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  BFH-Urteil vom 10.4.2003 (V R 26/02) BStBl. 2003 II S. 785

Werden nachträglich sowohl steuererhöhende Tatsachen (Umsätze) als auch steuermindernde Tatsachen (Vorsteuerbeträge) bekannt und führen die steuererhöhenden Tatsachen zur Änderung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, so können die steuermindernden Tatsachen sowohl gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 als auch gemäß § 177 AO 1977 zu berücksichtigen sein (Fortentwicklung des Senatsurteils vom 19. Oktober 1995 V R 60/92, BFHE 179, 1, BStBl II 1996, 149).

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, § 177; UStG 1993 § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 15.

Vorinstanz: FG Berlin vom 8. Mai 2001 7 K 7331/00 (EFG 2001, 1259)

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betreibt eine Galerie. Da sie für das Streitjahr (1998) keine Umsatzsteuererklärung abgegeben hatte, schätzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) in dem Umsatzsteuerbescheid 1998 vom 2. Februar 2000 die Besteuerungsgrundlagen unter Anlehnung an die Umsatzsteuer-Voranmeldungen. Das FA setzte Umsätze (zu verschiedenen Steuersätzen) in Höhe von insgesamt 873.000 DM (darauf entfallende Steuer: 87.150 DM) an und berücksichtigte die von der Klägerin in ihren Umsatzsteuer-Voranmeldungen erklärten Vorsteuerbeträge in Höhe von 74.153,46 DM. Daraus ergab sich eine Umsatzsteuer 1998 in Höhe von (gerundet) 12.996 DM. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 11. Mai 2000 reichte die Klägerin die Umsatzsteuererklärung 1998 beim FA ein. Danach betrugen die steuerpflichtigen Umsätze insgesamt 1.412.107 DM (darauf entfallende Steuer: 154.901,14 DM) und die Vorsteuerbeträge 129.185,33 DM.

Daraufhin änderte das FA in einem auf das nachträgliche Bekanntwerden neuer Tatsachen gemäß § 173 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Bescheid vom 25. Juli 2000 die Umsatzsteuerfestsetzung 1998. Es setzte gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 die von der Klägerin erklärten Umsätze mit der darauf entfallenden Steuer in Höhe von 154.901,14 DM an und berücksichtigte nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 Vorsteuerbeträge in Höhe von (nur) 95.159,12 DM nach folgender Berechnung:

"Steuerpflichtige Umsätze lt. Erklärung

1.412.107,00 DM

   
Vorsteuern  
lt. Umsatzsteuerbescheid 1998 vom 02.02.00

74..153,46 DM

   
zuzüglich Differenz geschätzter    
Vorsteuern    
     
zur tatsächlichen Vorsteuer im    
Verhältnis    
der geschätzten Umsätze zu den    
tatsächlich    
steuerpflichtigen Umsätzen:

1.412.107,00 DM

 
     
geschätzte Umsätze:

873.000,00 DM

 
 

-----------------------

 
Differenz:

539.107,00 DM

 
     
= 38,17% nachträglich bekannt    
gewordene Umsätze    
     
Vorsteuer erklärt:

129.185,33 DM

 
     
Vorsteuer geschätzt:

74.153,46 DM

 
     
Differenz = nachträglich    
bekannt gewordene Vorsteuer

55.031,87 DM

 
     
davon 38,17% =  

21.005,66 DM

   

-------------------

tatsächlich abziehbare Vorsteuern  

95.159,12 DM"

   

===========

Dies führte zu einer Umsatzsteuerfestsetzung 1998 in Höhe von 59.742 DM.

Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage statt und ließ - entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung reduzierten Klageantrag - die Berücksichtigung von Vorsteuerbeträgen in Höhe von 123.476,12 DM zu. Das FG berief sich dabei auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 19. Oktober 1995 V R 60/92 (BFHE 179, 1, BStBl II 1996, 149) und legte seiner Entscheidung folgende Berechnung zugrunde:

"Die im Streitjahr erzielten Umsätze in Höhe von

  1.412.107 DM = 100 v.H.  
       
entfallen zu 873.000 DM = 61,82 v.H. auf geschätzte
und zu 539.107 DM = 38,18 v.H. auf

nachträglich bekannt gewordene Umsätze.

Entsprechend dem Anteil der nachträglich bekannt gewordenen Umsätze von 38,18 v.H. sind die mit ihnen in Zusammenhang stehenden Vorsteuerbeträge in Höhe von

38,18 v.H. von 129.185,33 DM = 49.322,96 DM

zusätzlich, insgesamt also 123.476,12 DM" (richtig: 123.476, 42 DM), "zu berücksichtigen".

Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 1259 veröffentlicht.

Mit der Revision, die der Senat durch Beschluss vom 19. Juni 2002 V B 122/01 (BFH/NV 2002, 1354) zugelassen hat, rügt das FA fehlerhafte Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 und Abweichung des FG-Urteils von dem Senatsurteil in BFHE 179, 1, BStBl II 1996, 149.

Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage insoweit als unbegründet abzuweisen, als die Klägerin höhere abziehbare Vorsteuerbeträge als 95.159,12 DM begehrt.

Die Klägerin ist der Revision entgegengetreten. Sie hält die Vorentscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist zurückzuweisen.

Das FG hat zwar - wie das FA mit Recht rügt - § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht richtig angewendet. Die Vorentscheidung ist gleichwohl im Ergebnis richtig, so dass die Revision zurückzuweisen ist (§ 126 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Im Streitfall sind die von der Klägerin mit der Klage begehrten Vorsteuerbeträge gemäß § 177 Abs. 1 AO 1977 zu berücksichtigen.

1. Ein Steuerbescheid ist nach § 173 Abs. 1 AO 1977 zu ändern,

- soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen (Nr. 1),

- soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden (Nr. 2 Satz 1). Das Verschulden ist unbe- achtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln i.S. der Nummer 1 stehen (Nr. 2 Satz 2).

2. Im Streitfall sind nach dem Umsatzsteuer-Schätzungsbescheid für 1998 vom 2. Februar 2000 durch die Umsatzsteuererklärung 1998 der Klägerin vom 11. Mai 2000 nachträglich sowohl Tatsachen bekannt geworden, die zu einer höheren Steuer i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 führen (steuerpflichtige Umsätze) als auch Tatsachen, die i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu einer niedrigeren Steuer führen (Vorsteuerbeträge).

Die von der Klägerin in der Umsatzsteuererklärung angegebenen Umsätze beruhen nur insoweit auf nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, als sie die vom FA in dem Schätzungsbescheid bereits erfassten Umsätze übersteigen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 179, 1, BStBl II 1996, 149, unter II. 2.).

Entsprechendes gilt für die von der Klägerin in der Umsatzsteuererklärung angegebenen Vorsteuerbeträge. Sie beruhen nur insoweit auf nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, als sie die vom FA in dem Schätzungsbescheid bereits erfassten Vorsteuerbeträge (es handelt sich dabei um die vorangemeldeten Vorsteuerbeträge) übersteigen. Nachträglich bekannt geworden sind mithin im Streitfall Vorsteuerbeträge in Höhe von (129.185,33 DM ./. 74.153,46 DM =) 55.031,87 DM.

a) Die nachträglich bekannt gewordenen Vorsteuerbeträge können grundsätzlich nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zugunsten der Klägerin berücksichtigt werden, weil sie im Sinne des Satzes 1 dieser Vorschrift ein grobes Verschulden daran trifft, dass die zugrunde liegenden Tatsachen erst nachträglich bekannt geworden sind (vgl. BFH-Urteil vom 8. August 1991 V R 106/88, BFHE 165, 424, BStBl II 1992, 12, unter II. 2. a).

b) Dieses Verschulden ist aber nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 unbeachtlich, wenn die den nachträglich bekannt gewordenen Vorsteuerbeträgen zugrunde liegenden Tatsachen in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen stehen, die zu einer höheren Steuer führen.

Zwischen nachträglich bekannt gewordenen vorsteuerbelasteten Leistungen an den Unternehmer und nachträglich bekannt gewordenen steuerpflichtigen Umsätzen besteht dieser Zusammenhang nur insoweit, als diese Leistungsbezüge zur Ausführung der nachträglich bekannt gewordenen Umsätze verwendet wurden (vgl. BFH-Urteil in BFHE 179, 1, BStBl II 1996, 149, unter II. 1.). Kann nicht festgestellt werden, dass die nachträglich bekannt gewordenen Leistungsbezüge (unmittelbar) bestimmten nachträglich bekannt gewordenen Umsätzen zuzurechnen sind, ist der Zusammenhang nach dem Verhältnis der geschätzten Umsätze zu den nachträglich erklärten Umsätzen zu ermitteln (vgl. BFH-Urteil in BFHE 179, 1, BStBl II 1996, 149, unter II. 3.).

