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  BFH-Urteil vom 14.7.2004 (IX R 13/01) BStBl. 2005 II S. 125

1. Hat das FA trotz der nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 eingetretenen Verfahrensruhe eine Einspruchsentscheidung erlassen, so kommt eine isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung durch das FG dann nicht in Betracht, wenn der Kläger vor dem FG über die Aufhebung der Einspruchsentscheidung hinaus eine materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache beantragt.

2. Aufgrund des Urteils des BVerfG vom 9. März 2004 2 BvL 17/02 (HFR 2004, 471) sind in den Jahren 1997 und 1998 entstandene Spekulationsverluste aus Wertpapiergeschäften steuerrechtlich nicht zu berücksichtigen.

AO 1977 § 363 Abs. 2 Satz 2; EStG 1997 § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b, Abs. 3.

Vorinstanz: Thüringer FG vom 13. Dezember 2000 III 1121/00 (EFG 2001, 447)

Sachverhalt

I.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) werden als Eheleute zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Sie erzielten im Streitjahr (1998) neben Einkünften aus Gewerbebetrieb, selbständiger und nicht selbständiger Arbeit Spekulationsverluste aus Wertpapiergeschäften von insgesamt 30.698 DM. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) lehnte es ab, die Spekulationsverluste im Streitjahr einkommensmindernd zu berücksichtigen.

Im anschließenden Einspruchsverfahren beriefen sich die Kläger auf den Beschluss des Finanzgerichts (FG) Düsseldorf vom 13. September 1999 17 V 4480/99 A (E) (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1999, 1128) und beantragten hilfsweise das Ruhen des Einspruchsverfahrens. Mit diesem Beschluss hatte das FG Düsseldorf aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 30. September 1998 2 BvR 1818/91 (BVerfGE 99, 88), der zur Verlustberücksichtigung gemäß § 22 Nr. 3 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes in der bis einschließlich 1998 geltenden Fassung (EStG a.F.) ergangen war, auch ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a.F. hergeleitet und die Vollziehung ausgesetzt (Ausgangsverfahren zum späteren Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 15. Dezember 2000 IX B 128/99, BFHE 194, 157, BStBl II 2001, 411). Das FA ging davon aus, dass das Einspruchsverfahren nicht nach § 363 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) ruhte und wies den Einspruch zurück.

Im Klageverfahren machten die Kläger geltend, das Verbot der Verrechnung von Spekulationsverlusten sei verfassungswidrig. Das FG müsse diese Rechtsfrage gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) dem BVerfG vorlegen. Ferner rügten sie die Verletzung des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 durch das FA. Das Einspruchsverfahren habe geruht; das FA habe die Einspruchsentscheidung nicht erlassen dürfen.

Das FG wies die Klage ab (Urteil vom 13. Dezember 2000 III 1121/00, EFG 2001, 447). Nach seiner Auffassung bestanden auch vor dem Hintergrund des zu § 22 Nr. 3 Satz 3 EStG a.F. ergangenen Beschlusses des BVerfG in BVerfGE 99, 88 gegen § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a.F. keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Durch die Rechtsprechung des BFH, nach der Werbungskosten bei der Ermittlung der Spekulationseinkünfte auch dann berücksichtigt werden, wenn sie bereits in vorangegangenen Veranlagungszeiträumen abgeflossen sind (BFH-Urteil vom 17. Juli 1991 X R 6/91, BFHE 165, 85, BStBl II 1991, 916), werde das Verbot des Verlustausgleichs und -abzugs ausreichend gemildert. Außerdem sei § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a.F. durch Typisierungsaspekte zu rechtfertigen (unter Berufung auf Kirchhof, in: Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, § 2 Rn. B 105 f.).

Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügen die Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das FG habe zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass das FA gegen § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 verstoßen habe. Das FG hätte die Einspruchsentscheidung isoliert aufheben müssen. Im Übrigen sei § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a.F. verfassungswidrig. Die Grundsätze des BVerfG-Beschlusses in BVerfGE 99, 88 seien im Streitfall anwendbar. Diese Frage müsse gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorgelegt werden.

Das Urteil des BVerfG vom 9. März 2004 2 BvL 17/02 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 2004, 471) stehe einer Berücksichtigung der Spekulationsverluste im Streitfall nicht entgegen. Das BVerfG habe nur über das Vollzugsdefizit, aber nicht über das Verlustverrechnungsverbot entschieden. Im Übrigen müsse gemäß § 176 Abs. 1 AO 1977 Vertrauensschutz gewährt werden; dieser sei auch verfassungsrechtlich verankert.

Die Kläger beantragen, das Urteil des FG und die Einspruchsentscheidung des Beklagten aufzuheben, hilfsweise, die Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a.F. festzustellen und diese Rechtsfrage gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem BVerfG vorzulegen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet. Sie ist gemäß § 126 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

1. Die Vorentscheidung ist nicht aufgrund eines Verfahrensfehlers aufzuheben. Das FG hat keinen Verfahrensfehler begangen, indem es, statt die Einspruchsentscheidung des FA isoliert aufzuheben, eine Entscheidung in der Sache traf.

a) Allerdings hat im Streitfall gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 das Einspruchsverfahren zunächst geruht, weil die Kläger sich auf den Beschluss des FG Düsseldorf in EFG 1999, 1128 berufen hatten, der dem Beschluss des BFH in BFHE 194, 157, BStBl II 2001, 411 voranging. Während des Einspruchsverfahrens war das Beschwerdeverfahren vor dem BFH bereits anhängig.

b) Es bedarf im Streitfall keiner Entscheidung, ob - gemessen am Zweck des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 - während der Anhängigkeit des Beschwerdeverfahrens IX B 128/99 beim BFH die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens und der Erlass einer Einspruchsentscheidung durch das FA ermessensfehlerhaft waren (so FG Münster, Beschluss vom 4. Mai 2000 3 K 8622/97 VSt, EFG 2000, 911; vgl. auch Niedersächsisches FG, Beschluss vom 20. August 1998 I 76/98, Juris-Dok.-Nr. STRE997058970), oder ob § 363 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 die Finanzbehörden ermächtigt, das Einspruchsverfahren auch dann fortzusetzen, wenn an sich das Ruhen des Verfahrens ohne ein Eingreifen der Behörde noch andauern würde (so beiläufig BFH-Beschlüsse vom 25. November 2003 II B 68/02, BFH/NV 2004, 462; vom 6. Juli 1999 IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587).

