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  BFH-Urteil vom 23.10.2003 (V R 2/02) BStBl. 2004 II S. 39

Ein Erlass von Nachzahlungszinsen aus sachlichen Gründen kommt nicht in Betracht, wenn die Zinsforderung darauf beruht, dass der Steuerpflichtige nachträglich - aber vor dem 31. Dezember 1995 - auf die Steuerfreiheit eines Umsatzes verzichtet hat.

AO 1977 § 227, § 233a Abs. 1, Abs. 2, Abs. 2 a, Abs. 5; EGAO 1977 Art. 97 § 15 Abs. 8; FGO § 102; UStG 1993 § 4 Nr. 9 Buchst. a, § 9 Abs. 1.

Vorinstanz: FG des Landes Brandenburg vom 12. Dezember 2001 1 K 332/99 AO (EFG 2002, 372)

Sachverhalt

I.

Über das Vermögen der ... GmbH wurde am 30. September 1991 das Gesamtvollstreckungsverfahren eröffnet. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde zum Verwalter bestellt. Er veräußerte durch notariellen Vertrag vom 7. Januar 1992 die Betriebsstätte der GmbH in Z. Der Kaufpreis betrug 900.000 DM. Die Umsatzsteuer in gesetzlicher Höhe sollte hinzukommen, soweit sie zu entrichten sei.

Unter dem 10. Juli 1995 erteilte der Kläger der Erwerberin der Betriebsstätte eine Rechnung, in der er ausgehend von einem "Netto-Kaufpreis" von 900.000 DM und 8.150 DM "hälftiger Grunderwerbsteuer" Umsatzsteuer in Höhe von 127.141 DM gesondert auswies.

Daraufhin änderte das damals zuständige Finanzamt (FA) A durch Bescheid vom 1. August 1995 den unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Umsatzsteuerbescheid 1992, erhöhte die Umsatzsteuer 1992 um 127.141 DM und setzte deswegen gegen den Kläger Zinsen gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO 1977) in Höhe von 10.168 DM fest. Dabei ging das FA A von einem zu verzinsenden Betrag von 127.100 DM und von einer Zinslaufzeit vom 1. April 1994 bis 4. August 1995 aus.

Am 31. August 1995 beantragte der Kläger den Erlass der festgesetzten Nachzahlungszinsen gemäß § 227 AO 1977 aus sachlichen Billigkeitsgründen, weil ein Zinsvorteil, der durch Nachzahlungszinsen abgeschöpft werden könne, nicht entstanden sei; er habe als Verkäufer der Betriebsstätte Z die im Jahr 1995 abgeführte Umsatzsteuer im Jahr 1992 von der Erwerberin nicht erhalten.

Durch Bescheid vom 6. Oktober 1995 lehnte das FA A den beantragten Erlass ab. Den Einspruch des Klägers wies der mittlerweile zuständig gewordene Beklagte und Revisionskläger (das FA B - FA -) durch Einspruchsentscheidung vom 18. Januar 1999 als unbegründet zurück.

Das Finanzgericht (FG) gab der daraufhin erhobenen Klage statt. Es führte zur Begründung im Wesentlichen aus (vgl. Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2002, 372):

Die Ablehnung des Erlassantrages sei rechtswidrig. Das FA habe bei seiner gemäß § 227 AO 1977 zu treffenden Ermessensentscheidung nicht erkannt, dass ein Fall der sog. Ermessensreduzierung auf null vorliege, der zum Erlass der festgesetzten Nachzahlungszinsen führen müsse. Die Festsetzung der Nachzahlungszinsen im geänderten Umsatzsteuerbescheid 1992 vom 1. August 1995 entspreche zwar dem Wortlaut des Gesetzes; sie sei aber im vorliegenden Fall nach dem Zweck des § 233a AO 1977 nicht zu rechtfertigen und laufe dessen Wertungen zuwider, weil der Kläger während der Zinslaufzeit des § 233a AO 1977 keinen möglichen Zinsvorteil gehabt habe. Denn die auf den fraglichen Umsatz entfallende Steuer sei "tatsächlich und wirtschaftlich" erst mit der Ausübung des in § 9 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG) "festgeschriebenen Optionsrechts im Jahre 1995 manifest und zahlbar geworden". Im Streitfall sei die 1992 erbrachte Leistung zunächst gemäß § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG 1991 als unter das Grunderwerbsteuergesetz (GrEStG) fallender Umsatz von der Umsatzsteuer befreit gewesen. Das heiße, "dass bis zum - rechtlich zurückwirkenden Ausspruch des Verzichts auf die Steuerbefreiung gemäß § 9 UStG faktisch keine Steuer entstanden (sei), der Kläger also zur Zahlung einer Umsatzsteuer auf diesen Umsatz überhaupt nicht verpflichtet und fähig (gewesen sei)".