Das FG ist in der Vorentscheidung zwar hiervon ausgegangen und hat zu Recht erkannt, dass die im Streitjahr erzielten Umsätze in Höhe von 1.412.107 DM mit 539.107 DM, also 38,18 % auf nachträglich bekannt gewordene Umsätze entfallen. Es hat aber diesen Anteil der nachträglich bekannt gewordenen Umsätze von 38,18 % auf sämtliche von der Klägerin in der Umsatzsteuererklärung vom 11. Mai 2000 geltend gemachten Vorsteuerbeträge in Höhe von 129.185,33 DM angewendet, und nicht - wie geboten - nur auf die nachträglich bekannt gewordenen Vorsteuerbeträge in Höhe von (129.185,33 DM ./. 74.153,46 DM =) 55.031,87 DM.

3. Gleichwohl erweist sich das FG-Urteil im Ergebnis als richtig. Denn die mit der Klage begehrten Vorsteuerbeträge sind nach § 177 Abs. 1 AO 1977 zu berücksichtigen.

a) Liegen die Voraussetzungen für die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids zuungunsten des Steuerpflichtigen vor, so sind, soweit die Änderung reicht, zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen solche materiellen Fehler zu berichtigen, die nicht Anlass der Aufhebung oder Änderung sind (§ 177 Abs. 1 AO 1977). Materielle Fehler in diesem Sinne sind alle Fehler einschließlich offenbarer Unrichtigkeiten i.S. des § 129 AO 1977, die zur Festsetzung einer Steuer führen, die von der kraft Gesetzes entstandenen Steuer abweicht (§ 177 Abs. 3 AO 1977).

Zweck des § 177 AO 1977 ist es, eine größere Einzelfallgerechtigkeit zu erreichen; das formale Element der Bestandskraft wird zurückgedrängt, um den objektiv zutreffenden materiellen Besteuerungsgrundlagen möglichst nahe kommen zu können (vgl. BFH-Urteil vom 5. August 1986 IX R 13/81, BFHE 148, 394, BStBl II 1987, 297, unter 2.b.)

Werden nachträglich sowohl steuererhöhende als auch steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel bekannt und führen die steuererhöhenden Tatsachen oder Beweismittel zur Berichtigung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, so sind unabhängig von einem groben Verschulden des Steuerpflichtigen im Rahmen der Änderung die steuermindernden Tatsachen gemäß § 177 AO 1977 zu berücksichtigen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 148, 394, BStBl II 1987, 297; von Wedelstädt in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 177 AO 1977 Rz. 115; Looks/Jünger, Deutsches Steuerrecht 2003, 529).

b) Die Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 AO 1977 liegen im Streitfall vor.

Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 war eine Änderung der ursprünglichen Umsatzsteuersteuerfestsetzung für 1998 vom 2. Februar 2000 zuungunsten der Klägerin durch Ansatz der von ihr erklärten höheren Umsätze mit der darauf entfallenden Steuer in Höhe von nunmehr 154.901,14 DM (vorher: 87.150 DM) gerechtfertigt.

Soweit diese Änderung reicht, also in Höhe von (154.901,14 DM ./. 87.150 DM =) 67.751,14 DM, sind gemäß § 177 Abs. 1 AO 1977 solche materiellen Fehler zu berichtigen, die nicht Anlass der Änderung sind. Zu diesen materiellen Fehlern würde auch die Nichtberücksichtigung der nachträglich von der Klägerin geltend gemachten Vorsteuerbeträge in Höhe von 55.031,87 DM gehören. Der Nichtansatz dieser Vorsteuerbeträge - über deren Abziehbarkeit nach § 15 des Umsatzsteuergesetzes 1993 zwischen den Beteiligten kein Streit besteht - würde zur Festsetzung einer Steuer führen, die von der kraft Gesetzes entstandenen Steuer abweicht (§ 177 Abs. 3 AO 1977).

c) Deshalb ist der (an sich) nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu Lasten der Klägerin anzusetzende Änderungsbetrag von 67.751,14 DM gemäß § 177 Abs. 1 AO 1977 um die nachträglich von der Klägerin geltend gemachten Vorsteuerbeträge in Höhe von 55.031,87 DM zu vermindern. Der Umsatzsteuer-Änderungsbescheid 1998 durfte mithin nur zu einer Steuererhöhung von (67.751,14 DM ./. 55.031,87 DM =) 12.719,27 DM führen.

Allerdings kann die Klägerin die danach gebotene (vollständige) Anerkennung von Vorsteuerbeträgen in Höhe von 129.185,33 DM als Revisionsbeklagte im vorliegenden Verfahren nicht mehr erreichen, weil sie ihren dahin gehenden ursprünglichen Klageantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem FG auf die Berücksichtigung von Vorsteuerbeträgen in Höhe von nur noch 123.476,12 DM eingeschränkt hat.