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BFH-Urteil vom 22.4.2010 (VI R 40/08) BStBl. 2010 II S. 951
Korrektur von Steuerbescheiden - Rechtserheblichkeit neuer Tatsachen
1.
Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder
Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nicht aufgehoben oder geändert
werden, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder
Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht anders
entschieden hätte.
2.
Maßgebend für diese Kausalitätsprüfung ist grundsätzlich der Zeitpunkt, in
dem die Willensbildung des FA über die Steuerfestsetzung abgeschlossen wird.
3.
Wie das FA bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen
Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im
Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung
des BFH ausgelegt wurde, und den die FÄ bindenden Verwaltungsanweisungen zu
beurteilen.
4.
Liegen unmittelbar zu der umstrittenen Rechtslage weder Rechtsprechung des
BFH noch bindende Verwaltungsanweisungen vor, so ist aufgrund anderer
objektiver Umstände abzuschätzen, wie das FA in Kenntnis des vollständigen
Sachverhalts entschieden hätte. Dabei sind das mutmaßliche Verhalten des
einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen Rechtskenntnisse ohne
Bedeutung.
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2.
Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 22. August
2008 11 K 580/07 E (EFG 2008, 1926)
Sachverhalt
I.
1
Streitig ist, ob
bestandskräftige Einkommensteuerfestsetzungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der
Abgabenordnung (AO) zu ändern sind.
2
Die Kläger und
Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute und wurden in den Streitjahren
(2001 bis 2003) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger, der bei
der Stadtsparkasse A beschäftigt war, erwarb im Rahmen dieser Tätigkeit auch
Ansprüche auf eine betriebliche Altersvorsorge. Bedingt durch die Auflösung
der Zusatzversorgungskasse der Landeshauptstadt A wechselte die
Stadtsparkasse zur Durchführung ihrer betrieblichen Altersvorsorge zur Y
Zusatzversorgungskasse in B. Zum Ausgleich hierfür hat sie an die
übernehmende Versorgungskasse neben einer allgemeinen Umlage einen
jährlichen Nachteilsausgleich geleistet, diese Zahlungen - anteilig - als
Arbeitslohn des Klägers behandelt und dem Lohnsteuerabzug unterworfen.
Dementsprechend sind auch die auf den Kläger entfallenden
Nachteilsausgleichszahlungen in den auf den Lohnsteuerbescheinigungen
ausgewiesenen Bruttoarbeitslöhnen enthalten und in die
Einkommensteuerfestsetzungen für die Streitjahre eingegangen.
3
Von diesem Umstand erfuhr
der Kläger erstmals auf Grund einer "Allgemeinen Information" der
Stadtparkasse A vom 15. März 2006. Zugleich wurde ihm mitgeteilt, dass die
Versteuerung fehlerhaft gewesen sei, wie sich aus dem zwischenzeitlich
ergangenen Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 14. September 2005 VI R
148/98 (BFHE 210, 443, BStBl II 2006, 532) ergebe. Daraufhin beantragten die
Kläger beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) erfolglos, die
bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen der Streitjahre nach § 173
Abs. 1 Nr. 2 AO dahingehend zu ändern, dass die zu Unrecht erfolgte
Besteuerung des Nachteilsausgleichs als Arbeitslohn rückgängig gemacht
werde. Auch die hiergegen eingelegten Einsprüche blieben ohne Erfolg. Der
fristgerecht erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit den in
Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 1926 veröffentlichten Gründen statt.
4
Mit der Revision rügt das FA
die Verletzung materiellen Rechts.
5
Das FA beantragt, das Urteil
des FG Düsseldorf vom 22. August 200811 K 580/07 E aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
6
Die Kläger beantragen, die
Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
7
Die Revision des FA ist begründet. Sie
führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126
Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat zu
Unrecht entschieden, dass die Einkommensteuerfestsetzungen 2001 bis 2003
nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern sind.
8
1. Die Vorentscheidung verletzt § 173 Abs.
1 Nr. 2 AO. Danach sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit
Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer
niedrigeren Steuer führen.