Dieser Beurteilung der Festsetzung von Nachzahlungszinsen als unbillig stehe - anders als in der Einspruchsentscheidung angenommen - die in Art. 97 § 15 Abs. 8 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 - (BGBl I 1996, 2049, 2075, BStBl I 1996, 1523, 1549) getroffene Regelung nicht entgegen. Sie bestimme lediglich den zeitlichen Anwendungsbereich des durch das Jahressteuergesetz (JStG) 1997 neu eingeführten § 233a Abs. 2 a AO 1977. Dass der Gesetzgeber diese Neuregelung nicht für "Altfälle" vorgesehen habe, hindere eine Billigkeitsentscheidung nicht.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA unzutreffende Anwendung des § 227 AO 1977.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist der Revision entgegengetreten.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Der Senat vermag der Auffassung des FG nicht zu folgen, der Kläger habe einen Anspruch auf Erlass der gegen ihn im Bescheid vom 1. August 1995 festgesetzten Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer 1992.

1. Gemäß § 227 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch die Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen wie die hier angegriffenen Zinsfestsetzungen (§ 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3 AO 1977).

Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme ist eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den durch § 102 FGO gezogenen Grenzen nachprüfbar ist. Diese Nachprüfung der Erlassablehnung ist darauf beschränkt, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Nur im Falle einer sog. Ermessensreduzierung auf null kann das Gericht eine Verpflichtung der Finanzbehörde zum Erlass aussprechen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 11. Juli 1996 V R 18/95, BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259).

2. Das FG hat nach diesem Prüfungsmaßstab zu Unrecht eine Verletzung des Ermessens bejaht und das FA zu dem vom Kläger beantragten Erlass verurteilt.

a) Unbilligkeit aus sachlichen Gründen i.S. des § 227 AO 1977 ist gegeben, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (BFH-Urteil vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297). Härten, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Vorschrift bewusst in Kauf genommen hat, stehen jedoch dem Erlass entgegen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom 5. Juni 1996 X R 234/93, BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503; vom 20. Januar 1997 V R 28/95, BFHE 183, 353, BStBl II 1997, 716, m.w.N.).

Diese Grundsätze gelten auch für den Erlass festgesetzter Zinsen nach § 233a AO 1977 (vgl. BFH-Urteil vom 16. August 2001 V R 72/00, BFH/NV 2002, 545, m.w.N.).

b) Im Streitfall widerspricht die Festsetzung der Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer 1992 nicht den der Verzinsungsregelung des § 233a AO 1977 zugrunde liegenden Wertungen. Das ergibt sich - entgegen der Ansicht des FG - aus § 233a Abs. 2 a AO 1977 i.V.m. Art. 97 § 15 Abs. 8 EGAO 1977.

aa) Nach der im Streitfall anzuwendenden Fassung des § 233a AO 1977 ist eine Steuernachforderung, die sich aus einer Umsatzsteuer-Festsetzung ergibt, gemäß § 233a Abs. 1 Satz 1 AO 1977 zu verzinsen. Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist (§ 233a Abs. 2 Satz 1 AO 1977), hier für die Umsatzsteuer 1992 also am 1. April 1994. Wird die Umsatzsteuerfestsetzung - wie im Streitfall - geändert, ist der Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Steuer und der vorher festgesetzten Steuer maßgebend für die Zinsberechnung (§ 233a Abs. 5 Sätze 1 und 2 AO 1977).

Zweck der Regelungen in § 233a AO 1977 ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (Begründung zum Gesetzentwurf, BTDrucks 11/2157, S. 194). Liquiditätsvorteile, die dem Steuerpflichtigen oder dem Fiskus aus dem verspäteten Erlass eines Steuerbescheids typischerweise entstanden sind, sollen mit Hilfe der sog. Vollverzinsung ausgeglichen werden. Ob die möglichen Zinsvorteile tatsächlich gezogen worden sind, ist grundsätzlich unbeachtlich (vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1998 IV R 69/97, BFHE 187, 198).

bb) Im Streitfall beruht die nachträgliche Erhöhung der für 1992 festgesetzten Umsatzsteuer darauf, dass der Kläger erst im Jahr 1995 auf die Steuerfreiheit der 1992 ausgeführten Grundstückslieferung verzichtet hat (§ 4 Nr. 9 Buchst. a i.V.m. § 9 Abs. 1 UStG). Denn der Kläger hat in der Rechnung vom 10. Juli 1995 Umsatzsteuer über diesen Umsatz in Höhe von 127.141 DM ausgewiesen. Dadurch hat er die Grundstückslieferung als steuerpflichtigen Umsatz behandelt (vgl. BFH-Urteil vom 25. Januar 1996 V R 42/95, BFHE 179, 480, BStBl II 1996, 338, m.w.N.). Der Verzicht auf die Steuerfreiheit bewirkte rückwirkend, dass der Umsatz steuerpflichtig ist (vgl. BFH-Urteil vom 28. November 2002 V R 54/00, BFHE 200, 38, BStBl II 2003, 175, unter II. 2.).

