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BFH-Urteil vom 16.4.2008 (XI R 73/07) BStBl. 2009 II S. 1024

§ 24 Abs. 2 Satz 3 UStG 1999, wonach Gewerbebetriebe kraft Rechtsform die für Land- und Forstwirte geltende Durchschnittssatzbesteuerung nicht in Anspruch nehmen können, auch wenn im Übrigen die Merkmale eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebes vorliegen, verletzt das Gemeinschaftsrecht und ist daher nicht anzuwenden.

UStG 1999 § 24 Abs. 2 Satz 3; Richtlinie 77/388/EWG Art. 25.

Vorinstanz: FG München vom 13. Juni 2007 3 K 689/05 (EFG 2007, 1648)

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine eingetragene Genossenschaft. Sie bewirtschaftet ein Forstareal, das ca. 23 ha umfasst.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) setzte mit Bescheid vom 25. Mai 2004 die Umsatzsteuer 2002 auf 1.560,43 € fest. Dabei unterwarf das FA abweichend von der Steuererklärung, in der die Klägerin nach § 19 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG) in der im Streitjahr geltenden Fassung auf die Anwendung der Kleinunternehmerregelung verzichtet hatte, die erklärten Umsätze von 11.356 € netto der Regelbesteuerung und ließ die geltend gemachten Vorsteuern in Höhe von 256,53 € zum Abzug zu, weil die Durchschnittssatzbesteuerung für eine Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft nicht anwendbar sei. Den Einspruch wies es zurück. Die hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg. Die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 1648 veröffentlicht.

Mit der Revision beruft sich die Klägerin auf die Verletzung materiellen Rechts.

Sie gehöre als eingetragene Genossenschaft zwar zu den gesetzlich von der Anwendung der Durchschnittssatzbesteuerung ausgenommenen Gewerbebetrieben kraft Rechtsform (§ 2 Abs. 2 des Gewerbesteuergesetzes - GewStG -). Sie sei aber eine typische Waldgenossenschaft, für die aufgrund der gesetzlichen Benennung die Ausnahmevorschrift des § 3 Abs. 2 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) gelte. Waldgenossenschaften seien hiernach nur insoweit körperschaftsteuerpflichtig, als sie einen Gewerbebetrieb i.S. des § 15 des Einkommensteuergesetzes unterhielten. Dies treffe hier aber nicht zu. Ihre Einkünfte seien unmittelbar bei den Beteiligten zu versteuern. Obwohl sie eine Körperschaft sei, werde sie steuerlich in vollem Umfang als Mitunternehmerschaft angesehen. Die Genossen erzielten Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft. Die Auffassung des FG, dass es offenbleiben könne, ob sie unter § 3 Abs. 2 KStG falle, sei unzutreffend. § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG verwende den aus dem Ertragsteuerrecht stammenden Begriff "Gewerbebetrieb kraft Rechtsform". Dies setze voraus, dass die juristische Person dort auch so behandelt werde. Hier werde die Waldgenossenschaft ertragsteuerlich eben nicht als Gewerbebetrieb kraft Rechtsform behandelt, sondern wie eine Mitunternehmerschaft mit Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft. Nach dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung sei für die Auslegung ein widerspruchsfreies Zusammenspiel steuerrechtlicher Vorschriften anzustreben.

Auch eine verfassungskonforme Auslegung nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) gebiete die Anwendung der Durchschnittssatzbesteuerung.

Ferner verstoße § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG gegen Gemeinschaftsrecht.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Umsatzsteuerbescheid 2002 in Gestalt der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung dahingehend abzuändern, dass die Umsatzsteuer auf 0 € festgesetzt wird.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Der Einwand der Klägerin, aufgrund der Ausnahmebestimmung in § 3 Abs. 2 KStG sei die Durchschnittssatzbesteuerung nach § 24 UStG auch auf sie anwendbar, greife nicht. Denn die Klägerin falle nicht in den Anwendungsbereich von § 3 Abs. 2 KStG, weil sie nach ihrer tatsächlichen rechtlichen Struktur keine Realgemeinde sei.

