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BFH-Urteil vom 22.12.1981 (VII R 104/80) BStBl. 1982 II S. 356

Entscheidet das FG unter Berücksichtigung und Würdigung einer vom Kläger im Aussetzungsverfahren nach Schluß der mündlichen Verhandlung vorgelegten eidesstattlichen Versicherung, in der der Hauptbelastungszeuge von seinen den Kläger belastenden Aussagen im Ermittlungsverfahren abrückt, ohne die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu beschließen, so ist das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben.

GG Art. 103 Abs. 1; FGO §§ 69, 96 Abs. 2, 119 Nr. 3.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Streitig ist, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt - HZA -) Anträge auf Aussetzung der Vollziehung, die der verstorbene Ehemann und Rechtsvorgänger der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), D (im folgenden: D) hinsichtlich 17 gegen ihn ergangener Steuerhaftungsbescheide, darunter einen Steuer- und Haftungsbescheid, gestellt hatte, zu Recht abgelehnt hat.

Vor dem FG fand am 18. Dezember 1979 eine mündliche Verhandlung statt. Nach dem Sitzungsprotokoll schloß der Vorsitzende die mündliche Verhandlung und verkündete nach Beratung den Beschluß, daß eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde. Wie den Akten des FG zu entnehmen ist, wurde der Geschäftsstelle am 27. Dezember 1979 das von den Berufsrichtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung übergeben.

Mit Schriftsatz vom 20. März 1980 trug die Klägerin dem FG vor, daß ihr bisher ein Urteil nicht zugestellt worden sei. Sie legte eine notarielle Urkunde mit einer eidesstattlichen Versicherung des S vor und beantragte die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung. Das HZA setzte sich mit Schriftsatz vom 20. Mai 1980 mit dem Inhalt der eidesstattlichen Versicherung auseinander und schlug vor, die mündliche Verhandlung als abgeschlossen zu betrachten.

Aufgrund einer Verfügung der Geschäftsstelle des FG vom 20. August 1980 wurde den Beteiligten eine Ausfertigung des Urteilstenors vom 18. Dezember 1979 übersandt. In einem Begleitschreiben des Vorsitzenden des IV. Senats vom 21. August 1980 teilte dieser den Beteiligten unter Bezugnahme auf § 104 Abs. 2 und § 105 Abs. 4 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit, daß das von den Richtern unterschriebene Urteil vom 18. Dezember 1979 (ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung) nach erneuter Beratung am 20. August 1980 der Geschäftsstelle am 21. August 1980 übergeben worden sei. Die Ausfertigung des vollständigen Urteils wurde den Beteiligten gegen Empfangsbekenntnis (zur Post am 27. Oktober 1980) zugestellt.

Das FG wies die Klage mit der Begründung ab, die summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage lasse keine gewichtigen Gründe erkennen, die eine Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide rechtfertigten. Es bestünden keine ernstlichen Zweifel daran, daß D als Rechtsvorgänger der Klägerin die ihm angelasteten Steuerstraftaten begangen habe. Dies sei aufgrund des bisherigen Standes des von den Zollfahndungsstellen zusammengetragenen Ermittlungsmaterials bei summarischer Betrachtungsweise zu bejahen. Das FG führte in weitgehender Übereinstimmung mit den Entscheidungsgründen seines Urteils vom 31. August 1976 IV 49/75 S aus, der D durch seine Aussagen schwer belastende Zeuge S habe sehr präzise und umfangreiche Angaben gemacht, die sich dadurch von den Aussagen anderer Zeugen wesentlich abhöben. Bei einer Gegenüberstellung mit dem Zeugen W habe dieser einräumen müssen, daß S in mehreren Einzelheiten die richtige Darstellung gegeben und er (W) sich geirrt habe. Die umfangreichen Aussagen des S seien in sich widerspruchslos und paßten genau zu den Aussagen anderer Zeugen, und zwar speziell in den Details.

D werde daneben auch durch die von zahlreichen Zeugen bestätigten Verkäufe der leeren Eisenfässer an zahlreiche Heizölhändler belastet. Die Inanspruchnahme als Rechtsvorgänger der Klägerin wegen Steuerhehlerei bzw. Mittäterschaft zur Steuerhinterziehung gemäß § 112 der Reichsabgabenordnung (AO) sowie in seiner Eigenschaft als weiteren Zollschuldner gemäß § 57 Abs. 2 des Zollgesetzes (ZG) begegne danach keinen ernstlichen rechtlichen Zweifeln. Schließlich habe D selbst in seiner Aussage bei einer richterlichen Vernehmung vor dem Amtsgericht Bonn am 4. Oktober 1966 eine Sachdarstellung gegeben, die in ihrem wesentlichen Aussagegehalt praktisch ein Geständnis darstelle.

