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BFH-Urteil vom 19.7.1984 (V R 70/79) BStBl. 1985 II S. 147

Die steuerlichen Pflichten eines Prokuristen werden durch den ihm zugewiesenen Geschäftsbereich begrenzt, soweit der Prokurist nicht außerhalb dieses Auftrags aufgetreten ist.

RAO §§ 108, 103; AO 1977 §§ 35, 34.

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz

Sachverhalt

Die Klägerin war in der Zeit von Juli 1970 bis 1974 Prokuristin einer auf dem Bausektor tätigen Kommanditgesellschaft. Komplementärin der Kommanditgesellschaft war eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Deren Geschäftsführer war der Ehemann der Klägerin. Die Klägerin und ihr Ehemann waren Kommanditisten der Kommanditgesellschaft.

Mit Bescheid vom 6. August 1976 hat das Finanzamt die Klägerin als Prokuristin der Kommanditgesellschaft für deren Steuerrückstände von 1970 bis einschließlich April 1976 (429.444, 10 DM), für rückständige Säumniszuschläge ab 1968 mit April 1976 (155.833 DM) sowie für rückständige Kosten (1.331 DM) mit insgesamt 586.608, 10 DM in Haftung genommen.

Mit der Klage hat die Klägerin die Aufhebung des Haftungsbescheids begehrt. Das Finanzgericht hat den kfm. Angestellten M. und den Ehemann der Klägerin zu der Behauptung der Klägerin vernommen, sie sei aufgrund von Weisungen des Ehemanns nicht in den Zahlungsverkehr der Kommanditgesellschaft eingeschaltet gewesen und habe von sich aus - von Ausnahmefällen abgesehen - keine Zahlungen anweisen dürfen. Die beiden Zeugen haben diese Behauptung bestätigt.

Das Finanzgericht hat die Haftungssumme auf 579.868, 10 DM herabgesetzt; die Klägerin hafte nicht für die auf die Jahre 1968 und 1969 entfallenden Säumniszuschläge (5.409 DM) und die Kosten (1.331 DM). Im übrigen hat das Finanzgericht die Klage abgewiesen.

Mit der Revision rügt die Klägerin unrichtige Anwendung der §§ 108, 109 RAO: Die unterlassene Tilgung der Steuerrückstände der Jahre 1970 mit 1976 sei nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung der Klägerin zurückzuführen. Die Kommanditgesellschaft habe während der von der Klägerin ab Juli 1970 bis Ende 1974 ausgeübten Tätigkeit nicht über hinreichende Mittel zur Begleichung der Steuerschulden verfügt; über die bei ihr eingehenden Zahlungsmittel habe der Geschäftsführer der GmbH (ihr Ehemann) fortlaufend im voraus disponiert. Dieser habe sich die Abwicklung der von der Kommanditgesellschaft zu leistenden Zahlungen selbst vorbehalten. Sie hätte sich bei Zahlungen an das Finanzamt - soweit solche möglich gewesen wären - über entgegenstehende Anweisungen ihres Ehemanns hinwegsetzen müssen.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet.

Die Haftung der Klägerin auf Grund und nach Maßgabe des § 109 Abs. 1 RAO greift ein, wenn der Klägerin als Prokuristin der Kommanditgesellschaft die in § 108 Satz 1 AO in Verbindung mit § 103 Satz 1 RAO genannten steuerlichen Pflichten oblagen und sie diese Pflichten schuldhaft verletzt hat. Das tatbestandliche Verschulden muß sich auf eine gegebene Pflicht beziehen.

Gemäß § 108 Satz 1 RAO hat die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters (§ 103 RAO), wer "als Bevollmächtigter auftritt". Er haftet gemäß § 109 Abs. 1 RAO "insoweit persönlich neben dem Steuerpflichtigen, als durch schuldhafte Verletzung der ihm" in § 108 Satz 1 RAO in Verbindung mit § 103 Satz 1 RAO "auferlegten Pflichten Steueransprüche verkürzt oder Erstattungen oder Vergütungen zu Unrecht gewährt worden sind". Vorrangig ist also die Beschreibung und Begrenzung der Pflichten gemäß §§ 108, 103 RAO.

Die Eigenschaft als Ehefrau des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH und die Eigenschaft als Kommanditistin der Gesellschaft konnten die Klägerin nicht verpflichten, die steuerlichen Pflichten der Kommanditgesellschaft wahrzunehmen. Weder die eine noch die andere Eigenschaft der Klägerin ist geeignet, den Pflichtenkreis der Klägerin als Prokuristin zu erweitern.

Zu § 108 Satz 1 RAO genügt zwar das "Auftreten" als Bevollmächtigter. Die Pflichten dessen, der ohne Vollmacht oder unter Überschreiten seiner Vollmacht als Bevollmächtigter auftritt, sind hier jedoch ohne Belang. Denn der Vorwurf gegen die Klägerin geht dahin, die gegebene Vollmacht der Prokura nicht voll ausgenutzt zu haben.

