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BFH-Urteil vom 21.4.2010 (X R 1/08) BStBl. 2010 II S. 771
Hemmung der Festsetzungsverjährung: Beginn der Jahresfrist nach § 171 Abs. 9
AO
Die
Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 9 AO beginnt, wenn die angezeigte
Steuerverkürzung dem Grunde nach individualisiert werden kann, der
Steuerpflichtige also Steuerart und Veranlagungszeitraum benennt und den
Sachverhalt so schildert, dass der Gegenstand der Selbstanzeige erkennbar
wird.
AO § 153, § 169 Abs. 2 Satz 2, § 170 Abs. 2
Nr. 1, § 171 Abs. 9, § 370, § 371, § 378 Abs. 3; GewStG § 35b.
Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 29. November
2007 16 K 458/05 E,G,U
Sachverhalt
I.
1
Der Kläger und
Revisionsbeklagte (Kläger) erzielte als Metzgermeister Einkünfte aus
Gewerbebetrieb. Im Streitjahr 1987 wurde er zusammen mit seiner Ehefrau zur
Einkommensteuer veranlagt. Die Einkommensteuererklärung der Ehegatten ging -
ebenso wie die Umsatz- und die Gewerbesteuererklärung des Klägers - am 10.
November 1988 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) ein. Das
FA setzte die Steuern erklärungsgemäß fest. Dabei berücksichtigte es u.a.
Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 92.674 DM, Einkünfte aus
Kapitalvermögen von je 0 DM (erklärte Einnahmen des Klägers: 7 DM; der
Ehefrau: 33 DM) sowie steuerpflichtige Umsätze von 477.314 DM.
2
Am 6. November 1998 erhielt
das FA ein vom Steuerberater des Klägers gefertigtes Schreiben, das im
Betreff als "strafbefreiende Selbstanzeige nach § 371 AO" der Eheleute
überschrieben war. Das Schreiben lautete wie folgt:
3
"... namens und im Auftrag
meiner Mandanten erkläre ich, dass sie hinsichtlich der Einkünfte aus
Gewerbebetrieb und aus Kapitalvermögen unrichtige bzw. unvollständige
Angaben in ihren Einkommensteuer-, Gewerbesteuer- und
Umsatzsteuererklärungen über die Höhe der tatsächlichen Einnahmen gemacht
haben und auch der Verpflichtung zur Abgabe der Vermögensteuererklärungen
nicht nachgekommen sind. Die Steuererklärungen für das Jahr 1986 wurden
Ihnen am 5.10.1987 (Veranlagung ebenfalls 1987) eingereicht.
Festsetzungsverjährung ist deshalb für die Veranlagungen ab 1987 noch nicht
eingetreten.
4
Leider kann ich Ihnen wegen
fehlender Unterlagen keine genauen Angaben über die nicht erklärten
Einnahmen machen, sondern diese bis zur Vorlage der in Luxemburg
angeforderten Kontoauszüge und Bestätigungen über laufende Einzahlungen,
jährliche Kontenstände und Zinsgutschriften nach Angaben meiner Mandanten
nur schätzen. Danach dürften die Guthaben in Luxemburg derzeit insgesamt 1,5
Mio. DM ausmachen, wurden neben ordnungsgemäß versteuerten Beträgen jährlich
ca. DM 80.000,- nicht versteuerte Einnahmen aus Gewerbebetrieb dort
eingezahlt, und wurden die gutgeschriebenen Zinsen zur Aufstockung der
Guthaben verwendet. In den strafrechtlich relevanten Jahren (die
Veranlagungen für das Jahr 1990 wurden im März bzw. Juni 1992 durchgeführt;
die Veranlagungen für 1991 im Mai 1994) dürften die jährlichen Zinsen bis DM
130.000,- betragen haben.
