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BFH-Urteil vom 13.7.2006 (V R 7/05) BStBl. 2007 II S. 412

Betriebsärztliche Leistungen, die ein Unternehmer gegenüber einem Arbeitgeber erbringt und die darin bestehen, die Arbeitnehmer zu untersuchen, arbeitsmedizinisch zu beurteilen und zu beraten sowie die Untersuchungsergebnisse zu erfassen und auszuwerten (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG), sind - soweit die Leistungen nicht auf Einstellungsuntersuchungen entfallen - gemäß § 4 Nr. 14 UStG 1993 steuerfrei.

UStG 1993 § 4 Nr. 14, § 4 Nr. 16; Richtlinie 77/388/EWG Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b, c, g; ASiG § 3 Abs. 1 Nr. 2, § 19.

Vorinstanz: FG Berlin vom 16. November 2004 5 K 5008/99 (EFG 2005, 483)

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Rechtsnachfolger des TÜV. Dieser übernahm gegenüber verschiedenen Arbeitgebern in den Streitjahren (1993 bis 1995) u.a. sämtliche betriebsärztlichen Aufgaben nach dem Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG) vom 12. Dezember 1973 (BGBl I, 1885).

Nach Maßgabe dieses Gesetzes hat der Arbeitgeber u.a. Betriebsärzte zu bestellen und ihnen die in § 3 ASiG genannten Aufgaben zu übertragen (§ 1 Satz 1, § 2 Abs. 1 ASiG). Die Betriebsärzte haben die Aufgabe, den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen des Gesundheitsschutzes zu unterstützen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 ASiG). Sie haben u.a. die Arbeitnehmer zu untersuchen, arbeitsmedizinisch zu beurteilen und zu beraten sowie die Untersuchungsergebnisse zu erfassen und auszuwerten (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG). Die Verpflichtung des Arbeitgebers, Betriebsärzte zu bestellen, kann auch dadurch erfüllt werden, dass der Arbeitgeber einen überbetrieblichen Dienst von Betriebsärzten zur Wahrnehmung der Aufgaben nach § 3 ASiG verpflichtet (§ 19 ASiG).

Der TÜV nahm für die von ihm gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG erbrachten arbeitsmedizinischen Leistungen die Umsatzsteuerfreiheit nach § 4 Nr. 16 Buchst. c des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG 1993) in Anspruch.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) versagte im Anschluss an eine Betriebsprüfung die Umsatzsteuerfreiheit dieser Umsätze, weil ein mit der Wahrnehmung der Aufgaben nach § 3 ASiG beauftragtes Unternehmen nicht als Einrichtung ärztlicher Diagnostik oder Befunderhebung i.S. des § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG 1993 anzusehen sei.

Das Finanzgericht (FG) gab der vom Kläger nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage im Wesentlichen statt.

Es führte zur Begründung aus, zwar lägen die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG 1993 entgegen der Auffassung des Klägers nicht vor. Die streitigen Leistungen seien aber - mit Ausnahme von Einstellungsuntersuchungen - gemäß § 4 Nr. 14 UStG 1993 steuerfrei. Diese Vorschrift sei richtlinienkonform auszulegen. Nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) seien von der Steuer zu befreien die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht würden. Unter diese Bestimmung fielen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) auch ärztliche Untersuchungen von Personen im Auftrag von Arbeitgebern, wenn diese in erster Linie dem Schutz der Gesundheit des Betroffenen dienen sollten (Hinweis auf EuGH-Urteil vom 20. November 2003 Rs. C-307/01, Peter d'Ambrumenil, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 2004, 75). Diese Voraussetzungen seien - mit Ausnahme der durchgeführten Einstellungsuntersuchungen - bei den streitigen Leistungen erfüllt, da sie zum Ziel hätten, Beeinträchtigungen der Gesundheit zu verhindern, bzw. diese frühzeitig zu erkennen, damit ihren Auswirkungen - im Interesse der Gesundheit des Arbeitnehmers - rechtzeitig begegnet werden könne.

Das Urteil ist in "Entscheidungen der Finanzgerichte" (EFG) 2005, 483 veröffentlicht.

