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BFH-Urteil vom 6.12.2006 (XI R 62/05) BStBl. 2007 II S. 238

Erfährt der Steuerpflichtige während des Einspruchsverfahrens, dass eine anderweitige Berücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts nicht in Betracht kommt und nimmt er die Gelegenheit, gegen die geänderte Auffassung der Finanzbehörde vorzugehen, nicht wahr, findet § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 später keine Anwendung.

AO 1977 § 174 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 20. Januar 2005 12 K 7027/02 E (EFG 2006, 1032)

Sachverhalt

I.

Die miteinander verheirateten Kläger und Revisionskläger (Kläger) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger hatte in Zusammenhang mit einer 1993 begonnenen Tätigkeit für die M-GmbH (GmbH) - Anwerbung, Auswahl und Betreuung von Außendienstmitarbeitern - bei der Aufnahme eines Darlehens eine Bürgschaft übernommen. Die Rückzahlung der Darlehen war im Jahr 1995 fällig. Im Juni 1995 wurde das Konkursverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet. Die Gläubigerbank nahm im Jahr 1999 den Kläger als Bürgen in Anspruch. Zur Begleichung der Verpflichtung nahm der Kläger zwei Darlehen in Höhe von 121.000 DM und 79.000 DM auf. Daraus erwuchsen Zinsen in Höhe von 3.743,73 DM und Rechtsanwaltskosten in Höhe von 9.168,72 DM. Daneben betrieb der Kläger eine Handelsvertretung, für die er einen Verlust von 7.204 DM erklärte.

Abweichend von der Erklärung berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) bei der Einkommensteuerfestsetzung für den Veranlagungszeitraum 1999 hinsichtlich der Bürgschaftsaufwendungen lediglich die gezahlten Zinsen, die Rechtsanwaltskosten und die Tilgungsrate in Höhe von insgesamt 17.496 DM. In der Erläuterung zum Bescheid vom 27. März 2001 wies das FA darauf hin, dass die Bereitstellung des Darlehens keinen Abfluss darstelle. Die Kläger erhoben Einspruch. Im Schreiben vom 21. November 2002 kündigte das FA an, dass es den Abzug der Bürgschaftsaufwendungen mangels betrieblicher Veranlassung überhaupt nicht mehr zulassen wolle. Nach Androhung einer Verböserung nahmen die Kläger den Einspruch zurück.

Gegen den zwischenzeitlich gemäß § 165 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) ergangenen Änderungsbescheid vom 18. Februar 2003, mit dem der Abzug des aus dem Betrieb der Handelsvertretung entstandenen Verlustes versagt wurde, erhoben die Kläger erneut Einspruch, der mit Einspruchsentscheidung vom 9. April 2003 zurückgewiesen wurde. Daneben beantragten die Kläger die Änderung des Bescheides gemäß § 174 Abs. 3 AO 1977. Dieser Antrag wurde - in der Einspruchsentscheidung - abgelehnt. Der dagegen gerichtete Einspruch vom 8. Mai 2003 wurde zunächst nicht beschieden.

Das Finanzgericht (FG) hielt die auch insoweit erhobene Klage als Untätigkeitsklage für zulässig. Nach Auffassung des FG sei der Abzug der vollen Bürgschaftsaufwendungen der Sache nach gerechtfertigt. Im Hinblick auf den insoweit zurückgenommenen Einspruch komme aber nur noch ein Abzug in dem durch § 351 Abs. 1 AO 1977 gesetzten Rahmen in Betracht; eine Änderung sei also nur noch insoweit zulässig, als der Änderungsbescheid vom 18. Februar 2003 zu einer Erhöhung der Steuerfestsetzung geführt habe. Bezüglich des Verpflichtungsantrags der Kläger seien die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO 1977 nicht gegeben; im Schreiben vom 21. November 2002 habe das FA angekündigt, dass es den Abzug der Bürgschaftsaufwendungen mangels betrieblicher Veranlassung überhaupt nicht mehr zulassen wolle. Von der ursprünglich vertretenen Ansicht, dass der Abzug in späteren Veranlagungszeiträumen abziehbar sei, sei das FA abgerückt. Damit habe erkennbar festgestanden, dass das FA diese Aufwendungen nicht in einem anderen Steuerbescheid habe berücksichtigen wollen (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2006, 1032).