5
Ich bitte Sie, mir eine
angemessene Frist für die Angabe von konkreten Zahlen bzw. für eine ggf.
erforderliche abschließende Schätzung der Zahlen zu gewähren und mir dabei
den Eingang dieses Schreiben zu bestätigen."
6
Das FA bestätigte mit
Schreiben vom 13. November 1998 den Eingang der Selbstanzeige. Es bat (ohne
Angabe bestimmter Jahre) mit Frist 31. Dezember 1998, die "konkreten Beträge
und die entsprechenden Nachweise beizubringen". Sollte dies nicht möglich
sein, werde um eine "vorläufige Schätzung der Besteuerungsgrundlagen"
gebeten.
7
Der Steuerberater des
Klägers teilte dem FA hierzu mit Schreiben vom 6. Januar 1999 mit, es sei
ihm leider bisher nicht möglich gewesen, "konkrete Beträge zu nennen bzw.
vorläufige Zahlen zu schätzen", da seine Mandanten darüber keinerlei
Unterlagen aufbewahrt hätten und Angaben und Nachweise von den Banken
angefordert werden müssten. Insbesondere die Banken in Luxemburg seien
derzeit mit Anfragen überlastet. Der Berater bat, die Bearbeitungsfrist bis
zum 31. Januar 1999 zu verlängern.
8
Die Straf- und
Bußgeldsachenstelle des FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung leitete
am 9. Februar 1999 sowohl gegen den Kläger als auch gegen dessen Ehefrau das
Steuerstrafverfahren ein. Mit Schreiben vom 23. März 1999 (betreffend
Einkommensteuer 1991 bis 1996) und Frist 6. April 1999 forderte das FA den
Steuerberater der Kläger auf, bestimmte Angaben zu machen bzw. Unterlagen zu
übersenden. Es wies abschließend darauf hin, dass die Beträge ggf. zu
schätzen seien. Am 9. April 1999 bat der Berater um weitere
Fristverlängerung bis zum 31. Mai 1999. Die Geldanlagen der Eheleute
befänden sich bei drei Instituten in Luxemburg und diese hätten - trotz
mehrfacher Erinnerung - die erforderlichen Unterlagen nicht bzw. nicht
vollständig übersandt.
9
Am 16. Juni 1999 fand im FA
eine Besprechung statt, an der der Kläger, sein Steuerberater und die
zuständige Sachgebietsleiterin S teilnahmen. Ausweislich des von S hierüber
gefertigten Aktenvermerks legte der Kläger in diesem Termin erstmals
"Unterlagen und Berechnungen zu den in den Jahren 1987 bis 1996 erzielten
und bisher nicht erklärten Kapitaleinkünften und den dem Betrieb
unversteuert entnommenen Einnahmen" vor. In der zwei Seiten umfassenden
"Ermittlung der nachzuversteuernden Einkünfte und der Kapitalstände" waren
auch das Streitjahr betreffende Angaben enthalten.
10
Zu den gewerblichen
"Schwarzeinnahmen" (jährlich 18.000 DM) machten der Kläger und sein Berater
ausweislich des Vermerks folgende Angaben: Der Kläger habe den Betrieb im
Jahre 1969 übernommen und seitdem regelmäßig geringe Beträge der Kasse
unversteuert entnommen und angelegt. Er gab diese Beträge schätzungsweise
mit monatlich 1.500 DM an (gleichbleibend von 1969 bis 1996). Kosten sind
nach Angabe des Klägers nicht verschwiegen worden; bei den "entnommenen"
Beträgen handele es sich um Einkünfte. Weitere Angaben zur Glaubhaftmachung
erfolgten nicht.
