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BFH-Urteil vom 15.3.1984 (V R 97/82) BStBl. 1985 II S. 146

§ 173 Abs. 2 AO 1977 hindert nicht die Änderung oder Aufhebung einer Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977.

AO 1977 § 173.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

Der Kläger, ein Anwalt, hat 1970 ein Grundstück gekauft, auf dem die Verkäuferin die Errichtung eines Gebäudes mit Wohnungen geplant und mit dessen Bau sie bereits begonnen hatte. In einem schriftlichen "Bauherrn-Betreuer-Vertrag", der das Datum desselben Tages trägt, verpflichteten sich die Verkäuferin und deren Ehemann, das Gebäude im Namen und für Rechnung des Klägers zu garantierten Kosten fertigzustellen. Außerdem gewährleisteten sie u. a. die Vermietung des Hauses vom Tage der Übergabe an für zehn Jahre an Angehörige der NATO-Streitkräfte. Die Wohnungen wurden im Herbst 1971 von Angehörigen der NATO-Streitkräfte bezogen.

Der Kläger war für die Veranlagungszeiträume 1970 mit 1972 zunächst mit seinen Einnahmen aus der Tätigkeit als Anwalt vorläufig gemäß § 100 Abs. 2 AO zur Umsatzsteuer veranlagt worden. Nach einer im Jahre 1975 durchgeführten Betriebsprüfung ergingen berichtigte endgültige Umsatzsteuerbescheide. Diese Bescheide wurden unanfechtbar.

Während einer die Einkünfte des Klägers aus Vermietung und Verpachtung betreffenden Steuerfahndungsprüfung im Jahre 1977 beantragte der Kläger, die bestehende Steuerfestsetzung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern und in der neuen Steuerfestsetzung die für die Gebäudeherstellung in den Jahren 1970 mit 1972 angefallenen und bislang nicht geltend gemachten Vorsteuerbeträge gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1967 zum Abzug zuzulassen. Das Finanzamt hat dies unter Hinweis auf § 173 Abs. 2 AO 1977 und auch aus sachlichen Gründen abgelehnt.

Mit der Klage begehrt der Kläger, das Finanzamt (Beklagten) zu verpflichten, unter Änderung der Umsatzsteuerbescheide 1970, 1971 und 1972 vom 22. Juni 1976 zusätzliche Vorsteuerbeträge zu berücksichtigen. Das Finanzgericht hat die Klage abgewiesen mit der Begründung, dem Änderungsbegehren des Klägers stehe die Änderungssperre des § 173 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 entgegen. Sein Urteil ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1983, 4 abgedruckt.

Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Er rügt fehlerhafte Anwendung des § 173 Abs. 2 AO 1977.

Der Bundesminister der Finanzen ist dem Verfahren beigetreten.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Entgegen der Auffassung des Finanzgerichts hat die sogenannte Änderungssperre des § 173 Abs. 2 AO 1977 keine Bedeutung für die nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 gebotene Änderung (oder Aufhebung) einer Steuerfestsetzung.

Gemäß § 173 Abs. 1 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Steuer führen (Nummer 1) und soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, wenn den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden an dem erst nachträglichen Bekanntwerden trifft (Nummer 2). Abweichend davon können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt (§ 173 Abs. 2 Satz 1 AO 1977).

Nach den Eingangsworten des Absatzes 2 ist die in ihm festgelegte Änderungssperre auf den Absatz 1 des § 173 AO 1977 bezogen, erfaßt also sowohl die Aufhebungs- und Änderungsmöglichkeit der Nummer 1 als auch der Nummer 2. Für diesen Bereich läßt Absatz 2 lediglich für die Fälle der Steuerhinterziehung und der leichtfertigen Steuerverkürzung gleichwohl eine Änderung bzw. Aufhebung nach Absatz 1 zu, setzt also insoweit die Änderungssperre aus. Diese Regelung findet nach dem Sachzusammenhang (abgesehen von dem nicht sauber eingrenzbaren Gesichtspunkt des mangelnden Vertrauensschutzes) ihren Sachgrund in der Überlegung, daß die Außenprüfung nicht schlechthin gewährleisten kann, alle Fälle steuerunehrlichen Verhaltens aufzudecken. Die Außenprüfung versagt hier (notgedrungen) als ein Mittel, die zu besteuernden Sachverhalte lückenlos und richtig zu erfassen und somit mit Hilfe einer auf dieser Außenprüfung basierenden Steuerfestsetzung einen endgültigen Rechtsfrieden herbeizuführen.

In dieser Funktion versagt die Außenprüfung aber auch in gewissem Umfang im Bereich derjenigen Aufhebungs- und Änderungsgründe, die nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zum Vorteil des Steuerpflichtigen wirken. Hier ist zunächst grundsätzlich zu berücksichtigen, daß Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen ohnehin nur dann möglich sind, wenn ihn kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln trifft. Gemeinhin wird nach einer Außenprüfung dieser Vorwurf mithin nicht zu entkräften sein. Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß weder die redlichen Bemühungen des Steuerpflichtigen noch die Außenprüfung zur abschließenden Klärung der der Besteuerung zugrunde zu legenden Sachverhalte etwas beitragen können, wenn trotz gehöriger Erfüllung der beiderseitigen Pflichten im Besteuerungsverfahren - der Ermittlungspflicht der Finanzbehörde einerseits (vgl. §§ 88 und 199 AO 1977) und der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen andererseits (§§ 90 und 200 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO 1977) - insonderheit nachträglich für die Besteuerung erhebliche Tatsachen und Beweismittel zutage treten, auf deren Bekanntwerden vorher keiner der Beteiligten einwirken konnte (z. B. die den Restitutionsgründen des § 580 ZPO vergleichbaren Umstände). Bei dieser Sachlage kann die Bezugnahme in Absatz 2 auf den Absatz 1 des § 173 AO 1977 nur in dem Sinne verstanden werden, daß jedenfalls im dargestellten Umfang eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht von der Änderungssperre betroffen wird.

Da tatsächliche Feststellungen sowohl zur materiellrechtlichen Rechtsfrage der Berechtigung zur Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs als auch zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 fehlen, war die Sache an das Finanzgericht zurückzuverweisen.