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BFH-Urteil vom 8.10.1980 (II R 8/76) BStBl. 1981 II S. 82

1. Der Erlaß des Hessischen Ministers der Finanzen vom 18. Oktober 1972, wonach eine Erstattung des BFH-Urteils vom 9. Februar 1972 II R 99/70 (BFHE 105, 172, BStBl II 1972, 503) nur in Steuerfällen möglich sein soll, die im Zeitpunkt der Veröffentlichung des Urteils noch nicht abgeschlossen sind, hält sich nicht in den Grenzen, die § 131 AO dem Ermessen zog.

2. Die Ablehnung eines Antrags auf Erstattung von Grunderwerbsteuer (wegen sachlicher Unbilligkeit) kann rechtmäßig sein, wenn der Antrag unverhältnismäßig spät gestellt worden ist.

AO § 131; StAnpG § 2 Abs. 1; AO 1977 §§ 5, 227.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine Anstalt des öffentlichen Rechts, hatte am 10. April 1970 im Verfahren zur Zwangsversteigerung eines in Hessen gelegenen Grundstücks das Meistgebot (235.000 DM) abgegeben. Die Grunderwerbsteuer für diesen Erwerbsvorgang hatte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) zunächst nicht erhoben, weil die Klägerin das Meistgebot zur Rettung ihrer Grundpfandrechte abgegeben hatte. Später, durch Bescheid vom 11. Januar 1971, hatte er 13.000 DM Grunderwerbsteuer nacherhoben, weil er festgestellt hatte, daß die Klägerin das ihr zugeschlagene Grundstück (Einheitswert 31.900 DM) am 16. Dezember 1970 zu einem um 26.000 DM höheren Preis (261.000 DM) weiterveräußert hatte. Der Steuerbescheid ist unanfechtbar geworden, die Steuer ist am 22. Februar 1971 entrichtet worden.

Rund zwei Jahre später, mit Schreiben vom 19. Februar 1973, beantragte die Klägerin, ihr die Grunderwerbsteuer zu erstatten. Deren Einziehung sei unbillig. Den Wertungen des Gesetzgebers laufe es zuwider, von ihr Grunderwerbsteuer zu erheben, da sie bei der Weiterveräußerung des Grundstücks einen Verlust an ihren ausgefallenen Rechten nicht habe abdecken können. In diesem Sinne habe der Bundesfinanzhof (BFH) in seinem Urteil vom 9. Februar 1972 II R 99/70 (BFHE 105, 172, BStBl II 1972, 503) erkannt.

Das FA lehnte es durch Verfügung vom 11. April 1973 ab, die Grunderwerbsteuer zu erstatten. Das erwähnte Urteil sei aufgrund einer Anweisung des Hessischen Ministers der Finanzen vom 18. Oktober 1972 (S-4516 A - 1 - II B 41) im vorliegenden Falle nicht anwendbar, weil im Zeitpunkt seiner Veröffentlichung die Steuer bereits unanfechtbar festgesetzt und entrichtet gewesen sei.

Die Oberfinanzdirektion (OFD) wies die Beschwerde durch Entscheidung vom 28. Juni 1974 als unbegründet zurück. Der angeführte Erlaß des Hessischen Ministers der Finanzen binde "die Verwaltung in jeder Hinsicht", so daß die Steuer selbst dann nicht erstattet werden dürfte, "wenn die Berücksichtigung des Urteils eine für die Beschwerdeführerin günstige Lage schaffen könnte". Durch ihn solle im Interesse der Rechtssicherheit und der gleichmäßigen Besteuerung vermieden werden, daß bereits bestandskräftige Verwaltungsakte erneut angegriffen werden. Der BFH habe im Urteil vom 7. Oktober 1965 IV 139/65 U (BFHE 83, 555, BStBl III 1965, 700) klargestellt, daß die Einziehung einer Steuer, die "im Vertrauen auf den Bestand der Rechtsprechung" gezahlt worden sei, nicht deshalb sachlich unbillig sei, weil die Gerichte eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsauffassung aufgegeben haben.

Das Finanzgericht (FG) hat die Ablehnungsverfügung und die Beschwerdeentscheidung aufgehoben und das FA verpflichtet, die Klägerin nach Maßgabe der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Mit der Revision rügt das FA die unrichtige Anwendung des § 131 der Reichsabgabenordnung (AO) und beantragt, das Urteil des FG aufzuheben.

Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet soweit sie sich gegen die Aufhebung der Ablehnungsverfügung und der Beschwerdeentscheidung richtet; jedoch ist die Rechtsauffassung, zu deren Beachtung das FG das FA verpflichtet hat, einzuschränken.

Das FG hat zutreffend die Ablehnung der Erstattung von Grunderwerbsteuer als Ermessensentscheidung der Finanzverwaltungsbehörden beurteilt und demzufolge gemäß § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nur geprüft, ob die Ablehnung der Steuererstattung rechtswidrig ist, "weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist". Es hat richtig erkannt, daß die Ablehnung der Steuererstattung rechtswidrig war. Sie war rechtswidrig, weil FA und OFD ihr Ermessen nach der Anweisung des Hessischen Ministers der Finanzen vom 18. Oktober 1972 ausübten, diese sich aber nicht in den Grenzen hielt, die das Gesetz dem Ermessen zog (§ 2 Abs. 1 des früheren Steueranpassungsgesetzes - StAnpG -, jetzt § 5 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Das Gesetz ermächtigte den Hessischen Minister der Finanzen, Steuern zu erstatten, wenn deren "Einziehung nach Lage des einzelnen Falles" unbillig wäre (§ 131 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 3 AO). Diese Ermessensgrenze hat der Hessische Minister der Finanzen überschritten durch seine Anweisung, das erwähnte Urteil (BFHE 105, 172) "nur auf ... im Zeitpunkt der Veröffentlichung des Urteils noch nicht abgeschlossene Steuerfälle ... anzuwenden ...", wobei ein Steuerfall als abgeschlossen gelten sollte, sobald die Steuer unanfechtbar festgesetzt und entrichtet worden war. Diese Anweisung ist rechtswidrig, weil sie eine Erstattung aus Billigkeitsgründen grundsätzlich nicht zuläßt, es sei denn, daß die Steuer noch nicht unanfechtbar festgesetzt ist. Dadurch wird die nach dem Gesetz mögliche Erstattung aus Billigkeitsgründen in einem Maße eingeschränkt, das mit dem Zweck des § 131 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AO a. F. nicht vereinbar ist. Vor allem wird übersehen, daß das Gesetz eine Frist für die Stellung eines Antrages auf Erstattung aus Billigkeitsgründen nicht vorsieht. Das bedeutet allerdings nicht, daß es für die Entscheidung, ob die Erstattung zu bewilligen ist, auf die Frist zwischen Zahlung und Antragstellung überhaupt nicht ankommt (vgl. BFH-Urteil vom 13. Januar 1976 VII R 47/74, BFHE 118, 3). Keinesfalls aber ist es mit dem Gesetz vereinbar, in Fällen der Zahlung unanfechtbar festgesetzter Steuern überhaupt keine Möglichkeit der Erstattung aus Billigkeitsgründen einzuräumen.

Zu Unrecht beruft sich das FA für seine abweichende Rechtsauffassung auf das Urteil des BFH vom 7. Oktober 1965 IV R 139/65 (BFHE 83, 555, BStBl III 1965, 700). Dort hat der BFH die Auffassung vertreten, Steuerpflichtige hätten "grundsätzlich keinen Anspruch auf Erlaß von Steuerbeträgen, die auf der Anwendung einer zu ihren Ungunsten geänderten Rechtsprechung für vergangene Veranlagungszeiträume" beruhten. Das FA übersieht, daß es sich in dieser Entscheidung um die Frage handelte , ob eine dem Steuerpflichtigen ungünstige Änderung der Rechtsprechung Anlaß zu Billigkeitsmaßnahmen geben müsse. Im vorliegenden Falle dagegen ist die Rechtsprechung des BFH durch das erwähnte Urteil (BFHE 105, 172) nicht geändert worden.

Das FA hat unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen seine Ermessensentscheidung erneut zu treffen. Dabei ist zu beachten, daß es durchaus im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung liegen kann, einen verhältnismäßig spät gestellten Antrag auf Erstattung gezahlter Steuern aus sachlichen Billigkeitsgründen schon im Hinblick auf den Zeitablauf zwischen Zahlung und Antragstellung abzulehnen (vgl. BFHE 118, 3). Anhaltspunkt dafür, wann ein solcher Erstattungsantrag in diesem Sinn unverhältnismäßig spät gestellt worden ist und schon allein deshalb abgelehnt werden kann, können den gesetzlichen Fristen entnommen werden, deren Versäumung zu Rechtsverlusten führt.