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  BFH-Urteil vom 16.5.2001 (I R 100/00) BStBl. 2001 II S. 633

Ein Arbeitnehmer mit Wohnsitz im Inland und Arbeitsort in der Schweiz, der an mehr als 60 Arbeitstagen nicht an seinen Wohnsitz zurückkehrt, unterliegt dennoch als Grenzgänger gemäß Art. 15a DBA-Schweiz der deutschen Besteuerung, wenn die Nichtrückkehr auf die Wahrnehmung eines gelegentlichen Nachtbereitschaftsdienstes zurückzuführen ist.

DBA-Schweiz Art. 15a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2; Verhandlungsprotokoll vom 18. Dezember 1991 Abschn. II. 1.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg

Sachverhalt

I.

Die im Inland wohnenden Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zusammen zur Einkommensteuer 1995 veranlagte Eheleute. Die Klägerin ist als Chef de Service eines Schweizer Hotels im deutsch-schweizerischen Grenzbereich beschäftigt. Sie kehrte im Streitjahr 1995 an insgesamt 71 Tagen nicht an den deutschen Wohnort zurück, weil sie -im jeweiligen Einzelfall unvorhergesehenen- Bereitschaftsdienst hatte. Sie legte dazu eine Bestätigung des Arbeitgebers vor, wonach sie -neben der Hoteleigentümerin- "vereinbarungsgemäß ... mitverantwortlich dafür (war), die Betreuung und auch die Sicherheit der Hotelgäste rund um die Uhr zu gewährleisten" und daher zuweilen Nachtbereitschaft wahrnehmen müsse.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -FA-) behandelte die Klägerin als sog. Grenzgängerin i.S. von Art. 15 Abs. 2 Satz 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (DBA-Schweiz) und unterwarf ihr Einkommen der deutschen Besteuerung.

Die Klage gegen den hiernach ergangenen Einkommensteuerbescheid blieb erfolglos.

Ihre Revision stützen die Kläger auf Verletzung materiellen Rechts.

Sie beantragen, das Urteil des Finanzgerichts (FG) aufzuheben und den angefochtenen Einkommensteuerbescheid unter Freistellung der von der Klägerin erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit von der deutschen Besteuerung zu ändern.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet.

Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die ein Grenzgänger aus unselbständiger Arbeit bezieht, sind gemäß Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz in dem Vertragsstaat zu besteuern, in dem dieser ansässig ist. Grenzgänger i.S. von Art. 15a Abs. 1 DBA-Schweiz ist gemäß dessen Abs. 2 Satz 1 jede in einem Vertragsstaat ansässige Person, die in dem anderen Vertragsstaat ihren Arbeitsort hat und von dort regelmäßig an ihren Wohnort zurückkehrt. Die Grenzgängereigenschaft entfällt gemäß Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz, wenn die betreffende Person an mehr als 60 Tagen auf Grund ihrer Arbeitsausübung nicht jeweils nach Arbeitsende an ihren Wohnort zurückkehrt. Bei der Auslegung dieser Einschränkungen ist das Verhandlungsprotokoll zum Änderungsprotokoll vom 18. Dezember 1991 (BStBl I 1993, 929), dort Abschn. II zu Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz, zu beachten. Die Annahme einer regelmäßigen Rückkehr an den Wohnsitz i.S. von Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz wird danach nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich die Arbeitsausübung bedingt durch betriebliche Umstände, wie z.B. bei Schichtarbeitern oder Krankenhauspersonal mit Bereitschaftsdienst, über mehrere Tage erstreckt.

FA und FG verstehen diese Einschränkung in dem Verhandlungsprotokoll dahin, dass bei einer sich über mehrere Tage erstreckenden Arbeitsausübung eine "regelmäßige" Rückkehr i.S. von Art. 15a Abs. 2 Satz 1 DBA-Schweiz unterstellt und damit eine zwischenzeitliche Rückkehr an den Wohnort fingiert werde; solche Tage der Nichtrückkehr berührten die Grenzgängereigenschaft folglich nicht. So verhalte es sich auch bei der Klägerin; ihre Tätigkeit sei eine "mehrtägige" im Sinne der Protokollvereinbarung. Denn die darin zur Erläuterung der mehrtägigen "betrieblichen Umstände" benannten Berufsgruppen und Tätigkeiten seien lediglich beispielhaft und nicht abschließend. Die betroffenen Tätigkeiten müssten deswegen nicht solche sein, die arbeitsvertraglich auf eine entsprechende Mehrtägigkeit angelegt seien. Zwar möge dies bei Schichtarbeitern oder bei Krankenhauspersonal mit Bereitschaftsdienst zutreffen. Ausschlaggebend für die in Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz gemachte Einschränkung seien indes die "betrieblichen Umstände", die die Mehrtägigkeit der Arbeitsausübung auslösten. Solche betrieblichen Umstände lägen jedoch nicht nur vor, wenn sie vertraglich ausbedungen und gewissermaßen berufstypisch, vielmehr auch dann, wenn sie durch wiederholte außergewöhnliche Gründe, also -so die Kläger- durch "situationsbedingte längere Arbeitseinsätze" veranlasst seien.