Auch die nach der mündlichen Verhandlung von der Klägerin beigebrachte eidesstattliche Versicherung des S vom 18. März 1980, auf deren Einzelheiten Bezug genommen werde, vermöge keine für die Klägerin günstige Entscheidung zu rechtfertigen. Ihr fehlten alle Merkmale für die Bejahung eines überwiegenden Wahrheits- und Richtigkeitsgehalts. Vielmehr spreche alles für die Richtigkeit der ursprünglichen Aussagen des S während des Ermittlungsverfahrens. Die Versicherung stelle in ihren sämtlichen Passagen im großen und ganzen einen unsubstantiierten, von der erkennbaren Motivation her auf eine totale Entlastung der Familie D abzielenden Widerruf der früheren Aussagen, also gleichsam ein schlichtes Bestreiten, dar. Sie erscheine überdies lebensfremd (wird näher ausgeführt).

Der Senat habe den Antrag der Klägerin, die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gemäß § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO zu beschließen, abgelehnt, weil die von der Klägerin nachträglich beigebrachte eidesstattliche Versicherung des S als Mittel der Glaubhaftmachung in der Beratung gewürdigt worden sei, ohne daß es einer öffentlichen Verhandlung bedurft hätte.

Auch in Gemeinsamkeit mit den von der Klägerin herangezogenen eidesstattlichen Versicherungen der Zeugen Wi und W ergebe sich kein anderes Ergebnis.

Mit einem auf § 107 Abs. 1 FGO gestützten Berichtigungsbeschluß vom 13. November 1980 berichtigte das FG das Rubrum seines Urteils dahin gehend, daß anstelle der Worte "in der Sitzung vom 18. Dezember 1979" die Formulierung "in den Sitzungen vom 18. Dezember 1979 und vom 20. August 1980" eingefügt wird.

Mit ihrer fristgerecht eingelegten Revision rügt die Klägerin Verfahrensmängel und die Verletzung des materiellen Rechts.

Zu den Verfahrensmängeln trägt sie vor, es könne dahingestellt bleiben, ob die außergewöhnliche Verzögerung der Zustellung des angefochtenen Urteils ein revisibler Verfahrensmangel sei.

Jedenfalls müsse der Umstand als Verfahrensmangel gerügt werden, daß das Gericht acht Monate nach der mündlichen Verhandlung und nach Vorliegen eines völlig neuen Tatbestandes ohne mündliche Verhandlung über diesen neuen Tatbestand beraten und entschieden habe. Die erneute Entscheidung hätte nicht ohne mündliche Verhandlung ergehen dürfen. Die jetzige Urteilsbegründung enthalte einen völlig neuen Tatbestand. Während das Gericht vorher von der Richtigkeit der früheren Aussagen vor den Zollfahndungsbeamten ausgegangen sei, liege jetzt der Schwerpunkt der Begründung darauf, daß der Zeuge S, den man in bezug auf seine für den Zoll günstigen Aussagen für außerordentlich vertrauenswürdig gehalten habe, nunmehr nicht für fähig gehalten werde, eine richtige eidesstattliche Versicherung abzugeben. Im Gegensatz zum Zeitpunkt seiner Vernehmung unter dem Zwang strafrechtlicher Verfolgung stehe der Zeuge S heute nicht mehr unter diesem Zwang, weil seine damaligen Straftaten abgeurteilt bzw. verjährt seien.

Gemäß § 90 FGO entscheide das Gericht grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung, es sei denn, daß die Beteiligten auf die mündliche Verhandlung verzichtet hätten oder das Gericht ohne mündliche Verhandlung einen Vorbescheid erlasse. Im vorliegenden Falle sei ausdrücklich die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt worden, um der Klägerin Gelegenheit zu geben, den neuen Tatbestand durch mündlichen Vortrag zu erläutern und zu ergänzen. Die Vorschrift des § 90 FGO sei somit verletzt. Es bestehe mindestens auch die Möglichkeit, daß die Entscheidung ohne die Rechtsverletzung nach Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung anders ausgefallen wäre.

Die Klägerin beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils das HZA zu verpflichten, die Vollziehung der gegen Gottfried D ergangenen Steuerbescheide bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen bzw. aufzuheben.

Das HZA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Aus den Ausführungen der Klägerin zur geltend gemachten Verfahrensrüge ergibt sich, daß sie zwei Verfahrensmängel gerügt hat. Sie hat einmal bemängelt, daß das FG nicht, wie sie es mit Schriftsatz vom 20. März 1980 unter Vorlage der eidesstattlichen Versicherung des Zeugen S beantragt hatte, die am 18. Dezember 1979 geschlossene mündliche Verhandlung wiedereröffnet hat. Ihren Ausführungen ist aber daneben weiter die Rüge zu entnehmen, daß das FG aufgrund der Beratung vom 20. August 1980 unter Berücksichtigung der eidesstattlichen Versicherung des Zeugen S entschieden hat, ohne ihr in mündlicher Verhandlung Gelegenheit zu geben, den neuen Tatbestand durch mündlichen Vortrag zu erläutern und zu ergänzen. Sie hat im Zusammenhang damit die Vorschrift des § 90 Abs. 1 FGO, wonach das Gericht grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung entscheidet, als verletzt bezeichnet. Der Senat hat keine Bedenken, diesen letzteren Ausführungen zu entnehmen, daß die Klägerin damit die Versagung des rechtlichen Gehörs gerügt hat. Eine ausdrückliche Rüge ist dazu nicht erforderlich (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 119, Anm. 1 B).

