtssätze, die in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) für die Anwendung des § 227 AO 1977 im Hinblick auf die Erhebung von Säumniszuschlägen beim Steuerschuldner aufgestellt worden sind, sind deshalb bei Erlass eines Haftungsbescheides im Rahmen der Ermessensausübung nach § 191 Abs. 1 AO 1977 zu berücksichtigen.

Es ist indes entgegen der Ansicht des FG nicht ermessensfehlerhaft, dass das FA den Kläger auf Haftung für die Hälfte der nach Konkursantragstellung verwirkten Säumniszuschläge in Anspruch genommen hat.

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH haben Säumniszuschläge einen doppelten Zweck. Sie sind zum einen ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll. Darüber hinaus verfolgen sie den Zweck, vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuerschulden zu erhalten und Verwaltungsaufwendungen abzugelten, die bei den steuerverwaltenden Körperschaften regelmäßig entstehen, wenn Steuerpflichtige eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgemäß bezahlen (vgl. u.a. Beschluss des Senats vom 21. April 1999 VII B 347/98, BFH/NV 1999, 1440; BFH-Urteile vom 18. Juni 1998 V R 13/98, BFH/NV 1999, 10; vom 16. Juli 1997 XI R 32/96, BFHE 184, 193, BStBl II 1998, 7, und vom 7. Juli 1999 X R 87/96, BFH/NV 2000, 161).

Hieraus folgt, wie ebenfalls bereits vom BFH mehrfach erkannt worden ist, dass die Erhebung von Säumniszuschlägen insofern sachlich unbillig ist, als dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuer wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich war und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verloren hatte (vgl. u.a. das Urteil in BFHE 184, 193, BStBl II 1998, 7). Der BFH hat jedoch u.a. in den Urteilen in BFH/NV 1999, 10 und in BFH/NV 2000, 161 ausgeführt, der Tatbestand der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit rechtfertige für sich allein keinen vollständigen Erlass von Säumniszuschlägen wegen sachlicher Unbilligkeit. Diese seien vielmehr in der Regel nur zur Hälfte zu erlassen, wenn sie lediglich ihren Zweck verloren haben, als Druckmittel zur pünktlichen Steuerzahlung zu dienen (in diesem Sinne auch Beschluss des Senats in BFH/NV 1999, 1440). Soweit früherer Rechtsprechung, insbesondere dem Beschluss des erkennenden Senats vom 4. Januar 1996 VII B 209/95 (BFH/NV 1996, 526) etwas anderes hat entnommen werden können, hat der Senat bereits in seinem vorgenannten Beschluss seine Rechtsansicht klargestellt.

Es entspricht folglich nicht dem Bundesrecht, so wie es die ständige Rechtsprechung des BFH ausgelegt hat, die Inanspruchnahme des Klägers wegen der hälftigen Säumniszuschläge für ermessenswidrig allein deshalb zu halten, weil die von dem Kläger vertretene Steuerschuldnerin in dem betreffenden Zeitraum zahlungsunfähig gewesen ist.

Das Urteil des FG ist auch nicht im Ergebnis richtig (§ 126 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Allerdings kann bei Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung ein vollständiger Erlass der Säumniszuschläge bzw. eine Nichtinanspruchnahme eines Haftungsschuldners auf Säumniszuschläge dann in Betracht kommen, wenn - über Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung hinaus - zusätzliche, besondere Gründe persönlicher oder sachlicher Billigkeit gegen die Geltendmachung von Säumniszuschlägen sprechen (BFH-Urteil in BFHE 184, 193, BStBl II 1998, 7; Beschluss des Senats in BFH/NV 1999, 1440). Ein vollständiger Erlass von Säumniszuschlägen bzw. eine Nichtinanspruchnahme eines Haftungsschuldners kommt insbesondere in Betracht, wenn im Zeitpunkt der Fälligkeit der nicht pünktlich entrichteten Steuerforderung ein Steuererlass oder ein Verzicht auf Stundungszinsen wegen sachlicher Unbilligkeit gerechtfertigt gewesen wäre (BFH-Urteile vom 8. März 1990 IV R 34/89, BFHE 160, 296, BStBl II 1990, 673, und in BFH/NV 2000, 161) oder wenn persönliche Billigkeitsgründe in der Person des Steuerschuldners vorliegen, die Steuererhebung also dessen wirtschaftliche oder persönliche Existenz vernichtet oder ernstlich gefährden würde (vgl. z.B. BFH-Entscheidungen vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl II 1987, 612, und vom 24. Oktober 1988 X B 54/88, BFH/NV 1989, 285).

Solche persönlichen Billigkeitsgründe hat das FG indes weder festgestellt noch sind sie geltend gemacht worden; auch über die Zahlungsunfähigkeit der Steuerschuldnerin hinausgehende sachliche Gründe, die einen Erlass oder einen Verzicht auf Stundungszinsen hinsichtlich der nicht abgeführten Lohnsteuern und Kirchensteuern, auf deren Nichtentrichtung die strittigen Säumniszuschläge zurückgehen, geboten hätten, sind weder vom FG festgestellt noch nach dem Vorbringen des Klägers ernstlich in Betracht zu ziehen, der sich vielmehr noch in seiner Revisionserwiderung nur pauschal darauf berufen hat, der Erlasstatbestand sei nicht geprüft worden. Ein Erlass der Steuerforderung selbst ist erst recht nicht in Betracht zu ziehen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 227 AO 1977 Rdnr. 36).

Die Sache ist folglich entscheidungsreif (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Die Haftungsinanspruchnahme des Klägers wegen der Hälfte der nach Konkursantragstellung verwirkten Säumniszuschläge ist rechtmäßig. Die Klage ist daher unter Abänderung des Urteils des FG in vollem Umfang abzuweisen.