11
Bereits zuvor hatte das FA
den nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderten
Einkommensteuerbescheid 1987 vom 31. Mai 1999 erlassen, in dem es Einkünfte
aus Gewerbebetrieb von (92.674 DM + 80.000 DM =) 172.674 DM und Einkünfte
aus Kapitalvermögen der Eheleute von 129.240 DM ansetzte. Am 29. Oktober
1999 erließ das FA einen ebenfalls nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO
geänderten Umsatzsteuerbescheid 1987 und erhöhte die ursprünglich erklärten
Umsätze um 80.000 DM. Am 19. November 1999 schließlich änderte es den
Gewerbesteuermessbescheid 1987 und setzte den Gewinn aus Gewerbebetrieb mit
172.674 DM an.
12
Mit den fristgerecht
eingelegten Einsprüchen machten die Ehegatten/der Kläger geltend, für
sämtliche Steuerarten sei für das Jahr 1987 bereits zum 31. Dezember 1998
Festsetzungsverjährung eingetreten. Die Selbstanzeige betreffe nur die dort
genannten strafrechtlich relevanten Jahre. Zudem seien die Zuschätzungen
überhöht; dies ergebe sich bereits aus den Unterlagen, die anlässlich der
Besprechung im FA am 16. Juni 1999 vorgelegt worden seien.
13
Das FA setzte mit der an die
Eheleute gerichteten Einspruchsentscheidung vom 6. Januar 2005 die
Einkommensteuer 1987 auf 21.115,33 EUR herab und wies den Einspruch im
Übrigen als unbegründet zurück. Die Umsatzsteuer 1987 beträgt laut
Einspruchsentscheidung 4.338,82 EUR und der Gewerbesteuermessbetrag
19871.914,79 EUR. Die Teilabhilfen beruhten auf einer Minderung der zwischen
den Beteiligten nicht mehr streitigen Zuschätzungen.
14
Zur Anwendung des § 171 Abs.
9 AO betreffend Einkommensteuer und Umsatzsteuer 1987 führte das FA unter
Hinweis auf das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts (FG) vom 10.
November 20031 K 10277/00 (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2004,
468) aus, bei der am 6. November 1998 eingereichten Anzeige handele es sich
um eine Anzeige i.S. des § 371 AO bzw. § 171 Abs. 9 AO. In der
Einspruchsentscheidung betreffend den Gewerbesteuermessbetrag 1987 räumte
das FA ein, dass der Änderungsbescheid erst nach Ablauf der Jahresfrist (§
171 Abs. 9 AO) zur Post gegeben worden sei; die Berichtigungsmöglichkeit
hierfür ergebe sich jedoch aus § 35b des Gewerbesteuergesetzes (GewStG)
i.V.m. § 171 Abs. 10 AO.
15
Das FG hat der Klage
stattgegeben. Durch das Schreiben vom 6. November 1998 sei keine die
Einkommensteuer und Umsatzsteuer 1987 betreffende Ablaufhemmung nach § 171
Abs. 9 AO eingetreten. Das sog. "Berichtigungserfordernis" (§ 371 Abs. 1 AO)
sei nicht im Jahre 1998, sondern erst durch eine substantiiert begründete
Schätzung der Besteuerungsgrundlagen aufgeschlüsselt nach
Veranlagungszeiträumen am 16. Juni 1999 erfüllt worden. Eine sog. "gestufte"
Selbstanzeige könne die Ablaufhemmung nicht auslösen. Deshalb sei auch in
Bezug auf den Gewerbesteuermessbetrag 1987 § 171 Abs. 10 AO nicht
"entsprechend" anzuwenden, weil sämtliche Festsetzungsfristen
(Einkommensteuer und Gewerbesteuermessbetrag) bereits abgelaufen gewesen
seien.
16
Mit seiner Revision macht
das FA geltend, der Kläger habe - anders als vom FG angenommen - im
Schreiben vom 6. November 1998 seine nicht versteuerten Einnahmen beziffert.
