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BFH-Beschluss vom 18.8.2005 (VI R 123/94) BStBl. 2006 II S. 39

Hat ein Steuerpflichtiger nach einer Entscheidung des BVerfG für die Vergangenheit einen verfassungswidrigen Rechtszustand hinzunehmen und wird deshalb ein Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, so entspricht es regelmäßig billigem Ermessen, dem FA die Verfahrenskosten auch insoweit aufzuerlegen, als der Steuerpflichtige bezüglich des verfassungswidrigen Sonderopfers nicht hat obsiegen können.

FGO § 143 Abs. 1, § 138 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1.

Vorinstanz: Hessisches FG vom 16. Januar 1990 7 K 5430/88

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zusammen veranlagte Eheleute, die im Klageverfahren die Aufhebung des Einkommensteuerbescheides 1987 wegen nicht ordnungsgemäßer Bekanntgabe sowie einen höheren Grundfreibetrag und einen höheren Kinderfreibetrag begehrt haben. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen, da der Einkommensteuerbescheid ordnungsgemäß bekannt gegeben worden sei und der vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) angesetzte Grundfreibetrag und der Kinderfreibetrag der Verfassung entsprochen hätten.

Die Geschäftsstelle des Senats hat nach Ergehen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Familienleistungsausgleich und nach In-Kraft-Treten des § 53 des Einkommensteuergesetzes (EStG) beim FA angefragt, ob eine Änderung des Einkommensteuerbescheides in Betracht komme und ob der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt werde. Nach Erlass eines Änderungsbescheides, der zu einer weiteren Erstattung in Höhe von 174 DM (88,96 €) geführt hat, haben die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt.

Nachdem die Beteiligten übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, war nur noch über die Kosten des erledigten Rechtsstreits zu entscheiden.

Entscheidungsgründe

1. Revisionsverfahren

Die Kosten des Revisionsverfahrens waren dem FA aufzuerlegen, da sich der Rechtsstreit dadurch erledigt hat, dass dem Revisionsbegehren durch Änderung des Einkommensteuerbescheides stattgegeben worden ist (§ 138 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Kläger haben zwar insoweit keinen bezifferten Antrag gestellt und auch keine Revisionsbegründung abgegeben.

Ihr Begehren ging aber erkennbar dahin, durch die Revision den Fall offen zu halten, um nach einer Entscheidung des BVerfG zum Familienleistungsausgleich ihre Rechte auf der Grundlage der BVerfG-Entscheidung wahren zu können.

Das FA hat nach Ergehen der Entscheidungen des BVerfG und nach In-Kraft-Treten der Vorschrift des § 53 EStG den angefochtenen Einkommensteuerbescheid zugunsten der Kläger geändert. Damit waren die Kläger mit ihrem Revisionsbegehren erfolgreich, so dass die Kosten des erledigten Rechtsstreits dem FA in vollem Umfang aufzuerlegen waren.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren beläuft sich auf 174 DM/88 €.

2. Klageverfahren

Die Kosten des Klageverfahrens werden dem FA auferlegt, soweit es den Klägern um einen verfassungsgemäßen Kinderleistungsausgleich ging; im Übrigen tragen die Kläger die Kosten.

a) Das BVerfG hat durch Beschluss vom 10. November 1998 2 BvL 42/93 (BVerfGE 99, 246, BStBl II 1999, 174) entschieden, dass das sozialrechtlich definierte Existenzminimum zugleich die Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum bildet, welches nicht unterschritten werden darf und das für alle Steuerpflichtigen unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen ist (sächliches Existenzminimum). Im Anschluss an den Beschluss des Senats vom 29. Januar 1999 VI R 176/90 (BFHE 188, 48, BStBl II 1999, 233) hat der Gesetzgeber durch § 53 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I 1999, 2552, BStBl I 2000, 4) für sämtliche noch nicht formell bestandskräftigen oder hinsichtlich der Kinderfreibeträge für vorläufig erklärten Einkommensteuerfestsetzungen der Jahre 1983 bis 1995 die Folgerungen aus dem Beschluss des BVerfG gezogen und insoweit einen verfassungsgemäßen Rechtszustand herbeigeführt.

Durch die im Hinblick auf § 53 EStG erfolgte Änderung des Einkommensteuerbescheides ist das tatsächliche Existenzminimum der Kläger verfassungsgemäß berücksichtigt worden. Die Kläger waren insoweit erfolgreich, so dass die Kosten des Klageverfahrens gemäß § 138 Abs. 2 FGO insoweit auch dem FA aufzuerlegen waren.

b) Durch Beschluss vom 10. November 1998 2 BvR 1057, 1226, 980/91 (BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182) hat das BVerfG entschieden, dass § 33c Abs. 1 bis 4 EStG seit seiner Einführung durch Art. 3 Nr. 19 des Steuerbereinigungsgesetzes 1985 (StBereinG 1985) vom 14. Dezember 1984 (BGBl I 1984, 1493, BStBl I 1984, 659) einschließlich aller nachfolgenden Fassungen mit dem Grundgesetz (GG) unvereinbar ist, soweit die in ehelicher Gemeinschaft lebenden, unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Eltern vom Abzug der Kinderbetreuungskosten wegen Erwerbstätigkeit ausgeschlossen sind (Betreuungsbedarf).