Jedenfalls folgt aus der Vorschrift des § 363 Abs. 3 AO 1977, nach der u.a. die Rechtswidrigkeit des Widerrufs der Verfahrensruhe durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden kann, dass es in derartigen Fällen zu einer isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung kommen kann (Klein/Brockmeyer, Abgabenordnung, 8. Aufl. 2003, § 363 Rz. 29; Szymczak in Koch/Scholz, Abgabenordnung, 5. Aufl. 1996, § 363 Rz. 10/6).

c) Eine isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung durch das FG kommt indes dann nicht in Betracht, wenn der Kläger vor dem FG über die Aufhebung der Einspruchsentscheidung hinaus eine materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache beantragt. Dann hat das FG über diesen Antrag zu entscheiden (vgl. § 40 Abs. 2, § 65 Abs. 1 Sätze 2 und 3, § 96 Abs. 1 FGO).

d) Im Streitfall haben die Kläger zwar auch vor dem FG gerügt, das FA habe wegen der nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 eingetretenen Verfahrensruhe keine Einspruchsentscheidung erlassen dürfen. Der Schwerpunkt ihres Klagebegehrens lag indes darauf, dass § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a.F. nach den Maßstäben der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 99, 88 verfassungswidrig sei. Sie haben es ausdrücklich als geboten bezeichnet, dass das FG diese Rechtsfrage gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem BVerfG vorlegt. Mit Rücksicht auf dieses Klagebegehren, das die Kläger vor dem FG - anders als im Revisionsverfahren - nicht als Hilfsantrag formuliert haben, war das FG nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, eine materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache zu treffen.

2. Das FG hat zwar das Verlustausgleichs- und -abzugsverbot des § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a.F. zu Unrecht für verfassungsgemäß gehalten, jedoch stellt sich seine Entscheidung im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig dar (§ 126 Abs. 4 FGO). Der von den Klägern begehrte Verlustausgleich kommt im Streitfall deshalb nicht in Betracht, weil das BVerfG mit Urteil in HFR 2004, 471 die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 für nichtig erklärt hat, soweit sie Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft.

a) Wie der Senat in seinem Urteil vom 1. Juni 2004 IX R 35/01 (BFH/NV 2004, 1180) entschieden hat, ist § 23 EStG a.F. nach den Maßstäben des BVerfG-Beschlusses in BVerfGE 99, 88 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Gleichwohl kommt eine Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht in Betracht. Vielmehr sind für Verluste aus Spekulationsgeschäften i.S. von § 23 EStG in den für die Jahre vor 1999 geltenden Fassungen, soweit diese Vorschriften auch unter Berücksichtigung des Urteils des BVerfG in HFR 2004, 471 anwendbar bleiben, in den noch offenen Altfällen die allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Regelungen über Verlustausgleich und Verlustabzug anzuwenden.

Für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 - und mithin auch im Streitfall - ist die Vorschrift des § 23 EStG a.F., soweit sie Wertpapiergeschäfte erfasst, nicht mehr anwendbar, weil das BVerfG sie insoweit für nichtig erklärt hat. Die Nichtigerklärung durch das BVerfG hat zur Folge, dass die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG a.F. insoweit weggefallen ist. Die Erfüllung der Voraussetzungen dieses Steuertatbestands bildet die Grundlage für die Ermittlung der Einkünfte aus Wertpapierspekulationsgeschäften gemäß § 23 Abs. 3 EStG a.F. Nach Wegfall des Steuertatbestandes ist mithin nicht nur für den Ansatz von Spekulationsgewinnen, sondern auch von Spekulationsverlusten keine Rechtsgrundlage mehr vorhanden.

b) Entgegen der Auffassung der Kläger folgt eine andere Beurteilung nicht aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes.

aa) Die Vorschrift des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 ist nicht anwendbar, weil sie nur die Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden begrenzt. Im Streitfall geht es hingegen um die Rechtmäßigkeit des vom FA erlassenen Erstbescheids.

bb) Der Streitfall gibt keinen Anlass, zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen - über den Anwendungsbereich des § 176 AO 1977 hinaus - das Vertrauen in ein später vom BVerfG für nichtig erklärtes Gesetz schutzwürdig ist (vgl. Hey, Vertrauen in das fehlerhafte Steuergesetz, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft Bd. 27, 2004, S. 91 ff.). Das Gesetz bildete im Zeitpunkt der von den Klägern im Streitjahr (1998) getätigten Wertpapiergeschäfte für den später begehrten Verlustausgleich schon deshalb keine Vertrauensgrundlage, weil der Verlustausgleich nach § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a.F. ausdrücklich ausgeschlossen war und erst nach dem zu § 22 Nr. 3 Satz 3 EStG a.F. ergangenen Beschluss des BVerfG in BVerfGE 99, 88 die Diskussion einsetzte, ob diese Entscheidung des BVerfG auf die Berücksichtigung von Spekulationsverlusten übertragbar sei.