Das FA macht mit der vom FG zugelassenen Revision im Wesentlichen geltend, die ärztlichen Leistungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG dienten in erster Linie dem auftraggebenden Arbeitgeber zur Erfüllung seiner gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf Arbeitsschutz und Unfallverhütung. Ferner dienten diese Untersuchungen auch der Planungssicherheit des Arbeitgebers in Bezug auf die Einsatzmöglichkeiten seiner Arbeitskräfte und der Verhinderung von Regressansprüchen, die durch Arbeitsunfälle oder Produktionsfehler, z.B. bei dem Führen von Maschinen durch gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitnehmer, entstehen könnten. Die Feststellung eines Behandlungserfordernisses sei nicht Zweck der Untersuchungen, sondern lediglich ein Nebeneffekt.

Betriebsärztliche Leistungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 ASiG dienten unstreitig keinen therapeutischen Zwecken. Soweit der TÜV die gesamten in § 3 Abs. 1 ASiG genannten Leistungen erbracht habe, stelle dies eine einheitliche, nicht steuerbefreite Leistung dar, da diese einem einheitlichen Ziel, nämlich der fachkundigen Unterstützung des Arbeitgebers beim Arbeitsschutz, diene. Die Einheitlichkeit dieser Leistung ergebe sich auch daraus, dass der erforderliche Umfang der betriebsärztlichen Betreuung nach dem berufsgenossenschaftlichen Regelwerk, das das ASiG ergänze, in einer für jeden Betrieb insgesamt zu ermittelnden jährlichen Einsatzzeit in der Kategorie Stunde pro Jahr bezogen auf alle Leistungen nach § 3 Abs. 1 ASiG angegeben werde. Diese pauschalierte Bemessung des erforderlichen betriebsärztlichen Einsatzes sei nur möglich, weil alle Leistungen i.S. des § 3 Abs. 1 ASiG als zusammengehörend betrachtet würden.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das angefochtene Urteil lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Die Beurteilung des FG, die - im vorliegenden Verfahren allein streitigen - Leistungen i.S. des § 3 Abs. 1 Satz 2 ASiG seien steuerfrei, soweit sie nicht auf Einstellungsuntersuchungen entfielen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

1. Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1993 sind steuerfrei die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Krankengymnast, Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG).

Nach § 4 Nr. 16 UStG 1993 sind steuerfrei

"die mit dem Betrieb der Krankenhäuser, Diagnosekliniken und anderen Einrichtungen ärztlicher Heilbehandlung, Diagnostik oder Befunderhebung sowie der Altenheime, Altenwohnheime, Pflegeheime ... eng verbundenen Umsätze, wenn

a) diese Einrichtungen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts betrieben werden oder

...

c) bei Diagnosekliniken und anderen Einrichtungen ärztlicher Heilbehandlung, Diagnostik oder Befunderhebung die Leistungen unter ärztlicher Aufsicht erbracht werden und im vorangegangenen Kalenderjahr mindestens 40 vom Hundert der Leistungen den in Nummer 15 Buchstabe b genannten Personen zugute gekommen sind ...".

2. § 4 Nr. 14 UStG 1993 (entspricht Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG) und § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG (entspricht Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG) schließen sich gegenseitig aus (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 1. April 2004 V R 54/98, BFHE 205, 505, BStBl II 2004, 681).

Für die Abgrenzung des Anwendungsbereichs von § 4 Nr. 14 und von § 4 Nr. 16 UStG 1993 kommt es weniger auf die Art der Leistung als vielmehr auf den Ort ihrer Erbringung an. Wenn es sich um Leistungen außerhalb von Krankenhäusern oder vergleichbaren Einrichtungen handelt, ist (nur) § 4 Nr. 14 UStG 1993 einschlägig. Dabei geht es um diejenigen Heilbehandlungen, die außerhalb von Krankenhäusern, sei es in den Praxisräumen des Behandelnden, in der Wohnung des Patienten oder - wie im Streitfall - an einem anderen Ort außerhalb eines Krankenhauses erbracht werden (vgl. BFH in BFHE 205, 505, BStBl II 2004, 681, unter II.2; EuGH-Urteil vom 8. Juni 2006 Rs. C-106/05, L. u. P. GmbH, Internationales Steuerrecht - IStR - 2006, 453, Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst - DStRE - 2006, 811, Rdnr. 22, m.w.N).

3. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die somit im Streitfall einschlägige Vorschrift des § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1993 richtlinienkonform auszulegen ist und dass eine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG Tätigkeiten umfasst, die zum Zweck der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen für bestimmte Patienten ausgeführt werden (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 25. November 2004 V R 44/02, BFHE 208, 80, BStBl II 2005, 190, unter II.2.; vom 7. Juli 2005 V R 23/04, BFHE 211, 69, BStBl II 2005, 904).

a) Auch vorbeugende Untersuchungen, die zum Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit erbracht werden, sind von der Steuerbefreiung erfasst (vgl. EuGH-Urteil L. u. P. GmbH in IStR 2006, 453, DStRE 2006, 811, Rdnr. 29, m.w.N).

Eine steuerfreie Heilbehandlung setzt aber voraus, dass ihr Hauptziel der Schutz der Gesundheit ist (vgl. BFH-Urteil vom 30. Juni 2005 V R 1/02, BFHE 210, 188, BStBl II 2005, 675). Dies ist z.B. bei sog. Supervisionsleistungen nicht der Fall, auch wenn dabei die ebenfalls bei Heilbehandlungen eingesetzten Methoden angewandt werden und diese auch der gesundheitlichen Prophylaxe dienen können (vgl. BFHE 210, 188, BStBl II 2005, 675).

b) Zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG hat der EuGH - wie das FG ebenfalls zutreffend ausgeführt hat - entschieden, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Befreiung von der Mehrwertsteuer u.a. für ärztliche Untersuchungen von Personen im Auftrag von Arbeitgebern gilt, wenn diese in erster Linie dem Schutz der Gesundheit des Betroffenen dienen sollen; er hat diese Aussage wie folgt konkretisiert (vgl. Rs. C-307/01, Peter d'Ambrumenil in UR 2004, 75, Rdnr. 66, 67):

Ärztliche Untersuchungen, die zu dem Zweck durchgeführt werden, einem Arbeitgeber Entscheidungen über Einstellungen oder über die Aufgaben, die ein Arbeitnehmer wahrnehmen kann, zu ermöglichen, sollen in erster Linie dem Arbeitgeber eine Entscheidungsfindung ermöglichen. Diese Leistungen fallen daher nicht unter die nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG von der Steuer befreiten Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin.

Hingegen können die von Arbeitgebern veranlassten regelmäßigen ärztlichen Kontrollen unter der Voraussetzung die Bedingungen dieser Steuerbefreiungsregelung erfüllen, dass diese Kontrollen in erster Linie der Krankheitsvorbeugung und -erkennung sowie der Beobachtung des Gesundheitszustands der Arbeitnehmer dienen. Dass solche ärztlichen Kontrollen auch den Eigeninteressen der Arbeitgeber dienen könnten, schließt nicht aus, dass Hauptzweck dieser Kontrollen der Gesundheitsschutz ist.

4. Das FG hat hiervon ausgehend im Einzelnen dargelegt, dass die streitigen Leistungen i.S. des § 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG - mit Ausnahme von Einstellungsuntersuchungen - in erster Linie der Krankheitsvorbeugung und -erkennung sowie der Beobachtung des Gesundheitszustands der Arbeitnehmer dienen.

Der erkennende Senat schließt sich dieser Würdigung an. Sie steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Danach ist es Aufgabe der nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG durchzuführenden Untersuchungen, Gesundheitsgefährdungen des Arbeitnehmers möglichst frühzeitig zu erkennen und den Arbeitnehmer vor arbeitsbedingten Gesundheitsschäden zu bewahren; diese Untersuchungen werden überwiegend im Interesse des Arbeitnehmers durchgeführt (vgl. BAG-Urteil vom 22. Januar 1986 5 AZR 34/85, BAGE 50, 376, Der Betrieb 1986, 1631, Neue Juristische Wochenschrift 1986, 2903).

Der Senat vermag deshalb nicht der Auffassung des FA zu folgen, die ärztlichen Leistungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG dienten in erster Linie dem auftraggebenden Arbeitgeber.

5. Die Steuerfreiheit der streitigen Leistungen i.S. des § 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG scheitert - entgegen der Auffassung des FA - nicht daran, dass die in § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 ASiG aufgeführten Leistungen unstreitig keinen therapeutischen Zwecken dienten und sämtliche in § 3 Abs. 1 ASiG genannten Leistungen als Einheit zu betrachten seien.

Denn nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) wurden die streitigen Leistungen in dem vorgelegten Mustervertrag einzeln aufgeschlüsselt und auch einzeln abgerechnet; die in § 3 Nr. 1 bis 4 ASiG aufgeführten Leistungen konnten einzeln zugeordnet werden. Sie waren demnach trennbar.