9
a) Der Senat kann dahinstehen lassen, ob es
sich bei dem Umstand, dass der auf der Lohnsteuerkarte des Klägers
ausgewiesene Bruttolohn in den Streitjahren auch auf diesen entfallende
Nachteilsausgleichszahlungen enthält, um eine dem FA nachträglich
bekanntgewordene Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO handelt. Denn auch bei
rechtzeitiger Kenntnis um diese Sonderzahlungen an die aufnehmende
Versorgungskasse und deren - anteilige - Erfassung in den
Lohnsteuerbescheinigungen des Klägers wäre das FA bei der ursprünglichen
Veranlagung zu keiner niedrigeren Steuer gelangt.
10
b) Seit dem Beschluss des Großen Senats des
BFH vom 23. November 1987 GrS 1/86 (BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180)
vertritt die höchstrichterliche Finanzrechtsprechung die Auffassung, dass
ein Steuerbescheid wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder
Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nur aufgehoben oder geändert
werden darf, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder
Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders
entschieden hätte (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, unter
C. II. am Anfang). Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO scheidet hingegen aus,
wenn die Unkenntnis der später bekanntgewordenen Tatsache für die
ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist,
weil das FA auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuer gelangt wäre
(BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, unter C. II. 2. b).
11
Rechtfertigender Grund für die
Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173 AO ist nicht die Unrichtigkeit
der Steuerfestsetzung, sondern der Umstand, dass das FA bei seiner
Entscheidung von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Demnach
ist die nachträgliche Berücksichtigung neuer Tatsachen und Beweismittel
strikt von der Korrektur von Rechtsfehlern abzugrenzen. Insbesondere dürfen
über den Umweg des § 173 Abs. 1 AO Rechtsfehler der Finanzbehörde weder
zulasten (Nr. 1) noch zugunsten des Steuerpflichtigen (Nr. 2) berichtigt
werden. Das Kriterium der Rechtserheblichkeit (Kausalität) der neuen
Tatsache bei der ursprünglichen Veranlagung schließt demnach aus, dass die
Beteiligten des Steuerschuldverhältnisses mit Hilfe eines Änderungsbescheids
eine neue Tatsache zum bloßen Anlass oder Vorwand nehmen, ihre geläuterte
Rechtsansicht nachträglich durchzusetzen (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495,
BStBl II 1988, 180). Der Gesetzgeber hat vielmehr dem Rechtsfrieden und der
Rechtssicherheit in solchen Fällen Vorrang vor der materiellen Richtigkeit
der ergangenen Verwaltungsentscheidung eingeräumt (BFH-Beschluss in BFHE
151, 495, BStBl II 1988, 180).
12
c) Maßgebend für die Frage nach der
Rechtserheblichkeit einer neuen Tatsache oder eines neuen Beweismittels ist
grundsätzlich der Zeitpunkt, in dem die Willensbildung des FA über die
Steuerfestsetzung abgeschlossen wird, d.h. im Normalfall der Zeitpunkt der
abschließenden Zeichnung des Eingabewertbogens (bei EDV-mäßiger Abwicklung
der Steuerfestsetzung) oder der Verfügung zum Steuerbescheid (BFH-Urteile
vom 13. Juli 1990 VI R 109/86, BFHE 161, 11, BStBl II 1990, 1047, und vom
20. Juni 2001 VI R 70/00, BFH/NV 2001, 1527; von Wedelstädt in
Beermann/Gosch, AO § 173 Rz 29,
13
d) Wie das FA bei Kenntnis bestimmter
Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen
Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es
nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und den die FÄ
bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des
ursprünglichen Bescheiderlasses durch das FA gegolten haben (ständige
Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteile vom 15. März 2007 III R 57/06, BFH/NV 2007,
1461; in BFH/NV 2001, 1527; vom 15. Dezember 1999 XI R 22/99, BFH/NV 2000,
818; Senatsbeschluss vom 10. Oktober 2007 VI B 48/06, BFH/NV 2008,
14
Demgegenüber hat das FG im Streitfall den
hypothetischen Kausalverlauf allein nach den idealtypischen individuellen
Rechtskenntnissen des zuständigen Veranlagungssachbearbeiters und nicht nach
der in den Streitjahren herrschenden Verwaltungsauffassung beurteilt.
Deshalb war die Vorentscheidung aufzuheben.
15
2. Die Sache ist spruchreif.
16
Die Klage wird abgewiesen. Dass der auf der
Lohnsteuerkarte des Klägers ausgewiesene Bruttolohn in den Streitjahren auch
auf diesen entfallende Nachteilsausgleichszahlungen enthält, ist bei der
ursprünglichen Veranlagung nicht rechtserheblich gewesen.
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a) Im Streitfall wäre das FA bei den
Veranlagungen der Streitjahre auch bei rechtzeitiger Kenntnis des Umstands,
dass der auf der Lohnsteuerkarte des Klägers ausgewiesene Bruttoarbeitslohn
in den Streitjahren auch die auf ihn entfallenden
Nachteilsausgleichzahlungen enthielt, zu keiner anderen Steuer gelangt. Es
hätte insbesondere nicht den Entlohnungscharakter der streitigen
Sonderzahlungen verneint, sondern vielmehr die Ausgleichszahlungen im
Zeitpunkt der streitigen Veranlagungen als steuerbaren Arbeitslohn
beurteilt. Nach dem Urteil des Senats in BFHE 210, 443, BStBl II 2006, 532
fließt zwar den Arbeitnehmern kein Arbeitslohn zu, wenn der Arbeitgeber beim
Wechsel zu einer anderen umlagefinanzierten Zusatzversorgungskasse
Sonderzahlungen leistet. Im Streitfall erfolgte die abschließende Zeichnung
der Eingabewertbögen zu den Einkommensteuerbescheiden 2001, 2002 und 2003
unstreitig jedoch jeweils vor der Veröffentlichung des BFH-Urteils in BFHE
210, 443, BStBl II 2006,
18
b) Bei rechtzeitiger Kenntnis von der im
Bruttolohn des Klägers enthaltenen anteiligen Sonderumlage hätte das FA
entsprechend der damaligen Verwaltungsauffassung diese Zahlungen als
Arbeitslohn erfasst und der Besteuerung unterworfen. Dies ergibt sich vor
allem aus dem Umstand, dass die Finanzverwaltung des Landes
Nordrhein-Westfalen die Revisionsverfahren VI R 32/04 und VI R 148/98
geführt und in diesen Verfahren stets die Auffassung vertreten hat, dass es
sich bei Sonderumlagen in Versorgungssysteme um Arbeitslohn handele. Darüber
hinaus ist die Auffassung der Finanzbehörden, dass der Nachteilsausgleich
als Arbeitslohn zu erfassen sei, u.a. in der Mitteilung für den
Lohnsteueraußendienst Nr. 12/2001 vom 5. Dezember 2001 niedergelegt.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist insoweit ohne Bedeutung, ob der
zuständige Veranlagungssachbearbeiter diese Mitteilung kannte und
berücksichtigt hätte. Insoweit ist ausreichend, dass aus diesem internen
Schreiben die Rechtsauffassung der Verwaltung hervorgeht. Dies gilt
gleichermaßen für den Schriftwechsel des Finanzministeriums des Landes
Nordrhein-Westfalen und der Steuerberatungsgesellschaft der
Zusatzversorgungskasse der Landeshauptstadt A. Auch aus diesen Schreiben ist
zweifelsfrei ersichtlich, dass die Landesfinanzbehörden im Streitfall bei
der Besteuerung von Zukunftssicherungsleistungen nicht nach allgemeinen
Umlagezahlungen und dem sogenannten Nachteilsausgleich unterschieden hätten.
19
Schließlich weist das FA auch zu Recht
darauf hin, dass sich aus der Gesetzesbegründung des Jahressteuergesetzes
2007 die in den Streitjahren herrschende Verwaltungsauffassung ergibt. Dort
ist ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach Auffassung der
Finanzverwaltung Sonderzahlungen des Arbeitgebers, die er anlässlich der
Überführung einer Mitarbeiterversorgung in eine Zusatzversorgungskasse
leistet, als steuerpflichtiger Arbeitslohn beurteilt worden sind (BTDrucks
16/2712,
20
Folglich hätte die streitige Änderung der
Einkommensteuerbescheide 2001, 2002 und 2003 mangels Rechtserheblichkeit
dieses Umstands nicht durchgeführt werden dürfen. Damit war die Klage
abzuweisen.
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