Die von der Klägerin vorgebrachten verwaltungstechnischen Schwierigkeiten beruhten auf der Annahme, dass sie ertragsteuerlich als Mitunternehmerschaft zu behandeln sei und damit weit geringere Anforderungen an die Aufzeichnungspflichten zu stellen seien. Nachdem es sich jedoch um eine körperschaftsteuerpflichtige Genossenschaft handele, träfen sie die im Urteil der Vorinstanz aufgeführten Aufzeichnungs- und Buchführungspflichten.

Im Übrigen sei § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG weder europarechts- noch verfassungswidrig.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat zu Unrecht die Anwendung der begehrten Durchschnittssatzbesteuerung für land- und forstwirtschaftliche Betriebe versagt.

1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin nach der nationalen Regelung keinen Anspruch auf Anwendung der begehrten Durchschnittssatzbesteuerung hat.

Die Durchschnittssatzbesteuerung gilt gemäß § 24 UStG grundsätzlich für alle land- und forstwirtschaftlichen Betriebe. Ein Gewerbebetrieb kraft Rechtsform soll aber gemäß § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG auch dann nicht als land- und forstwirtschaftlicher Betrieb anzusehen sein, wenn im Übrigen die Merkmale eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebes vorliegen. Da die Klägerin als eingetragene Genossenschaft zu den Gewerbebetrieben kraft Rechtsform nach § 2 Abs. 2 Satz 1 GewStG gehört, stünde ihr hiernach die begehrte Durchschnittssatzbesteuerung nicht zu.

2. § 24 UStG "beruht" auf Art. 25 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) und muss daher mit dieser Bestimmung und den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen im Einklang stehen (vgl. z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22. September 2005 V R 28/03, BFHE 211, 566, BStBl II 2006, 280, und vom 12. Oktober 2006 V R 36/04, BFHE 215, 356, BStBl II 2007, 485, jeweils m.w.N., und Klenk in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 24 Rz 6 ff.). Art. 25 der Richtlinie 77/388/EWG enthält nicht die in § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG vorgesehene Beschränkung und ermächtigt den nationalen Gesetzgeber wegen des gemeinschaftsrechtlich geltenden Neutralitätsgebots auch nicht dazu, eine entsprechende Regelung zu treffen. § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG ist daher nicht anwendbar.

a) Nach Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG können die Mitgliedstaaten "auf landwirtschaftliche Erzeuger, bei denen die Anwendung der normalen Mehrwertsteuerregelung oder gegebenenfalls der vereinfachten Regelung nach Artikel 24 auf Schwierigkeiten stoßen würde, als Ausgleich für die Belastung durch die Mehrwertsteuer, die auf die von den Pauschallandwirten bezogenen Gegenstände und Dienstleistungen gezahlt wird, eine Pauschalregelung nach diesem Artikel anwenden".

Die in Art. 25 Abs. 1 bis 12 der Richtlinie 77/388/EWG vorgesehene Pauschalregelung ist die allgemeine Rechtsgrundlage für die nationale Regelung der Durchschnittssatzbesteuerung in § 24 UStG (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 211, 566, BStBl II 2006, 280, m.w.N.). Eine der Bestimmung in § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG vergleichbare Ausnahme von der Anwendung der Pauschalregelung sieht Art. 25 der Richtlinie 77/388/EWG nicht vor.

b) Art. 25 Abs. 9 der Richtlinie 77/388/EWG ermächtigt den nationalen Gesetzgeber auch nicht dazu, eine derartige Ausnahme zu schaffen.

aa) Diese Bestimmung eröffnet jedem Mitgliedstaat "die Möglichkeit, bestimmte Gruppen landwirtschaftlicher Erzeuger sowie diejenigen landwirtschaftlichen Erzeuger von der Pauschalregelung auszunehmen, bei denen die Anwendung der normalen Mehrwertsteuerregelung oder gegebenenfalls der vereinfachten Regelung nach Artikel 24 Absatz 1 keine verwaltungstechnischen Schwierigkeiten mit sich bringt".