Es sei anerkannt, dass eine Selbstanzeige durch Schätzung möglich sei. Der
sich selbst Anzeigende müsse auch die Grundlagen seiner Schätzung nicht
darlegen, um dem FA eine Überprüfung zu ermöglichen. Selbst wenn man davon
ausgehe, dass eine wirksame Selbstanzeige vor Ablauf der regulären
Festsetzungsfrist nicht vorgelegen habe, sei gleichwohl Ablaufhemmung
eingetreten. Es sei nicht erforderlich, dass alle Tatbestandsmerkmale der §§
153, 371, 378 Abs. 3 AO erfüllt seien. Vielmehr reiche es aus, wenn der
Steuerpflichtige oder sein Berater der zuständigen Behörde anzeige, die
abgegebenen Erklärungen seien unrichtig oder unvollständig, und diese
Mitteilung so viele Tatsachenangaben enthalte, dass die angezeigte
Steuerverkürzung dem Grunde nach individualisiert werden könne.
17
Das FA beantragt, das
FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
18
Der Kläger beantragt, die
Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
19
Die Revision ist begründet. Zu Unrecht ist
das FG davon ausgegangen, dass im Zeitpunkt des Erlasses des
Einkommensteuer- und des Umsatzsteueränderungsbescheids 1987 sowie des
geänderten Gewerbesteuermessbescheids 1987 bereits Festsetzungsverjährung
eingetreten war.
20
1. Gemäß § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO beginnt die
Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung einzureichen ist, mit Ablauf
des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird; die
Festsetzungsfrist beträgt nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO im Fall der
Steuerhinterziehung zehn Jahre. Danach begann im Streitfall die
Festsetzungsfrist mit Ablauf des 31. Dezember 1988; ohne Ablaufhemmung hätte
sie am 31. Dezember 1998 geendet. Dass eine Steuerhinterziehung vorlag und
deshalb die verlängerte Festsetzungsfrist von zehn Jahren zur Anwendung
kommt, ist angesichts der über Jahre hinweg grob unrichtigen Angaben zur
Höhe der gewerblichen Einkünfte und der Kapitaleinkünfte in den
Steuererklärungen nicht zweifelhaft und wird von der Klägerseite auch nicht
in Abrede gestellt.
21
2. Die Festsetzungsfrist verlängerte sich
im Streitfall nach § 171 Abs. 9 AO über den 31. Dezember 1998 hinaus. Im
Zeitpunkt des Erlasses des Einkommensteueränderungsbescheids 1987 am 31. Mai
1999 bzw. des Umsatzsteueränderungsbescheids 1987 am 29. Oktober 1999 war
noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten.
22
a) Erstattet der Steuerpflichtige vor
Ablauf der Festsetzungsfrist eine Anzeige nach den §§ 153, 371 und 378 Abs.
3 AO, so endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres nach
Eingang der Anzeige (§ 171 Abs. 9 AO). Wer in den Fällen des § 370 AO (d.h.
der hier vorliegenden Steuerhinterziehung) unrichtige oder unvollständige
Angaben bei der Finanzbehörde berichtigt oder ergänzt oder unterlassene
Angaben nachholt, wird insoweit (unter bestimmten weiteren Voraussetzungen)
straffrei (§ 371 Abs. 1 AO).
23
b) Eine wirksame Selbstanzeige i.S. des §
371 Abs. 1 AO setzt voraus, dass die bisher unrichtigen, unvollständigen
oder ganz unterbliebenen Angaben wahrheitsgemäß nachgeholt werden.
