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BFH-Urteil vom 25.11.1983 (VI R 8/82) BStBl. 1984 II S. 256

Ein dem Steuerberater zuzurechnendes grobes Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 kann auch darin bestehen, daß dieser es unterläßt, gegen einen Steuerbescheid Einspruch einzulegen, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist die Geltendmachung von dem FA bisher nicht bekannten Tatsachen hätte aufdrängen müssen.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2.

Vorinstanz: FG Nürnberg

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die für das Streitjahr 1974 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt wurden. Der Kläger hatte am 1. Januar 1974 von seiner Mutter ein Elektrogeschäft übernommen. Dabei wurde vereinbart, daß er an seine Mutter eine private Versorgungsrente zu zahlen hat. Im Jahre 1974 und in den folgenden Jahren zahlte der Kläger an seine Mutter eine Rente in Höhe von jeweils 7.200 DM.

In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1974, die vom Prozeßbevollmächtigten der Kläger erstellt und von den Klägern unterschrieben worden war, wurde der im Jahre 1974 als Rente gezahlte Betrag nicht unter den unbeschränkt abziehbaren Sonderausgaben nach § 10 des Einkommensteuergesetzes (EStG) angegeben. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) veranlagte die Kläger entsprechend der eingereichten Erklärung nach § 100 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) mit vorläufigem Bescheid vom 26. Juli 1976, der ab dem 1. Januar 1977 mit Inkrafttreten der Abgabenordnung (AO 1977) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Erstmals in der Einkommensteuererklärung 1976 (Eingang beim FA: 19. Dezember 1977) und nachfolgend in der Einkommensteuererklärung 1977 (Eingang beim FA: 11. Januar 1979) gaben die Kläger die Rentenzahlungen als Sonderausgaben an. Das FA berücksichtigte die geleisteten Beträge in den Einkommensteuerbescheiden für 1976 vom 24. Februar 1978 und für 1977 vom 26. Februar 1979 in Höhe des Ertragsanteils als Sonderausgaben.

Der Vorbehalt der Nachprüfung im vorläufigen Einkommensteuerbescheid für 1974 wurde mit Bescheid vom 26. Februar 1979 gemäß § 164 Abs. 3 AO 1977 aufgehoben. Auch dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 22. Oktober 1979 beantragten die Kläger, den Einkommensteuerbescheid 1974 wegen neuer Tatsachen zu ändern. Zur Begründung führten sie aus, die Tatsache der Rentenzahlung sei aufgrund eines Versehens in der Kanzlei ihres Steuerberaters nicht in die Steuererklärung 1974 aufgenommen worden.

Das FA lehnte den Antrag ab. Der Einspruch der Kläger blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus:

Der Umstand, daß der Kläger im Jahre 1974 seiner Mutter Rentenbeträge in Höhe von 7.200 DM gezahlt habe, sei eine nachträglich bekanntgewordene Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, da sie dem FA erst lange Zeit nach Ergehen des Einkommensteuerbescheides 1974 mitgeteilt worden sei. Eine Änderung des Steuerbescheides komme jedoch deshalb nicht in Betracht, weil den steuerlichen Berater der Kläger ein grobes Verschulden daran treffe, daß die Tatsache erst nachträglich bekanntgeworden sei. Dieses Verschulden müßten die Kläger sich zurechnen lassen. Es könne dahingestellt bleiben - wie behauptet werde -, ob der zuständige Sachbearbeiter des FA bei einer Besprechung an Amtsstelle Anfang Dezember 1973 die Rente als nach § 12 EStG nicht abziehbare private Versorgungsrente angesehen habe. Dadurch, daß der Bevollmächtigte der Kläger die Rentenzahlungen in den Einkommensteuererklärungen 1976 und 1977 angegeben und das FA diese Zahlungen als Sonderausgaben in den Einkommensteuerbescheiden 1976 und 1977 anerkannt habe, habe der Bevollmächtigte davon Kenntnis erhalten, daß das FA an seiner möglicherweise im Jahre 1973 geäußerten gegenteiligen Rechtsansicht jedenfalls jetzt nicht mehr festhalte. Folglich hätte es sich dem Bevollmächtigten bei der Prüfung des Bescheides über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung im Einkommensteuerbescheid für 1974 aufdrängen müssen, die geleisteten Rentenzahlungen nachträglich noch als Sonderausgaben anzugeben. Das habe er jedoch unterlassen.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Sie machen geltend, ihnen sei ein grobes Verschulden ihres steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung nicht zuzurechnen. Abgesehen davon treffe diesen im Streitfall wegen der Kompliziertheit des Steuerrechts kein grobes Verschulden. Zudem verstoße es gegen Treu und Glauben, einem Berater den Vorwurf des groben Verschuldens zu machen, weil er sich bei der Erstellung der Steuererklärung die Rechtsauffassung des FA zu eigen gemacht habe.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 1974 dahin zu ändern, daß der Ertragsanteil der gezahlten Rente als Sonderausgabe berücksichtigt wird.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Kläger ist unbegründet. Denn das FG hat ohne Rechtsverstoß eine Änderung des Einkommensteuerbescheides 1974 abgelehnt.

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 sind Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. Diese Vorschrift gilt auch für Bescheide, die - wie im Streitfall - vor Inkrafttreten der AO 1977 am 1. Januar 1977 ergangen sind (Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -).