Mit der Revision machen die Kläger geltend:

1. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 27. März 2001 seien die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO 1977 unzweifelhaft gegeben gewesen.

2. Das Schreiben vom 21. November 2002, in dem das FA die Auffassung vertreten habe, dass die Bürgschaftsaufwendungen überhaupt nicht abziehbar seien, habe keine Änderung bewirkt; denn eine spätere Änderung der Rechtsauffassung könne eine einmal eingetretene Kausalität nicht beseitigen.

3. § 174 Abs. 3 AO 1977 solle bei Nichtberücksichtigung eines steuermindernden Sachverhalts das Vertrauen des Steuerpflichtigen schützen, das dieser aufgrund der erkennbaren Annahme des FA darin gehabt habe, dass er die Berücksichtigung des steuermindernden Sachverhalts nicht in diesem Jahr, sondern in einem anderen Jahr begehren könne. Dieses Vertrauen habe nach dem Schreiben des FA vom 21. November 2002 und nach Erlass des Änderungsbescheides vom 18. Februar 2003 fortbestanden.

4. Im Vertrauen darauf, dass die Bürgschaftsaufwendungen später abziehbar sein würden, hätten sie den Einspruch zurückgenommen. Es sei für die Anwendung des § 174 Abs. 3 AO 1977 ausreichend, wenn die Nichtberücksichtigung unter anderem auch auf einer irrigen Annahme beruhe.

5. Bei einer Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen sei die Voraussetzung der Erkennbarkeit ohne Bedeutung (Loose in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Tz. 35).

6. Sie hätten den Wegfall der irrigen Annahme nicht erkennen können. Ein nachträgliches Entstehen der Erkennbarkeit sei nur möglich, solange der fragliche Verwaltungsakt noch zu ihren Gunsten habe geändert werden können. Der Erlass eines solchen Bescheides wäre aber mangels des Vorliegens einer Korrekturnorm nicht möglich gewesen. Dem Umstand, dass im vorliegenden Fall eine Änderung im Rahmen des Einspruchsverfahrens möglich gewesen wäre, komme dabei keine Bedeutung zu, da die Korrekturnormen der AO 1977 und das Einspruchsverfahren unabhängig nebeneinander stünden. Die Anwendbarkeit der Korrekturnormen könne nicht davon abhängig gemacht werden, ob "zufällig" eine Anfechtung des zu ändernden Bescheides mittels eines Einspruchs möglich sei. Die §§ 172 ff. AO 1977 seien dahingehend auszulegen, dass sie auch anzuwenden seien, wenn Bestandskraft eingetreten sei.

7. Die Einspruchsrücknahme wirke so, als sei von Anfang an kein Einspruch eingelegt worden. Die Einspruchseinlegung könne daher keine für den Steuerpflichtigen nachteiligen Rechtsfolgen auslösen.

8. In jedem Fall müsse die Finanzverwaltung die Möglichkeit haben, die geänderte Auffassung in einem Änderungsbescheid für seine Entscheidung kausal werden zu lassen.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und

1. das FA zu verpflichten, die Einkommensteuer 1999 unter Berücksichtigung eines weiteren Verlustes aus der Bürgschaftsinanspruchnahme in Höhe von 188.015 DM (212.913 DM Bürgschaftsinanspruchnahme abzüglich 17.496 DM bereits berücksichtigte Aufwendungen abzüglich 7.402 DM im erstinstanzlichen Urteil durchgesetzte Aufwendungen) auf 0 DM herabzusetzen,

2. das FA weiter zu verpflichten, die Einkommensteuer 1998 aufgrund eines unter Berücksichtigung des Antrags zu 1. möglichen Verlustrücktrages gemäß § 10d des Einkommensteuergesetzes (EStG) von 1999 nach 1998 auf 0 DM herabzusetzen und

3. das FA zu verpflichten, den nach Berücksichtigung der Anträge zu 1. und 2. verbleibenden Verlust gemäß § 10d Abs. 4 EStG zum 31. Dezember 1999 festzustellen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

1. Bei einer erkennbaren Nichtberücksichtigung stehe dem Steuerpflichtigen der Einspruch zur Verfügung. Eine weitere Änderungsmöglichkeit sei nicht geboten.