Der Prokurist ist nicht - wie der gesetzliche Vertreter einer juristischen Person - Organ des Vertretenen, sondern dessen Bevollmächtigter. Er ist nicht - wie auch der (von der Geschäftsführung nicht ausgeschlossene) persönlich haftende Gesellschafter einer offenen Handelsgesellschaft oder einer Kommanditgesellschaft - als solcher zur Geschäftsführung berechtigt und verpflichtet. Er ist vielmehr Beauftragter seines Geschäftsherrn; dieser bestimmt seinen Wirkungskreis. Ein dem Geschäftsherrn gegenüber eigenes Recht auf die Geschäftsführung hat der Prokurist als solcher nicht. Ein Fall gesellschaftsvertraglicher Zuweisung einer Geschäftsführungsbefugnis an den mit Prokura versehenen Kommanditisten liegt hier nicht vor.

§ 108 Satz 1 RAO erweitert durch seine Bezugnahme auf § 103 RAO diesen bürgerlich-rechtlich bestimmten Pflichtenkreis nicht, es sei denn, der Bevollmächtigte wäre außerhalb des ihm zugewiesenen Wirkungskreises als Bevollmächtigter "aufgetreten". Denn auch § 103 RAO nennt nur Pflichten, die dem gesetzlichen Vertreter im Verhältnis zu dem Vertretenen kraft seines Amtes obliegen. Die an diese anknüpfende steuerrechtliche Vorschrift des § 103 Satz 1 RAO macht diese Pflichten des gesetzlichen Vertreters zu dessen persönlichen Pflichten auch dem Finanzamt gegenüber; er hat in eigener Person dem Finanzamt für deren Erfüllung einzustehen (vgl. §§ 202, 103 Satz 2, § 109 RAO). Gleiches gilt für den (als solchen aufgetretenen) Bevollmächtigten (§ 108 Satz 1 RAO). Die Pflichten des ihm zugewiesenen Wirkungskreises erzeugen ggf. die in § 103 Satz 1 RAO beschriebenen Pflichten gegenüber dem Finanzamt. Eine Pflicht außerhalb dieses Wirkungskreises begründen §§ 108, 103 RAO nicht, es sei denn, der Bevollmächtigte hätte diesen Wirkungskreis selbst überschritten. Wo keine Pflicht im Sinne der §§ 108, 103 RAO besteht, kann sie nicht im Sinne des § 109 Abs. 1 RAO schuldhaft verletzt sein.

Demzufolge ist die tatsächliche Behauptung der Klägerin, sie habe auf die Zahlung der Steuer gedrängt, sei aber für den Zahlungsverkehr nicht zuständig gewesen und habe - von Ausnahmefällen abgesehen - die Zahlungsverpflichtungen der Gesellschaft nicht erfüllt, ein schlüssiges Bestreiten des Haftungsgrundes. Denn ein Prokurist, der bei seinen Handlungen in den Grenzen des ihm erteilten Auftrags bleibt, wird durch das Steuerrecht - im besonderen durch § 108 RAO - nicht befugt, die Grenzen seines Wirkungskreises zu überschreiten und in Ausübung seiner Prokura Befugnisse wahrzunehmen, die ihm im Innenverhältnis ausdrücklich entzogen sind.

Dieser Standpunkt wird durch das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 21. Mai 1969 I R 8/68 (BFHE 96, 39, BStBl II 1969, 539), auf das sich das Finanzgericht berufen hatte, nicht berührt. Denn in dem dort entschiedenen Falle handelte es sich um einen "Generalbevollmächtigten", der als solcher - also mit dem Anspruch auf allgemeine Zuständigkeit - nach außen aufgetreten war.

Die Behauptungen der Klägerin in bezug auf die Beschränkung ihrer Vertretungsbefugnis sind nach den tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts trotz durchgeführter Beweisaufnahme unwiderlegt geblieben; es ist nicht zu ersehen, wie sie widerlegt werden könnten. Wenn die Klägerin in Ausnahmefällen - wie vom Finanzgericht festgestellt - Zahlungsanweisungen ausgestellt hat, so hat sie damit den ihr zugewiesenen Wirkungskreis nicht allgemein überschritten.

Damit kann dahingestellt bleiben, ob für die im ersten Halbjahr 1970 und in den Jahren 1975 sowie 1976 aufgelaufenen Steuerrückstände eine Haftung der Klägerin schon deshalb ausscheidet, weil sie nur vom 1. Juli 1970 bis Ende 1974 als Prokuristin der Kommanditgesellschaft tätig gewesen ist.

Demzufolge waren unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils der angefochtene Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben.