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BFH-Urteil vom 19.12.1979 (I R 23/79) BStBl. 1980 II S. 368

1. Die Ablaufhemmung der Verjährung nach § 146 a Abs. 3 AO endet auch dann nicht durch (bloßen) Zeitablauf, wenn die Betriebsprüfung zunächst zum Erlaß eines Grundlagenbescheids geführt hat (vgl. Urteil vom 3. Mai 1979 I R 49/78, BFHE 128, 364, BStBl II 1979, 738).

2. Der Steueranspruch wird in der Regel allein durch Jahrelanges Untätigbleiben der Finanzbehörden nach Erlaß eines im Anschluß an eine Betriebsprüfung ergehenden Gewinnfeststellungsbescheides nicht verwirkt.

AO § 146a Abs. 3.

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hatte in den Streitjahren 1965 bis 1969 eine ... anlage sowie einen ... handel betrieben. Den ... handel hatte er vom 1. Juli 1967 an gemeinsam mit seiner Ehefrau in der Form einer Kommanditgesellschaft (KG) geführt.

Eine im Jahre 1970 für die Streitjahre durchgeführte Betriebsprüfung, die sich u. a. auf den Einheitswert des Betriebsvermögens und die Gewerbesteuer für beide Unternehmungen, die Gewinnfeststellung für die KG und die Einkommensteuer für den Kläger und seine Ehefrau erstreckt hatte, hatte hinsichtlich der angefochtenen Bescheide zu für den Kläger und seine Ehefrau nachteiligen Feststellungen geführt. Der Kläger hatte den Prüfungsergebnissen in der Schlußbesprechung am 22. September 1970 zugestimmt. Die Prüfungsberichte waren ihm am 29. Oktober 1970 übersandt worden. Das für die einheitliche Gewinnfeststellung zuständige Finanzamt hatte am 5. März 1971 (für die KG) einen entsprechend den Prüfungsfeststellungen geänderten Gewinnfeststellungsbescheid erlassen.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) hat die Mitteilungen über die Gewinnänderungen (beim Kläger und seiner Ehefrau) ebenfalls am 5. März 1971 erhalten. Ihnen wurde erstmals im geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1967 vom 18. August 1976 Rechnung getragen. Auch die übrigen aufgrund der Betriebsprüfung veranlaßten Änderungen nahm das FA (erst) im Laufe des Jahres 1976 vor.

Die Einsprüche des Klägers, mit denen er Verjährung der mit den angefochtenen Bescheiden festgesetzten bzw. auf ihrer Grundlage noch festzusetzenden Steuern geltend gemacht hatte, waren erfolglos. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen.

Dagegen wendet sich der Kläger mit der Revision. Er rügt Verletzung materiellen Rechts. Da im Streitfall zwischen dem Abschluß der Betriebsprüfung und dem Erlaß der Bescheide mehr als sechs Jahre lägen, seien die Steueransprüche verjährt (Hinweis auf das Urteil des FG München vom 21. November 1974 IV 253/72, Entscheidungen der Finanzgerichte 1975 S. 131 - EFG 1975, 131 -). Das FG habe jedenfalls die Voraussetzungen des Rechtsinstituts der Verwirkung verkannt. Angesichts der langen Untätigkeit des FA habe es eines weiteren - positiven - Verhaltens der Behörde nicht mehr bedurft. Der Kläger sei gegenüber all den Steuerpflichtigen benachteiligt, bei denen - in sonst vergleichbarer Situation - keine Betriebsprüfung stattgefunden habe.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

1. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, daß die streitigen Steueransprüche zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Bescheide noch nicht verjährt waren. Die Ablaufhemmung des - im Streitfall nach Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (AOÄG) vom 15. September 1965 (BGBl I, 1356, BStBl I, 643) anzuwendenden - § 146a Abs. 3 der Reichsabgabenordnung (AO) dauerte noch fort.

a) Der Gesetzgeber hat in § 146a Abs. 3 AO keine Frist bestimmt, in der die Betriebsprüfung abzuschließen ist und die Steuerbescheide zu erlassen sind. Der klare Wortlaut des § 146a Abs. 3 AO läßt die Auslegung nicht zu, daß die Hemmung des Ablaufs der Verjährungsfrist auch durch einen anderen als einen der in dieser Vorschrift genannten Gründe beendet werden könnte (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. Mai 1979 I R 49/78, BFHE 128, 364, BStBl II 1979, 738, mit weiteren Nachweisen). Eine analoge Anwendung anderer Verjährungsvorschriften - entgegen dem Wortlaut des § 146a Abs. 3 AO - verbietet sich bereits aus grundsätzlichen Erwägungen. Voraussetzung für jede Analogie ist das Vorliegen einer Lücke im Gesetz (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., 1979 S. 366 ff.). Das Gesetz muß sich - gemessen an seiner Systematik - als planwidrig unvollständig und ergänzungsbedürftig erweisen (BFH-Urteil vom 12. November 1976 VI R 167/74, BFHE 120, 398, BStBl II 1977, 154 mit weiteren Nachweisen). Das trifft im Fall des § 146 a Abs. 3 AO nicht zu. Mit der Neuregelung der Verjährungsvorschriften durch das Gesetz zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 15. September 1965 wollte der Gesetzgeber einerseits die berechtigte Forderung der Steuerpflichtigen nach baldiger Gewißheit über die endgültige Höhe der Steuerschuld und das Interesse der Allgemeinheit an einer gleichmäßigen und gerechten Besteuerung besser aufeinander abstimmen. Demzufolge sollte auch der Betriebsprüfung keine verjährungsunterbrechende Wirkung mehr zukommen. Andererseits wollte der Gesetzgeber mit der Bestimmung des § 146a Abs. 3 AO verhindern, daß während der Betriebsprüfung eine Verjährung der geprüften Abgabenansprüche eintreten könne (vgl. Begründung zum Gesetz zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze, § 146a Abs. 3 AO, Bundestags-Drucksache IV/ 2442, S. 12). Dabei hat der Gesetzgeber offenbar darauf verzichtet, in die Vorschrift eine zeitliche Begrenzung für den Erlaß der aufgrund der Betriebsprüfung ergehenden Steuerbescheide aufzunehmen. Er ist davon ausgegangen, daß die Finanzbehörden nach Abschluß der Betriebsprüfung unverzüglich tätig werden und die entsprechenden Steuerbescheide erlassen würden (vgl. das BFH-Urteil vom 29. Januar 1974 VII R 69/71, BFHE 111, 293, BStBl II 1974, 308).

b) Diese Erwägungen gelten im Streitfall auch für die Einkommensteuer des Streitjahres 1967, soweit sie aufgrund des einheitlichen Gewinnfeststellungbescheides vom 5. März 1971 festgesetzt worden ist. Führt die Betriebsprüfung zunächst zu einer Änderung von Grundlagenbescheiden, so verjähren die Steueransprüche nicht, bevor die Folgebescheide unanfechtbar geworden sind. In solchen Fällen sind diese Bescheide die "aufgrund der Betriebsprüfung ergangenen Steuerbescheide" (§ 210 AO; vgl. auch die Urteile des BFH vom 10. Dezember 1971 III R 35/71, BFHE 104, 282, BStBl II 1972, 331, und vom 14. September 1978 IV R 89/74, BFHE 126, 130, 136, BStBl II 1979, 121).

Auch in diesen Fällen endet die Verjährungshemmung nicht durch Zeitablauf. Es kann insbesondere nicht auf den Rechtsgedanken des § 146a Abs. 2 AO zurückgegriffen werden, wonach der Gesetzgeber im Fall der Anfechtung eines Grundlagenbescheides für den Erlaß der Folgebescheide die Frist von einem Jahr seit Unanfechtbarkeit des Grundlagenbescheides für ausreichend hält. Abgesehen von den (unter Nr. 1 a) dargestellten grundsätzlichen Bedenken gegen eine derartige Analogie berücksichtigt § 146 a Abs. 3 AO bereits selbst die Möglichkeit der Anfechtung der aufgrund der Betriebsprüfung ergangenen Bescheide. Für den Zeitpunkt der Beendigung der Verjährungshemmung ist auf die Unanfechtbarkeit dieser Bescheide abgestellt (vgl. auch Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 146 a AO Anm. 4 am Ende).

Daß die Finanzbehörden bei dieser Rechtslage - nach Erlaß eines aufgrund einer Betriebsprüfung geänderten Grundlagenbescheides - die Steueransprüche unter Umständen innerhalb einer längeren Zeitspanne geltend machen können als wenn der Lauf der Verjährungsfrist nur an die Abgabe der Steuererklärung geknüpft ist, begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vor (vgl. hierzu z. B. den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 12. April 1972 2 BvR 704/70, BVerfGE 33, 44, 51, mit weiteren Nachweisen). Der Senat hält es für sachlich vertretbar und gerechtfertigt, daß in Fällen, in denen der Steuerpflichtige - wie im Streitfall der Kläger für das Streitjahr 1967 - bereits einen behördlichen Bescheid über den Ansatz und die Höhe einzelner Besteuerungsgrundlagen erhalten hat, der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit auf Kosten der materiellen Gerechtigkeit zurücktritt.

Etwaigen Unbilligkeiten kann - wie in den Fällen, in denen die Steuerbescheide unmittelbar aufgrund der Betriebsprüfung ohne vorherigen Erlaß von Grundlagenbescheiden ergehen - durch die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben (insbesondere der Verwirkung) begegnet werden.

2. Rechtsfehlerfrei hat das FG im Streitfall jedoch eine Verwirkung der Steueransprüche abgelehnt.

Als Anwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Tuns (venire contra factum proprium) greift Verwirkung nur ein, wenn ein Anspruchsberechtigter durch sein Verhalten beim Verpflichteten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, daß nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung des Anspruchs als illoyale Rechtsausübung empfunden wird (BFHE 126, 130, 137, BStBl II 1979, 121 mit zahlreichen Nachweisen). Das bloße Untätigbleiben der Finanzbehörden reicht hierfür nach ständiger Rechtsprechung des BFH jedoch nicht aus (vgl. z. B. die Urteile vom 22. Juni 1977 I R 171/74, BFHE 123, 321, 324, BStBl II 1978, 33, und vom 14. September 1977 II R 74/76, BFHE 123, 299, 305, BStBl II 1978, 168). Der Senat verkennt nicht, daß diese Rechtsprechung in Fällen des § 146a Abs. 3 AO unter Umständen zu Unzuträglichkeiten führen kann. Es ist denkbar, in besonders gelagerten Ausnahmefällen Verwirkung aufgrund bloßen Zeitablaufs zu bejahen (vgl. BFHE 126, 130, 140, BStBl II 1979, 121). Ein derartiger besonders gelagerter Fall liegt hier jedoch nicht vor. Die Finanzbehörden haben nach Übersendung der Betriebsprüfungsberichte im Jahre 1970 im darauffolgenden Jahr (1971) den geänderten Gewinnfeststellungsbescheid und im Jahr 1976 die angefochtenen Steuerbescheide erlassen. Bei dieser Rechts- und Sachlage hat das FG zutreffend dem Umstand Bedeutung beigemessen, daß der Kläger aufgrund des Ergebnisses der Betriebsprüfung mit Steuernachforderungen rechnen mußte. Auch der Senat geht davon aus, daß in Fällen, in denen eine Betriebsprüfung stattgefunden hat, deren Ergebnisse dem Steuerpflichtigen mitgeteilt worden sind, eher strengere Anforderungen an den Eintritt der Verwirkung zu stellen sind. Ein Steuerpflichtiger, dem bereits die Grundlagen der noch vorzunehmenden Besteuerung vom FA mitgeteilt worden sind, kann nicht in dem Maße darauf vertrauen, nicht mehr zur Entrichtung der Steuern herangezogen zu werden wie andere Steuerpflichtige, die vom FA noch keinerlei Äußerung erhalten haben.

Tatsachen, aus denen sich sonst eine Verwirkung der Steueransprüche herleiten ließe, insbesondere ein Verhalten des FA, aus dem der Kläger hätte entnehmen können, die Behörde werde die aufgrund der Betriebsprüfung anfallenden Mehrsteuern nicht mehr geltend machen, hat das FG nicht festgestellt und sind vom Kläger auch nicht vorgetragen worden.