Ferner wurde § 32 Abs. 3 EStG bzw. später § 32 Abs. 7 EStG insoweit mit dem GG für unvereinbar erklärt, soweit die in ehelicher Gemeinschaft lebenden unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Eltern von der Gewährung des Haushaltsfreibetrags ausgeschlossen sind (Erziehungsbedarf).

Zum Betreuungsbedarf hat das BVerfG ausgeführt, dass dieser unabhängig von Krankheit, Behinderung oder Erwerbstätigkeit der Eltern besteht und dass er auch nicht von der Art und Weise der Erbringung der Betreuungsleistung abhängt. Bei einer zum 1. Januar 2000 angemahnten Neuregelung werde der Gesetzgeber - so das BVerfG - "eine gleiche betreuungsbedingte Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit bei allen Eltern - unabhängig von der Art der Betreuung und von konkreten Aufwendungen - zu berücksichtigen und dementsprechend den Kinderfreibetrag oder das Kindergeld zu erhöhen haben" (BVerfG in BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, 191, li. Sp. unter C. I. der Entscheidungsgründe).

Zum Erziehungsbedarf, der die Aufwendungen der Eltern für die persönliche Entfaltung und Entwicklung der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung des Kindes betrifft, hat das BVerfG ausgeführt, dieser werde zwar im Haushaltsfreibetrag im rechnerischen Ergebnis abgedeckt; es bleibe aber "außer Betracht, dass alle Eltern diesen Mehrbedarf des Kindes zu befriedigen haben. Der Gesetzgeber muss deshalb bei der gebotenen Neugestaltung des Kinderleistungsausgleichs (Zitate) diesen Erziehungsbedarf des Kindes unabhängig vom Familienstand bei allen Eltern, die einen Kinderfreibetrag oder ein Kindergeld erhalten, berücksichtigen" (BVerfG in BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, 191, unter C. II. der Entscheidungsgründe).

c) Der Gesetzgeber hat in Erfüllung dieses vom BVerfG gestellten Auftrages zunächst in § 32 Abs. 6 EStG in der ab 1. Januar 2000 geltenden Fassung angeordnet, dass neben dem sächlichen Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag in Höhe von 3.456 DM) zusätzlich ein Betreuungsfreibetrag in Höhe von 1.512 DM für jedes Kind, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder behindert ist, vom Einkommen abgezogen werden kann.

Ab 1. Januar 2002 gilt neben der Freistellung des sächlichen Existenzminimums durch den Kinderfreibetrag in Höhe von (bisher) 1.824 €/3.456 DM, ein weiterer Freibetrag von 1.080 € (entspricht 2.212 DM) für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes. Dieser weitere Freibetrag ist nicht mehr an die Altersgrenze von 16 Jahren geknüpft, gilt somit für alle Kinder, für die ein Kinderfreibetrag gewährt wird.

d) Die Kläger sind hinsichtlich des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs steuerlich nicht entlastet worden; ihnen ist durch die Entscheidungen des BVerfG insoweit ein Sonderopfer auferlegt worden, denn sie mussten - so die Entscheidungen des BVerfG - den insoweit bestehenden verfassungswidrigen Rechtszustand für die Vergangenheit hinnehmen. Es entspricht billigem Ermessen, dem FA die Kosten des Klageverfahrens aufzuerlegen, soweit der gesamte o.a. Kinderleistungsausgleich streitig war.

Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 29. April 2003 VI R 140/90, BFHE 202, 49, BStBl II 2003, 719) muss sich die nach billigem Ermessen zu treffende Kostenentscheidung nicht ausschließlich am Gedanken des materiellen Kostenrechts orientieren, also daran, wer bei einer Entscheidung über die Hauptsache die Kosten zu tragen hätte. Dem Gericht ist vielmehr ein weiter Spielraum eingeräumt, innerhalb dessen eine Ausrichtung am allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden maßgebend ist (ausführlich Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. November 1971 I B 14/70, BFHE 104, 39, BStBl II 1972, 222; vgl. auch Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 138 FGO Tz. 71). Dabei kann auch der Frage Bedeutung zukommen, welcher der Beteiligten Veranlassung zum gerichtlichen Verfahren gegeben hat. Letztlich geht es bei der nach billigem Ermessen zu treffenden Kostenentscheidung darum, dass die streitschlichtende und friedenstiftende Funktion des Gerichtsverfahrens weitestmöglich zum Tragen kommt und dem in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Gebot eines wirksamen und ausgewogenen Rechtsschutzes insbesondere auch bei verfassungsrechtlichen Streitfragen entsprochen wird, um damit dem Bürger einerseits Schutz vor staatlichen Entscheidungen zu gewähren und andererseits bei ihm die Akzeptanz für staatliche Entscheidungen zu fördern (dazu Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rz. 1-5).