2. Für die Anwendbarkeit des § 174 Abs. 3 AO 1977 reiche es aus, dass die Annahme des FA für den Steuerpflichtigen aus dem gesamten Sachverhaltsablauf erkennbar sei. Das Erkennbarmachen könne auch nachträglich geschehen, soweit der Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehe, oder in der Einspruchsentscheidung (Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 174 Rz. 42). Nichts anderes könne gelten, wenn das FA klar erkennbar von seinem im ursprünglichen Steuerbescheid zum Ausdruck gebrachten Standpunkt abrücke, für den Steuerpflichtigen aber ohne weiteres die Möglichkeit bestehe, der geänderten Rechtsauffassung im Rahmen eines ohnehin anhängigen Einspruchsverfahrens zu begegnen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision wird gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als unbegründet zurückgewiesen. Das FG hat zu Recht entschieden, dass eine Änderung des Bescheides vom 18. Februar 2003 durch das FA nicht in Betracht kommt; die Voraussetzungen einer Änderung gemäß § 174 Abs. 3 AO 1977 liegen nicht vor.

1. Gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden, als ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt wurde, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt.

a) Im Streitfall sind die geltend gemachten Bürgschaftsaufwendungen in dem Bescheid vom 27. März 2001 erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden, dass sie in späteren Zeiträumen zu berücksichtigen seien. Diese Annahme hat sich nach Auffassung des FG als unrichtig herausgestellt (vgl. auch Schmidt/Drenseck, EStG, 25. Aufl., § 9 Rz 55).

b) Gleichwohl kommt eine Änderung des insoweit bestandskräftig gewordenen Bescheides gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 nicht in Betracht.

Das FA hat im Verfahren über den Einspruch gegen den Bescheid vom 27. März 2001 mit Schriftsatz vom 21. November 2002 zu erkennen gegeben, an der Rechtsauffassung, dass die Bürgschaftsaufwendungen später zu berücksichtigen seien, nicht mehr festzuhalten. Damit ist das FA von der ursprünglichen Annahme abgerückt.

Diese geänderte Rechtsauffassung wurde den Klägern während des Einspruchsverfahrens zur Kenntnis gebracht. Sie hatten daher die Möglichkeit, die Richtigkeit dieser geänderten Auffassung in diesem Verfahren prüfen zu lassen - durch Fortsetzung des Einspruchsverfahrens und ggf. durch ein nachfolgendes Klageverfahren -. Diese Möglichkeit haben die Kläger nicht genutzt, indem sie ihren Einspruch zurückgenommen haben.

Soweit die Kläger geltend machen, dass das FA in dem Schreiben vom 21. November 2002 nicht von seiner ursprünglichen Ansicht abgerückt sei, sondern lediglich ergänzend darauf hingewiesen habe, dass auch dem Grunde nach ein Abzug der Bürgschaftsaufwendungen nicht in Betracht komme, kann der Senat dieser Interpretation nicht folgen. In diesem Schreiben heißt es ausdrücklich, dass keine betriebliche Veranlassung der Bürgschaftsübernahme vorliege; wegen des fehlenden betrieblichen Nutzens sei die Bürgschaftsübernahme der privaten Vermögensebene zuzuordnen, so dass ein Betriebsausgabenabzug der entstandenen Aufwendungen entfalle. Mit diesen Ausführungen ist klar zum Ausdruck gebracht worden, dass - unabhängig vom Geldabfluss, den das FA in den Erläuterungen zum Bescheid vom 27. März 2001 noch für maßgeblich gehalten hatte - ein Abzug der Bürgschaftsaufwendungen als Betriebsausgaben weder ganz noch teilweise in Betracht komme. Diese Äußerungen bezogen sich nicht nur auf die bereits berücksichtigten Aufwendungen in Höhe von 17.496 DM, sondern, wie auch dem ausdrücklich in Bezug genommenen Schreiben vom 15. Juli 2002 zu entnehmen ist, auf die Bürgschaftsübernahme insgesamt. Für die Kläger war damit klar erkennbar, dass die Bürgschaftsaufwendungen weder im Streitjahr noch in späteren Jahren als Betriebsausgaben abgezogen werden sollten. Im Übrigen hat das FA auch im Einkommensteuerbescheid 2000 vom 14. Februar 2002 - also während des Einspruchsverfahrens - den Abzug von Bürgschaftsaufwendungen versagt. Auch daraus konnten die Kläger erkennen, dass ein Abzug der Bürgschaftsaufwendungen generell nicht mehr in Betracht kommen sollte.