Dem FA sind im vorliegenden Fall nachträglich, nämlich nach Durchführung der Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr, Tatsachen bekanntgeworden, die zu einer niedrigeren Steuer führen würden. Denn ihm ist erstmals durch den Antrag des Klägers vom 22. Oktober 1979 bekanntgeworden, daß der Kläger im Streitjahr eine außerbetriebliche Versorgungsrente an seine Mutter gezahlt hat. Diese Tatsache würde bei den Klägern zu einer niedrigeren Steuer führen, da die Rente mit dem Ertragsanteil als Sonderausgabe abziehbar ist (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG 1974).

Zu Recht hat das FG aber angenommen, daß im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 dem Steuerpflichtigen ein grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters zuzurechnen ist (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2). Der mit der Ausarbeitung der Steuererklärung betraute steuerliche Berater muß sich um eine sachgemäße und gewissenhafte Erfüllung der Erklärungspflicht seines Mandanten bemühen. Dabei sind an ihn erhöhte Anforderungen hinsichtlich der von ihm zu erwartenden Sorgfalt zu stellen. Insbesondere muß von ihm die Kenntnis und sachgemäße Anwendung der einschlägigen steuerrechtlichen Bestimmungen erwartet werden (Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und in BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2). Ihn trifft ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln, wenn er bei der Abgabe der Steuererklärungen die ihm zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist jeweils nach den Umständen des Einzelfalles zu entscheiden.

Bei der Prüfung der Frage, ob den Steuerpflichtigen oder seinen Berater ein grobes Verschulden daran trifft, daß dem FA neue Tatsachen i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 erst nachträglich bekanntgeworden sind, ist auch der Zeitraum miteinzubeziehen, in dem nach Durchführung der Einkommensteuerveranlagung der Bescheid noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht und der Steuerpflichtige und sein Berater nach § 164 Abs. 2 AO 1977 jederzeit die Aufhebung oder Änderung der Steuerfestsetzung beantragen können, sowie der Zeitraum, in dem ein Einkommensteuerbescheid oder ein den Vorbehalt der Nachprüfung aufhebender Steuerbescheid noch anfechtbar, die Bestandskraft bzw. Rechtskraft des Bescheides also noch nicht eingetreten ist. Denn der Steuerpflichtige oder sein Berater verletzt die von ihm zu fordernde Sorgfaltspflicht, wenn er trotz Kenntnis der später eingetretenen Umstände es unterläßt, diese noch vor Bestandskraft des Steuerbescheides zu seinen Gunsten geltend zu machen. Dieses Versäumnis beinhaltet ein grobes Verschulden, das es nicht mehr als gerechtfertigt erscheinen läßt, die Bestandskraft nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu durchbrechen.

Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die Erwägung, daß bei Versäumung der Frist über die Einlegung eines Rechtsbehelfs - mit dem die Berücksichtigung sowohl neuer Tatsachen und Beweismittel als auch neuer rechtlicher Gesichtspunkte geltend gemacht werden kann - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur bei Fehlen jedes - also auch nur einfachen - Verschuldens gewährt werden kann (§ 110 AO 1977, § 56 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Würde ohne Rücksicht auf die Änderungsmöglichkeit eines Steuerbescheides im Einspruchs- oder Klageverfahren eine spätere Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zugelassen, wäre ein schuldhaftes Verstreichenlassen der Einspruchs- oder Klagefrist bei allen ersichtlich falschen Steuerbescheiden bedeutungslos, falls den Steuerpflichtigen oder seinen steuerlichen Berater an der Nichtangabe des steuerlich bedeutsamen Sachverhalts bei der Abgabe der Steuererklärung kein grobes Verschulden getroffen hätte (Buchheister, Deutsche Steuer-Zeitung 1980, 446, 447). Ein solches Ergebnis kann nach Ansicht des Senats vom Gesetzgeber nicht gewollt sein.

Der Senat tritt dem FG darin bei, daß dem steuerlichen Berater der Kläger im Streitfall eine konkrete Pflicht zur nochmaligen Überprüfung der Einkommensteuerveranlagung 1974 jedenfalls zu dem Zeitpunkt oblag, in dem ihm der Steuerbescheid vom 26. Februar 1979 zuging, der den Vorbehalt der Nachprüfung des Einkommensteuerbescheides 1974 aufgehoben hat. Dem Berater mußte sich damals insbesondere die Frage der nachträglichen Geltendmachung der auch im Jahre 1974 vom Kläger geleisteten Rentenzahlungen aufdrängen, weil ihm am gleichen Tag auch der Einkommensteuerbescheid 1977 vom 26. Februar 1979 zugegangen ist, in dem auf seinen Antrag hin das FA die im Jahre 1977 erbrachten Rentenleistungen als Sonderausgaben zum Abzug zugelassen hatte. Es kommt hinzu, daß auf Betreiben des steuerlichen Beraters diese Rentenleistungen schon zuvor im Einkommensteuerbescheid 1976 vom 24. Februar 1978 als Sonderausgaben anerkannt worden waren. Das FG konnte unter diesen Umständen den Sachverhalt ohne Rechtsverstoß dahin würdigen, daß der steuerliche Berater der Kläger beim Übersehen dieser Fakten und dem offensichtlichen Unterlassen der Nachprüfung der Einkommensteuerveranlagung 1974 die ihm zumutbare Sorgfalt in einem ungewöhnlichen Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat.

Das FG konnte es dabei zu Recht dahingestellt sein lassen, ob der Sachbearbeiter des FA bei einer Unterredung mit dem Berater im Dezember 1973 an Amtsstelle die Rentenzahlungen als nichtberücksichtigungsfähig angesehen hat. Denn der Berater mußte aus den ihm zugegangenen Einkommensteuerbescheiden 1976 und 1977 ersehen, daß das FA seine Ansicht zumindest inzwischen zugunsten der Kläger geändert hatte.