Straffreiheit tritt nicht ein, wenn zum Zeitpunkt der Berichtigung einer der
Ausschlussgründe des § 371 Abs. 2 AO vorliegt oder wenn die Steuern nicht
innerhalb angemessener Frist nachgezahlt werden (§ 371 Abs. 3 AO). § 371 AO
will dem Täter selbst nach einer vollendeten Steuerhinterziehung noch die
Möglichkeit geben, seinen steuerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen und
eventuelle Verfehlungen nachträglich zu berichtigen. Dem Staat soll dadurch
der Zugriff auf bisher unbekannte Steuerquellen ermöglicht werden. Eine
wirksame Selbstanzeige nach § 371 Abs. 1 AO setzt daher voraus, dass der
Steuerpflichtige eine gewisse Tätigkeit entfaltet, die zu einer Berichtigung
und Ergänzung der bisherigen Angaben führt. Er muss hierdurch einen
wesentlichen Beitrag zur Ermöglichung einer zutreffenden nachträglichen
Steuerfestsetzung leisten (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs - BGH - vom
16. Juni 20055 StR 118/05, BFH/NV 2005, Beilage 4, 380). Durch die
Berichtigung und Ergänzung der bisherigen oder die Nachholung von bisher
unterbliebenen Angaben durch den Steuerpflichtigen muss das FA in der Lage
sein, ohne langwierige Nachforschungen den Sachverhalt vollends aufzuklären
(vgl. BGH-Beschluss in BFH/NV 2005, Beilage 4, 380).
24
c) In der Literatur wird eine
"Selbstanzeige in Stufen" diskutiert (vgl. hierzu Schauf in Kohlmann,
Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz 54 und 293; Simon/Vogelberg, Steuerstrafrecht,
2. Aufl., Teil II: Selbstanzeige unter 6.3.3; Joecks in Franzen/Gast/
Joecks, Steuerstrafrecht mit Zoll- und Verbrauchsteuerstrafrecht, 7. Aufl.,
§ 371 Rz 52, 77a f.; Klein/Jäger, AO, 10. Aufl., § 371 Rz 20). Jedenfalls in
Fällen, in denen der Steuerpflichtige eine Selbstanzeige dem Grunde nach
erstattet, die hinterzogenen Steuern zu seinen Ungunsten schätzt und die
Finanzbehörde um die Gewährung einer Nachfrist bittet, soll Straffreiheit
eintreten und eine nachträgliche Korrektur "nach unten" unproblematisch sein
(Schauf in Kohlmann, a.a.O., § 371 AO Rz 54 und 293).
25
d) Im Streitfall kann offenbleiben, ob sich
der Senat der Auffassung anschließen könnte, eine "Selbstanzeige in Stufen"
sei generell möglich, sie führe zur Straffreiheit und verhindere den
Eintritt eines Sperrgrundes i.S. von § 371 Abs. 2 AO. Nicht zu entscheiden
braucht der Senat ebenfalls die Frage, ob das Schreiben des Klägers vom 6.
November 1998 auch hinsichtlich des Jahres 1987 die Voraussetzungen der
ersten Stufe einer gestuften Selbstanzeige erfüllen würde, obwohl der Kläger
in diesem Schreiben die nicht erklärten Zinsen nur für die strafrechtlich
relevanten Jahre geschätzt hat.
26
e) Die Ablaufhemmung i.S. von § 171 Abs. 9
AO kann jedenfalls auch aufgrund einer "Selbstanzeige" eintreten, welche die
Voraussetzungen des § 371 Abs. 1 AO für die strafbefreiende Wirkung einer
Selbstanzeige (noch) nicht erfüllt.
27
Die Selbstanzeige nach § 371 AO will - aus
fiskalischen Gründen - Steuerhinterziehern eine "goldene Brücke" bauen.
Liegt eine wirksame Selbstanzeige i.S. von § 371 AO vor, tritt - auch bei
vollendeter Steuerhinterziehung - Straffreiheit ein. Liegt die Tat mehrere
Jahre zurück und sind gar Auslandssachverhalte berührt, ist es für den
selbstanzeigewilligen Steuerpflichtigen - wie auch der Streitfall zeigt -
schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Zahlenangaben sofort vorzulegen, die
eine Berichtigungserklärung i.S. des § 371 Abs. 1 AO erfordert (vgl. Schauf
in Kohlmann, a.a.O., § 371 AO Rz 53.3). Diesem Problem hat die
Finanzverwaltung bis 2004 (also auch in dem Jahr, in dem der Kläger
Selbstanzeige erstattet hatte) Rechnung getragen und in ihren Anweisungen
für das Straf- und Bußgeldverfahren (Steuer) - AStBV (St) - dem Erstatter
der Selbstanzeige Gelegenheit gegeben, eine unvollständige und damit
unwirksame Selbstanzeige zu vervollständigen und Straffreiheit zu erlangen
(vgl. Nr. 120 Abs. 1 Satz 1 AStBV (St) a.F.). Seither sehen die Anweisungen
allerdings vor, dass die Bußgeld- und Strafsachenstelle die Ermittlungen
selbst durchzuführen oder zu veranlassen hat, falls die Angaben für eine
wirksame Selbstanzeige nicht ausreichen und der Sachverhalt weiter
aufklärungsbedürftig ist.