Der Senat läßt dahingestellt, ob die die Nichtwiedereröffnung der mündlichen Verhandlung betreffende Verfahrensrüge der Klägerin begründet ist (vgl. dazu das BFH-Urteil vom 29. November 1973 IV R 221/69, BFHE 111, 21, BStBl II 1974, 115). Hierbei würde es sich um einen Verfahrensmangel handeln, der nur dann zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung führen könnte, wenn es darauf beruhte. Die Vorentscheidung war auf jeden Fall deshalb aufzuheben, weil das FG, ohne die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen, nach erneuter Beratung am 20. August 1980 unter eingehender Berücksichtigung und Würdigung der eidesstattlichen Versicherung des Zeugen S entschieden hat. Damit hat es der Klägerin im finanzgerichtlichen Verfahren das rechtliche Gehör versagt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -, § 119 Nr. 3 FGO). Der Anspruch auf rechtliches Gehör besteht im wesentlichen darin, daß den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit gegeben werden muß, sich zu den Tatsachen und Beweisergebnissen, die der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen, vorher zu äußern (vgl. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 11. Oktober 1966 2 BvR 252/66, BVerfGE 20, 280, 282, und vom 14. Januar 1969 2 BvR 314/68, BVerfGE 25, 40, 43; BFH-Urteil vom 26. Oktober 1970 III R 122/66, BFHE 101, 49, BStBl II 1971, 201, 203). Der Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs besteht auch in summarischen Verfahren der Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 FGO (vgl. BFH-Beschluß vom 9. März 1976 VII B 90/75, BFHE 118, 291, BStBl II 1976, 437). Weder Art. 103 Abs. 1 GG noch der einen Ausfluß dieser verfassungsrechtlichen Vorschrift darstellende § 96 Abs. 2 FGO sagen etwas darüber, in welcher Form das rechtliche Gehör zu gewähren ist. Das richtet sich nach den jeweils anzuwendenden Prozeßvorschriften (vgl. Tipke-Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, III, 10. Aufl. § 96 Anm. VI, 1 h FGO). Nach § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das FG vorbehaltlich der hier nicht eingreifenden Abs. 2 und 3 aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine solche mündliche Verhandlung ist im vorliegenden Fall am 18. Dezember 1979 durchgeführt worden. Das FG hat auch am selben Tage unter Berücksichtigung des damals bekannten Gesamtergebnisses des Verfahrens entschieden (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Es hat aber aufgrund der von der Klägerin mit Schriftsatz vom 20. März 1980 vorgelegten eidesstattlichen Versicherung des Zeugen S eine zweite Beratung für erforderlich gehalten (am 20. August 1980), ohne vorher die mündliche Verhandlung wiedereröffnet zu haben. Damit aber hat es den Anspruch der Klägerin auf Gewährung des rechtlichen Gehörs verletzt. Die Tatsache allein, daß der Inhalt der von der Klägerin zur Glaubhaftmachung vorgelegten eidesstattlichen Versicherung dieser bekannt war und daß sie sich schriftsätzlich dazu geäußert hatte, und ferner der Umstand, daß das FG auch dem HZA Gelegenheit gegeben hatte, sich dazu zu äußern, reichen in einem mündlich zu führenden Verfahren zur Wahrung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör nicht aus. Die Klägerin hat zur Begründung ihrer Verfahrensrüge zu Recht darauf hingewiesen, daß ihr die Gelegenheit genommen worden sei, ergänzende und erläuternde Ausführungen zur eidesstattlichen Versicherung zu machen.

Im Streitfalle mußte dem FG, sofern es die nach Abschluß der mündlichen Verhandlung vorgelegte eidesstattliche Versicherung, wie es das getan hat, bei seiner Entscheidung noch berücksichtigen wollte, die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zum Zwecke der Gewährung des rechtlichen Gehörs um so mehr geboten erscheinen, als das Gesamtergebnis des Verfahrens im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 18. Dezember 1979 im wesentlichen aus den die Klägerin belastenden Aussagen des Zeugen S im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und danach, davon vollständig abrückend, zusätzlich aus seinen Bekundungen in der eidesstattlichen Versicherung bestand. In einem solchen Falle ist es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs unerläßlich, der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nochmals Gelegenheit zu einer abschließenden Äußerung zu geben.

Die Versagung des rechtlichen Gehörs stellt einen absoluten Revisionsgrund dar (§ 119 Nr. 3 FGO). Einer der in der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmefälle, in denen trotz Verletzung dieses Anspruchs eine Aufhebung des Urteils und eine Zurückverweisung an die Vorinstanz nicht erforderlich ist (vgl. Gräber, a. a. O., § 119 Rdnr. 6 und die dort aufgeführte Rechtsprechung und Literatur), liegt nicht vor. Das angefochtene Urteil war deshalb, ohne daß es eines Eingehens auf die materiellen Rechtsfragen bedurfte, aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. Diesem war auch die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens zu übertragen (§ 143 Abs. 2 FGO).