Dem stimmt der Senat zu. Mit der zitierten Bestimmung des Verhandlungsprotokolls wollten die Vertragsstaaten ersichtlich verhindern, dass Arbeitnehmer allein deshalb aus dem Anwendungsbereich der Grenzgängerregelung herausfallen können, weil sich ihre Arbeitszeit über Mitternacht hinaus erstreckt und sie deshalb nicht am Tag ihres Arbeitsbeginns nach Hause zurückkehren. Eine in diesem Sinne "arbeitsbedingte" Nichtrückkehr soll mithin im Rahmen des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz unbeachtlich sein. Andererseits soll die genannte Rechtsfolge nur dann gelten, wenn die Nichtrückkehr darauf zurückzuführen ist, dass sich -wie es im Protokolltext heißt- "die Arbeitsausübung" über den Tag hinaus erstreckt; vom Verhandlungsprotokoll nicht erfasst werden mithin diejenigen Fälle, in denen die Arbeitszeit vor Mitternacht endet und der Arbeitnehmer aus anderen beruflichen Gründen auf eine Rückkehr an den Wohnsitz verzichtet. Das entscheidende Abgrenzungskriterium ist demnach, ob der Arbeitnehmer über die Tagesgrenze hinaus seiner Arbeit nachgeht oder ob er -aus beruflichen Gründen- nach getaner Arbeit außerhalb des Ansässigkeitsstaates verbleibt.

Zwar lässt sich nicht von der Hand weisen, dass bei diesem Regelungsverständnis der Anwendungsbereich von Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz in weitem Bereich eingeschränkt wird. Anwendungsfälle für "betriebliche Umstände", durch welche eine schädliche Nichtrückkehr i.S. von Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz ausgelöst wird, sind hiernach nur außergewöhnliche Fälle berufsbedingter Nichtrückkehr nach der eigentlichen Arbeitsausübung, im Wesentlichen nur beruflich bedingte Übernachtungen außerhalb des Ansässigkeitsstaates infolge Reisetätigkeit oder einer mehrtägigen beruflichen Veranstaltung, bei denen eine Rückkehr an den Wohnort ausgeschlossen oder jedenfalls unzumutbar ist (vgl. Brandis in Debatin/Wassermeyer, Doppelbesteuerungsabkommen, Art. 15a Schweiz Rz. 47; Kempermann in Flick/Wassermeyer/Wingert/Kempermann, Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Schweiz, Art. 15a Rz. 35). Die -für die Gesetzesauslegung verbindliche (vgl. Senatsurteil vom 1. Februar 1989 I R 74/86, BFHE 157, 39, BStBl II 1990, 4; Brandis, a.a.O., Art. 15a Schweiz Rz. 2)- Formulierung im Verhandlungsprotokoll gibt gleichwohl mit hinreichender Deutlichkeit zu erkennen, dass diese Einschränkung von den Abkommensbeteiligten gewollt ist. Weder der Abkommens- noch der Protokolltext erzwingen ein anderes Verständnis. Vielmehr ist zu vermuten, dass ein solches andernfalls besonders hervorgehoben worden wäre, etwa wie dies in der in Abschn. II. 2. des Protokolls gegebenen Abkommensdefinition hinsichtlich der zugrunde zu legenden "Arbeitstage" geschehen ist.

Vor diesem Hintergrund kann es entgegen der Ansicht der Kläger nicht darauf ankommen, ob eine tagesübergreifende Arbeitsleistung regelmäßig oder von Fall zu Fall erbracht wird, und ob sie im Arbeitsvertrag vereinbart ist oder nicht. Es wäre im Ergebnis auch nicht einzusehen, weshalb derjenige Arbeitnehmer, dessen Tätigkeit sich nach Maßgabe seines Arbeitsvertrages "über mehrere Tage" zu erstrecken pflegt, abweichend von jenem Arbeitnehmer behandelt werden sollte, der faktisch -ohne ausdrückliche arbeitsvertragliche Verpflichtungen- ähnlichen betrieblichen Zwängen unterworfen ist und sich deshalb faktisch nicht anders verhält. Die Abgrenzungen wären insoweit fließend, wenn nicht unmöglich und in jedem Fall letztlich eher zufällig und beliebig. Im Übrigen bleibt zu berücksichtigen, dass die abkommensrechtlichen Wirkungen des einen wie des anderen Verständnisses der Protokollvereinbarung wechselseitig sind und im Ergebnis nicht zur Benachteiligung Deutschlands oder der Schweiz führen können.

Nach diesen Maßstäben ist die Klägerin als Grenzgängerin zu behandeln. Sie war auf Grund ihrer spezifischen Tätigkeit und Arbeitssituation zumindest tatsächlich gezwungen, wiederholt über Nacht an ihrem Arbeitsort zu verbleiben: Nach der im angefochtenen Urteil vom FG festgestellten Bestätigung ihrer Arbeitgeberin hatte sie "vereinbarungsgemäß" die Betreuung und die Sicherheit der Hotelgäste "rund um die Uhr ... zu gewährleisten" und musste von daher die in Rede stehenden Nachtbereitschaften wahrnehmen. Die Nachtbereitschaft gehörte also, auch wenn sie im jeweiligen Einzelfall unvorhersehbar gewesen sein mag, jedenfalls faktisch beruflichen Tätigkeitsbereich und damit zur "Arbeitsausübung" der Klägerin. Um außergewöhnliche Fälle berufsbedingter Nichtrückkehr handelte es sich sonach nicht.