28
Die Ablaufhemmung soll nach dem Willen des
Gesetzgebers der Finanzbehörde in bestimmten Fällen auch dann noch eine
Steuerfestsetzung ermöglichen, wenn dies aus bestimmten Gründen während der
regelmäßigen Festsetzungsfrist nicht möglich ist (vgl. BTDrucks VI/1982, S.
151). § 171 Abs. 9 AO räumt der Finanzbehörde die Möglichkeit ein, innerhalb
eines Jahres die zutreffenden Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln, wenn der
Steuerpflichtige selbst erklärt, unzutreffende Angaben gemacht und so
Steuern hinterzogen zu haben. Maßgeblich für den Beginn der Ablaufhemmung
nach § 171 Abs. 9 AO kann daher nur sein, dass der Steuerpflichtige den
entsprechenden Lebenssachverhalt so aufdeckt, dass die Finanzbehörde in die
Lage versetzt wird, insoweit ihrer Ermittlungspflicht nachzukommen. Erfüllt
der Steuerpflichtige dann seine weiterhin bestehenden Mitwirkungspflichten
nicht, kann die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen, auf die sich die
"Selbstanzeige" des Steuerpflichtigen bezieht, notfalls auch schätzen. Aus
diesem Grund und angesichts der Tatsache, dass Steuerpflichtige, deren Tat
mehrere Jahre zurückliegt, häufig nicht in der Lage sind, sämtliche Angaben
für eine vollständige Selbstanzeige i.S. des § 371 AO zu machen, sowie der
gesetzgeberischen Intention, durch die Ablaufhemmung zu erreichen, dass
Sachverhalte, auf die sich die Selbstanzeige bezieht, auch tatsächlich bei
der Besteuerung berücksichtigt werden können, ist es gerechtfertigt, an eine
zur Ablaufhemmung führende Selbstanzeige geringere Anforderungen zu stellen
als an eine die Straffreiheit bewirkende Selbstanzeige. Nicht nur eine zur
Straffreiheit nach § 371 AO führende Selbstanzeige, mit der der
Steuerpflichtige seine unrichtigen oder unvollständigen Angaben in vollem
Umfang berichtigt oder ergänzt, kann die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 9 AO
auslösen. Ausreichend für den Beginn der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 9 AO
ist, dass die angezeigte Steuerverkürzung dem Grunde nach individualisiert
werden kann. Dies setzt voraus, dass der Steuerpflichtige Steuerart und
Veranlagungszeitraum benennt und den Sachverhalt so schildert, dass der
Gegenstand der Selbstanzeige erkennbar wird (vgl. auch Urteil des
Niedersächsischen FG in EFG 2004, 468; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 171 AO Rz 84; Frotscher in Schwarz, AO, § 171 Rz
73a und 73b). Dadurch wird der nachzuversteuernde Sachverhalt gegenständlich
bestimmt (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 10. Juni 2005 VIII B
324/03, Steuer-Eildienst 2005, 2149). Zwar ist die Finanzbehörde aufgrund
einer unvollständigen Selbstanzeige noch nicht in der Lage, die zutreffende
Steuerschuld festzusetzen. Der Fristlauf wird daher in solchen Fällen in
Gang gesetzt, obwohl die Finanzbehörde noch nicht alle für eine Berichtigung
des unrichtigen Steuerbescheids erforderlichen Angaben besitzt. Dies führt
jedoch nicht dazu, dass der Steuerpflichtige durch die Abgabe einer
Selbstanzeige "dem Grunde nach" die der Finanzbehörde maximal zur Verfügung
stehende Zeit für den Erlass eines Änderungsbescheids von einem Jahr
einseitig verkürzen könnte. Vielmehr hat diese es in der Hand, wie lange sie
auf die noch fehlenden Angaben des Steuerpflichtigen nach einer nicht
vollständigen Selbstanzeige wartet oder aber eigene Ermittlungen -
beispielsweise durch eine Außenprüfung - durchführt bzw., falls diese keinen
Erfolg versprechen, die Besteuerungsgrundlagen aufgrund der Angaben des
Steuerpflichtigen schätzt.
