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BFH-Urteil vom 19.8.1983 (VI R 177/82) BStBl. 1984 II S. 48

Die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 ist nicht mehr anwendbar, wenn die Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bereits bestandskräftig geworden ist.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nrn. 1 und 2.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist hauptberuflich als angestellter Krankenhausarzt und nebenberuflich als Entnahmearzt für den Blutspendedienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) tätig. Das DRK behielt von den an den Kläger gezahlten Vergütungen Lohnsteuerabzugsbeträge ein, die es an das Finanzamt (FA) abführte. Dem DRK lag eine Lohnsteuerkarte des Klägers nicht vor. Auch erteilte es diesem keine Lohnsteuerbescheinigung nach § 41b des Einkommensteuergesetzes (EStG). Der Kläger gab in seinen Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 1973 bis 1977 die vom DRK gezahlten Vergütungen sowie die hierauf entfallenden Steuerabzugsbeträge nicht an.

Der Beklagte und Revisionskläger (das FA) führte die Einkommensteuerveranlagung entsprechend den bei ihm eingereichten Steuererklärungen durch, änderte aber die daraufhin ergangenen Einkommensteuerbescheide gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), nachdem ihm eine Kontrollmitteilung über die vom DRK an den Kläger gezahlten Vergütungen zugegangen war. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.

Nachdem die Einspruchsentscheidung bestandskräftig geworden war, beantragte der damalige Bevollmächtigte des Klägers, "die in den Jahren 1973 bis 1977 gezahlten Zuschläge für Sonntagsarbeit gemäß § 3b EStG steuerfrei zu belassen und berichtigte Bescheide zu erlassen". Das FA lehnte diesen Antrag ab, weil den Kläger ein grobes Verschulden daran treffe, daß diese Tatsache erst nachträglich bekanntgeworden sei. Der dagegen eingelegte Einspruch war erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und führte im wesentlichen zur Begründung aus: Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 lägen die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerbescheide vor, da dem FA erst nachträglich bekanntgeworden sei, daß die vom DRK gezahlten Vergütungen steuerfreie Zuschläge für Sonntagsarbeit enthalten hätten. Den Kläger selbst treffe kein grobes Verschulden, daß diese Tatsache erst nachträglich bekanntgeworden sei. Er sei nämlich davon ausgegangen, daß die vom DRK gezahlten Vergütungen bei der Einkommensteuerveranlagung nicht zum Ansatz kämen, weil das DRK die Lohnsteuer übernommen habe. Außerdem könnten von einem steuerlich unbewanderten Laien keine entsprechenden steuerlichen Kenntnisse erwartet werden. Ob den damaligen Bevollmächtigten des Klägers ein grobes Verschulden treffe, weil er als Angehöriger der steuerberatenden Berufe den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß ermittelt und im Laufe des Rechtsbehelfsverfahrens gegen die nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geänderten Einkommensteuerbescheide die Steuerfreiheit der Zuschläge nicht geltend gemacht habe, könne dahinstehen. Denn der Kläger brauche sich ein etwaiges grobes Verschulden seines Bevollmächtigten nicht als eigenes grobes Verschulden zurechnen zu lassen.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Den damaligen Bevollmächtigten des Klägers treffe ein grobes Verschulden daran, daß die Zuschläge für Sonntagsarbeit erst nachträglich bekanntgeworden seien. Es dränge sich bei der dem Berater obliegenden Sachverhaltsaufklärung geradezu auf, einen für das DRK beschäftigten Arzt nach seiner Tätigkeit an Sonn- und Feiertragen zu befragen. Dem Kläger sei das grobe Verschulden seines Beraters zuzurechnen. Den Kläger selbst treffe ebenfalls ein grobes Verschulden, da er seinem Berater grob fahrlässig nicht alle den Sachverhalt betreffenden Unterlagen vorgelegt habe. Des weiteren habe das FG den Sachverhalt ungenügend aufgeklärt und den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist hinsichtlich des Hilfsantrags begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Das Urteil des FG verletzt § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Nach Satz 1 dieser Vorschrift sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. "Tatsache" im Sinne dieser Vorschrift ist der Umstand, daß in den Vergütungen des DRK steuerfreie Zuschläge für Sonntagsarbeit enthalten waren. Diese Tatsache ist dem FA erst "nachträglich", nämlich nach Erlaß und Eintritt der Bestandskraft der Änderungsbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, bekanntgeworden. Auf den Zeitpunkt des Erlasses der Änderungsbescheide (bzw. des Eintritts ihrer Bestandskraft ist hier deshalb abzustellen, weil der Kläger die Änderung dieser Bescheide, nicht die der ursprünglichen Einkommensteuerbescheide, begehrt. Die Berücksichtigung der Tatsachen würde (bei Anwendung des § 3b EStG) zu einer niedrigeren Steuer führen.