bb) Trotz des insoweit den Mitgliedstaaten eingeräumten Gestaltungsspielraums berechtigt diese Bestimmung den nationalen Gesetzgeber nicht dazu, die in § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG enthaltene Ausnahme für die Anwendung der Durchschnittssatzbesteuerung vorzusehen. Denn der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verbietet es, dass Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze bewirken, bei der Mehrwertsteuererhebung - z.B. abhängig von der Rechtsform des Steuerpflichtigen - unterschiedlich behandelt werden (Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - vom 10. September 2002 Rs. C-141/00 - Kügler -, Slg. 2002, I-6833, und vom 6. November 2003 Rs. C-45/01 - Dornier -, Slg. 2003, I-12911). Daher dürfen die Mitgliedstaaten auch bei der Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 77/388/EWG die ihr zugrunde liegenden allgemeinen Grundsätze, insbesondere den genannten Grundsatz der steuerlichen Neutralität, nicht beeinträchtigen (EuGH-Urteile vom 12. Januar 2006 Rs. C-246/04 - Turn- und Sportunion Waldburg -, Slg. 2006, I-589, und vom 28. Juni 2007 Rs. C-363/05 - JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust plc -, Slg. 2007, I-5517). Dieser Rechtsprechung des EuGH hat sich auch der BFH angeschlossen (BFH-Beschluss vom 12. Oktober 2004 V R 54/03, BFHE 207, 558, BStBl II 2005, 106, und BFH-Urteil vom 26. September 2007 V R 54/05, BFH/NV 2008, 170). Eine dem Neutralitätsgrundsatz entsprechende Regelung würde z.B. dann vorliegen, wenn nach §§ 140 ff. der Abgabenordnung buchführungspflichtige Steuerpflichtige von der Anwendung des § 24 UStG ausgeschlossen wären. Ebenso wäre es dem Gesetzgeber zumindest im Grundsatz nicht verwehrt, nach Tätigkeiten zu differenzieren.

cc) Der nationale Gesetzgeber war mithin nicht befugt, Steuerpflichtige lediglich wegen ihrer Rechtsform von der Anwendung der Durchschnittssatzbesteuerung auszuschließen, wie dies § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG vorsieht (vgl. auch Tehler, Umsatzsteuer-Rundschau 2005, 367 ff.). § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG ist daher nicht anwendbar (vgl. allgemein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 8. April 1987 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223; EuGH-Urteil vom 9. März 1978 Rs. C-106/77 - Simmenthal -, Slg. 1978, 629).

c) Eine Vorlage an den EuGH gemäß Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) ist nicht erforderlich.

Denn nach Art. 234 Satz 3 EG beurteilen die innerstaatlichen Gerichte in eigener Zuständigkeit, ob für den Erlass ihrer eigenen Entscheidung eine Entscheidung des EuGH über eine gemeinschaftsrechtliche Frage erforderlich ist. Insbesondere dann, wenn die gestellte Frage bereits Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist und der EuGH sie in einer gesicherten Rechtsprechung gelöst hat, kann eine Vorlage entfallen. Dies gilt auch dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind (vgl. BFH-Urteil vom 10. Februar 2005 V R 76/03, BFHE 208, 507, BStBl II 2005, 509, m.w.N.).

Das Neutralitätsgebot war bereits Gegenstand mehrerer Urteile des EuGH (s. oben unter II. 2. b, bb); es besteht eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH, dass das Neutralitätsgebot durch den nationalen Gesetzgeber nicht verletzt werden darf. Damit ist eine erneute Vorlage zu dieser Frage entbehrlich.

d) Da die Klägerin nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) die Voraussetzungen von § 24 UStG im Übrigen erfüllt, hat sie einen Anspruch auf die Anwendung der beantragten Durchschnittssatzbesteuerung.

3. Unerheblich ist, ob die Klägerin sich in diesem Zusammenhang mit Erfolg auf die behauptete fehlende Körperschaftsteuerpflicht nach § 3 Abs. 2 KStG berufen könnte und ob gegen § 24 Abs. 2 Satz 3 UStG wegen einer möglichen Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG auch verfassungsrechtliche Bedenken bestehen (vgl. BVerfG-Beschluss vom 10. November 1999 2 BvR 2861/93, BVerfGE 101, 151, BStBl II 2000, 160).

4. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Seine Entscheidung war aufzuheben. Da das FG zur Höhe der Umsatzsteuerfestsetzung für das Streitjahr 2002 noch keine Feststellungen getroffen hat, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.