Bei dieser Konstellation besteht für eine Durchbrechung der Bestandskraft, wie sie § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 vorsieht, kein Anlass. In den Fällen des § 174 Abs. 3 AO 1977 muss dem Betroffenen eine Änderungsmöglichkeit eingeräumt werden, wenn er auf eine irrige Rechtsansicht vertraut hat und ohne Änderungsmöglichkeit seine Rechte nicht weiter verfolgen könnte. Im Streitfall indes hatten die Kläger die Möglichkeit, sich gegen die geänderte Auffassung des FA zur Wehr zu setzen; eine Durchbrechung der Bestandskraft ist daher nicht geboten.

Der die Änderungsmöglichkeit legitimierende Vertrauensschutzgedanke (dazu vgl. Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Tz. 32; Vor § 172 AO Tz. 2) trägt nicht, wenn der Betroffene die Möglichkeit hat, verfahrensrechtlich gegen die Auffassung des FA vorzugehen. Entsprechend heißt es in der Begründung zu § 155 AO 1977 des Regierungsentwurfs - nun § 174 AO 1977 - (BTDrucks VI/1982, S. 154), dass es Treu und Glauben nicht widerspreche, die erste Steuerfestsetzung trotz Bestandskraft nunmehr anders zu beurteilen. Die Vorschrift komme erst dann zur Anwendung, wenn widerstreitende Steuerfestsetzungen vermieden werden könnten (BTDrucks VI/1982, S. 153). Ist das FA von seiner ursprünglichen Vorstellung der Berücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts abgerückt und ist im laufenden Verfahren die Möglichkeit gegeben, die geänderte Auffassung anzugreifen, besteht für eine Durchbrechung der Bestandskraft nach § 174 Abs. 3 AO 1977 keine sachliche Veranlassung; eine die Änderbarkeit nach § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 rechtfertigende Konstellation (das Vertrauen auf eine spätere Berücksichtigung) ist in diesem Fall nicht mehr vorhanden.

In ähnlicher Weise wird in der Literatur (Pahlke/Koenig/Koenig, Abgabenordnung § 174 Rz. 50) im Hinblick auf eine spätere Erkennbarkeit argumentiert; nur bei noch gegebener Änderbarkeit (z.B. gemäß §§ 164, 165 AO 1977 oder im Einspruchsverfahren) sei ein Hinweis, der zur Erkennbarkeit führe, zu berücksichtigen. Im Streitfall geht es umgekehrt um die Erkennbarkeit des Wegfalls der Absicht, den Sachverhalt in einem anderen Bescheid zu berücksichtigen.

c) Entgegen der Auffassung der Kläger kann dabei das FA nicht an einer in dem Steuerbescheid zunächst geäußerten Rechtsauffassung festgehalten werden; es genügt, dass das FA im weiteren Verlauf des Verfahrens die ursprüngliche Annahme aufgibt, so dass die Möglichkeit besteht, noch im Einspruchsverfahren und ggf. auch in einem Klageverfahren die Rechtsauffassung prüfen zu lassen und einer widerstreitenden Steuerfestsetzung von vornherein zu entgehen.

2. Kommt eine Änderung für den Veranlagungszeitraum 1999 nicht in Betracht, scheiden ein Verlustrücktrag in den Veranlagungszeitraum 1998 und eine Feststellung über den verbleibenden Verlustabzug zum 31. Dezember 1999 aus.