Hinsichtlich der Verschuldensfrage ist die Vorentscheidung davon ausgegangen, daß den Kläger selbst u. a. wegen dessen laienhafter Kenntnisse auf steuerrechtlichem Gebiet kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden treffe, zumal er nicht habe wissen können, daß Zuschläge für Sonntagsarbeit steuerfrei seien. Diese Ausführungen stellen eine mögliche Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse dar, an die der Senat als Revisionsinstanz gebunden ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Das FG durfte jedoch nicht offenlassen, ob dem damaligen steuerlichen Berater des Klägers ein grobes Verschulden zur Last fällt, etwa weil er den für die Besteuerung maßgebenden Sachverhalt nicht ordnungsgemäß ermittelt und deshalb die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntagsarbeit nicht geltend gemacht hat. Denn entgegen der Auffassung des FG ist dem Steuerpflichtigen ein etwaiges grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters wie auch das Verschulden eines Bevollmächtigten zuzurechnen (Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2).

Ein etwaiges Verschulden des steuerlichen Beraters ist auch nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 unbeachtlich. Das ist nach dieser Vorschrift der Fall, wenn die Tatsache oder das Beweismittel i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 steht. § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 greift aber nach seinem Sinn und Zweck in Fällen der vorliegenden Art, in denen die erneute Änderung eines bereits nach Nr. 1 geänderten Steuerbescheides beantragt wird, nicht ein. Denn durch das Merkmal des groben Verschuldens in Nr. 2 Satz 1 des § 173 AO 1977 als Hinderungsgrund für eine nachträgliche Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen soll dieser dazu angehalten werden, zu seinem Verantwortungsbereich gehörende und steuerlich relevante Tatsachen rechtzeitig vorzubringen (vgl. Entwurf einer Abgabenordnung - AO 1974 -, BT-Drucks. VI/1982, zu § 154). Wird aber ein Steuerbescheid nach Nr. 1 geändert, so sollen gleichzeitig inzwischen bekanntgewordene Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, ohne daß es auf die Umstände, die zum nachträglichen Bekanntwerden geführt haben, ankommt; diese Umstände können vernachlässigt werden, weil die Bestandskraft ohnehin (durch die Änderung nach Nr. 1) durchbrochen wird. Nur für diesen Fall will das Gesetz die mit den Tatsachen zuungunsten des Steuerpflichtigen zusammenhängenden Tatsachen zugunsten des Steuerpflichtigen ohne Rücksicht auf dessen Verschulden berücksichtigt wissen und so dem Grundsatz der Richtigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung Rechnung tragen. Dieser gesetzgeberische Zweck rechtfertigt es aber nicht, in Fällen, in denen - wie hier - der Änderungsbescheid gemäß Nr. 1 bereits ergangen und bestandskräftig geworden ist, eine nachträgliche Berücksichtigung von Tatsachen oder Beweismitteln zugunsten des Steuerpflichtigen ohne Rücksicht auf dessen grobes Verschulden zuzulassen. Denn das würde zu einer erneuten Durchbrechung der Bestandskraft führen, während ein Grund, diese nochmalige Durchbrechung der Bestandskraft von erleichterten Voraussetzungen abhängig zu machen, nicht besteht.

Ist ein Änderungsbescheid gemäß Nr. 1 bereits ergangen, so können deshalb Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen in erleichterter Form nur noch in einem Rechtsbehelfs- oder Klageverfahren über den Änderungsbescheid geltend gemacht werden. Unterläßt der Steuerpflichtige dies, so kann er Tatsachen oder Beweismittel zu seinen Gunsten nur noch unter den Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977, also dann geltend machen, wenn ihn am nachträglichen Bekanntwerden kein grobes Verschulden trifft.

Im Streitfall ist der Änderungsbescheid bestandskräftig geworden. Die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntagsarbeit kann deshalb nach den vorstehenden Grundsätzen nur noch nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 berücksichtigt werden, wenn weder den Steuerpflichtigen noch seinen steuerlichen Berater ein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden trifft.

Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Die Vorentscheidung muß deshalb aufgehoben werden. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird die für die Frage des groben Verschuldens des steuerlichen Beraters erforderliche Würdigung der tatsächlichen Umstände nachzuholen haben.