Im Streitfall steht fest, dass den Klägern ein Sonderopfer dadurch auferlegt worden ist, dass der Gesetzgeber vom BVerfG verpflichtet worden ist, nur für die Zukunft einen verfassungskonformen Rechtszustand herzustellen. Es würde jedoch allgemeinem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, vom Bürger einen verfassungswidrigen Steuerbetrag zu fordern, was für sich gesehen schon eine schwer einsehbare Rechtsfolge ist (siehe auch Habscheid, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, Köln 2003, Dissertation; Seer, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1996, 285, 289 ff.; ders., Steuer und Wirtschaft - StuW - 2001, 1, 14 ff.; Drüen, Finanz-Rundschau - FR - 1999, 289 ff.; Sangmeister, StuW 2001, 168, 176 f.; Tipke, StuW 2004, 187), und ihn auch noch mit den Kosten des Gerichtsverfahrens zu belasten, obwohl dieses Gerichtsverfahren bestätigt hat, dass die verfassungsrechtlichen Zweifel des Bürgers berechtigt waren, er somit mit seiner Klage Erfolg gehabt hätte, wenn das BVerfG die Unvereinbarkeit des Steuergesetzes mit der Verfassung nicht nur für die Zukunft ausgesprochen hätte.

e) Mit dieser Entscheidung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des III. Senats. Seit dem Beschluss vom 18. März 1994 III B 543/90 (BFHE 173, 506, BStBl II 1994, 473) vertritt der III. Senat die Auffassung, dass dem FA die Kosten eines Rechtsstreits in der Regel dann nicht auferlegt werden könnten, wenn das BVerfG entscheidet, eine von ihm für verfassungswidrig erklärte gesetzliche Regelung sei erst für die Zukunft neu zu gestalten. Die Entscheidung des III. Senats wird von folgender Besonderheit bestimmt (s. unter II. 3. d, BStBl II 1994, 473, 476, re. Sp.): "Da das BVerfG eine gesetzliche Neuregelung (abgesehen von der Vermeidung von gleichheitswidrigen Progressionssprüngen) nur insoweit aufgegeben hat, als das sozialhilferechtliche Existenzminimum besteuert worden ist, hätte das von dem Kläger angestrengte Klageverfahren im Übrigen vermutlich selbst dann keinen Erfolg gehabt, wenn das Bundesverfassungsgericht die Neuregelung rückwirkend statt nur für die Zukunft angeordnet hätte. ... Selbst bei einer rückwirkenden Regelung hätten daher nur die Klageverfahren derjenigen Steuerpflichtigen Erfolg gehabt, deren besteuertes Einkommen nicht erheblich über dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum lag."

Der III. Senat interpretiert die Entscheidung des BVerfG dahin, dass nur eine Besteuerung in das Existenzminimum hinein verfassungswidrig ist. Dies wird gestützt durch den weiteren Beschluss des III. Senats vom 18. März 1994 III B 222/90 (BFHE 173, 494, BStBl II 1994, 520). Danach sind nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen dem FA die Kosten des erledigten Rechtsstreits aufzuerlegen, wenn dem Kläger nach der Besteuerung ein geringeres Einkommen als das sozialrechtliche Existenzminimum verblieben ist und das FA einen während des Rechtsstreits gestellten Antrag des Klägers auf Ruhen des Verfahrens nicht zugestimmt hat.

Im vorliegenden Streitfall steht - anders als in den der Rechtsprechung des III. Senats zugrunde liegenden Fällen - fest, dass der frühere Rechtszustand hinsichtlich des Kinderleistungsausgleichs verfassungswidrig war; hätte das BVerfG die Vorschrift über den Kinderleistungsausgleich rückwirkend für mit der Verfassung unvereinbar oder für nichtig erklärt, hätte der Gesetzgeber bei einer Neuregelung für die Vergangenheit mit Sicherheit einen Betreuungs- und Erziehungsfreibetrag einführen müssen, wie es stufenweise ab 1. Januar 2000 bzw. 1. Januar 2002 geschehen ist. Ergänzend verweist der Senat auch auf sein Urteil vom 3. Juli 2002 VI R 87/99 (BFHE 199, 392, BStBl II 2002, 857) hin.

f) Da die Kläger wegen der übrigen Streitpunkte (ordnungsgemäße Bekanntgabe, Grundfreibetrag) endgültig unterlegen sind, haben sie insoweit die Kosten des Klageverfahrens zu tragen.

g) Bei der Verteilung der Kostenlast für die 1. Instanz kann hinsichtlich der auf den Kinderleistungsausgleich entfallenden Kostenanteile der Klageantrag zugrunde gelegt werden, der weitergehend als der Revisionsantrag (s. oben unter 1.) war. Da bei verfassungsrechtlichen Streitpunkten für die klagenden Bürger die Stellung eines exakt bezifferten Klageantrags nicht berechenbar ist, ist entscheidend, ob das Klagebegehren - wie vorliegend - sachgerecht umschrieben und nicht sachwidrig überhöht ist.