cc) § 233a Abs. 2 a AO 1977 ist im Streitfall nicht anwendbar. Die Vorschrift lautet (soweit hier von Bedeutung): "Soweit die Steuerfestsetzung auf der Berücksichtigung eines rückwirkenden Ereignisses (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2) ... beruht, beginnt der Zinslauf abweichend von Absatz 2 Satz 1 und 2 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem das rückwirkende Ereignis eingetreten ... ist."

§ 233a Abs. 2 a AO 1977 ist durch das JStG 1997 in § 233a AO 1977 eingefügt worden. Die Vorschrift gilt gemäß Art. 97 § 15 Abs. 8 EGAO 1977 in allen Fällen, in denen das rückwirkende Ereignis nach dem 31. Dezember 1995 eingetreten ist. Sie ist im Streitfall nicht anwendbar. Denn der Kläger hat nicht erst nach dem 31. Dezember 1995, sondern bereits im Jahr 1995 die 1992 ausgeführte Grundstückslieferung als steuerpflichtig behandelt.

Im Übrigen wirkt der nachträgliche Verzicht auf die Steuerfreiheit einer Grundstückslieferung zwar zurück, ist aber kein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 233a Abs. 2 a AO 1977 (vgl. BFH-Urteil in BFHE 200, 38, BStBl II 2003, 175).

dd) Aus dieser Nichtanwendbarkeit des § 233a Abs. 2 a AO 1977 im Streitfall folgt, dass - wie das FA in der Einspruchsentscheidung zutreffend ausgeführt hat - auch ein Billigkeitserlass ausscheidet.

Denn durch die Anwendungsregelung in Art. 97 § 15 Abs. 8 EGAO 1977 hat der Gesetzgeber klargestellt, dass Steuernachforderungen, die auf vor diesem Stichtag (31. Dezember 1995) eingetretenen rückwirkenden Ereignissen beruhen, nicht nach § 233a Abs. 2 a AO 1977, sondern ausschließlich nach § 233a Abs. 2 AO 1977 zu verzinsen sind (vgl. BFH-Urteil vom 27. Januar 1998 VIII R 47/96, BFHE 185, 563, BStBl II 1998, 498).

Der Gesetzgeber hat mithin das Problem der Verzinsung einer Steuernachforderung bei nachträglicher Erhöhung der Steuerschuld aufgrund eines rückwirkenden Ereignisses gesehen und nur für bestimmte Fälle geregelt. Damit hat er ersichtlich bei den nicht geregelten Fällen die damit verbundenen Härten in Kauf genommen. Insoweit kommt auch kein Billigkeitserlass in Betracht (vgl. BFH-Urteil vom 9. September 1994 III R 17/93, BFHE 175, 395, BStBl II 1995, 8; Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 233a AO 1977 Rz. 32). Andernfalls würde durch eine Billigkeitsmaßnahme der Wille des Gesetzgebers unterlaufen.

3. Aus dem Senatsurteil in BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259 - auf das sich das FG gestützt hat - ergibt sich nichts anderes.

Nach diesem Urteil ist zwar für den durch § 233a AO 1977 bezweckten "Ausgleich" dann kein Raum, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Steuerpflichtige durch eine verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil oder Nachteil hatte (vgl. BFH-Urteil in BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259, unter II. 2. c). Dieses Urteil betraf aber einen anderen Sachverhalt. Es bejahte die Voraussetzungen für einen Erlass der Zinsen u.a. deshalb, weil der Erstattungsanspruch dadurch später entstand als der Zahlungsanspruch des FA, dass das FA den Rückforderungsbescheid vor dem den Erstattungsanspruch begründenden Bescheid erlassen hatte, und die zeitliche Folge zufällig war.

Im Streitfall dagegen liegt mit § 233a Abs. 2 a AO 1977 i.V.m. Art. 97 § 15 Abs. 8 EGAO 1977 eine erkennbare Wertung des Gesetzgebers vor, die einem Billigkeitserlass entgegensteht.

Es ist deshalb unerheblich, ob der Kläger in dem Zeitraum von Ausführung des - zunächst steuerfreien - Umsatzes bis zur Änderung der Umsatzsteuer 1992 durch Bescheid vom 1. August 1995 Zins- oder Liquiditätsvorteile gehabt hat.