29
f) Die vom FG vorgenommene Auslegung des §
171 Abs. 9 AO würde zu Wertungswidersprüchen führen. Gegenüber einem in
vollem Umfang ehrlich gewordenen Steuerpflichtigen könnte die Finanzbehörde
die hinterzogene Steuer im Rahmen des § 171 Abs. 9 AO festsetzen. Berichtigt
der Steuerpflichtige die unvollständigen oder unrichtigen Angaben hingegen
nur teilweise, würde die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 9 AO nicht greifen.
Zudem ist zu beachten, dass auch eine Anzeige nach § 153 AO die
Ablaufhemmung des § 171 Abs. 9 AO auslöst. Führt aber die pflichtgemäße
Korrektur von Angaben, die zunächst nur fahrlässig falsch gemacht wurden, zu
einer Ablaufhemmung, muss gleiches auch für die beschränkte Korrektur
vorsätzlich falscher Angaben gelten.
30
3. Im Streitfall hat der Kläger im
Schreiben vom 6. November 1998 und somit noch vor Ablauf der gesetzlichen
Festsetzungsfrist den nachzuversteuernden, das Streitjahr betreffenden
Sachverhalt gegenständlich bestimmt. Er hat erklärt, dass er (auch) im Jahr
1987 hinsichtlich der Einkünfte aus Gewerbebetrieb und aus Kapitalvermögen
unrichtige bzw. unvollständige Angaben in seiner Einkommensteuer-,
Gewerbesteuer- und Umsatzsteuererklärung gemacht hat. Damit hat er der
Finanzbehörde seine Tat in Grundzügen mitgeteilt. Der
Einkommensteueränderungsbescheid 1987 vom 31. Mai 1999 und der geänderte
Umsatzsteuerbescheid 1987 vom 29. Oktober 1999 sind vor dem Ende der
Ablaufhemmung am 6. November 1999 und damit in nicht verjährter Zeit
erlassen worden. Zwar wurde der geänderte Bescheid über den
Gewerbesteuermessbetrag 1987 erst am 19. November 1999 und damit nach Ablauf
der Jahresfrist nach § 171 Abs. 9 AO zur Post gegeben. Wegen der wirksamen
Änderung des Einkommensteuerbescheids 1987 konnte das FA jedoch den
Gewerbesteuermessbescheid 1987 nach § 35b GewStG i.V.m. § 171 Abs. 10 AO
ändern.
31
4. Da der Kläger den nachzuversteuernden,
das Streitjahr betreffenden Sachverhalt gegenständlich bestimmt und somit
auch für 1987 eine zur Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 9 AO führende
"Selbstanzeige" noch vor Ablauf der Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2
Satz 2 AO beim FA eingereicht hat, brauchte der Senat die Frage nicht zu
entscheiden, ob eine sich auf einen einheitlichen Lebenssachverhalt
beziehende Selbstanzeige überhaupt auf bestimmte Jahre eingeschränkt werden
kann.
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