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BFH-Urteil vom 21.12.1984 (III R 75/81) BStBl. 1985 II S. 283

Für einen Steuerpflichtigen kann es auch ohne besondere Mitteilung des FA, allein aufgrund des gesamten Sachverhaltsablaufs erkennbar i. S. von § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 sein, daß das FA in der irrtümlichen Annahme, er und sein Kind seien einzeln zur Vermögensteuer zu veranlagen, eine Zusammenveranlagung nicht durchgeführt hat. Erkennbarkeit in diesem Sinne kann z. B. vorliegen, wenn ein Kindesvermögen von beachtlicher Größenordnung in dem Vermögensteuerbescheid des Steuerpflichtigen nicht berücksichtigt und ein Vermögensteuerfreibetrag für das Kind nicht gewährt worden ist.

AO 1977 § 174 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Hamburg

Sachverhalt

Die Klägerin hat am 16. Februar 1978 ihre Vermögensteuererklärung auf den 1. Januar 1977 abgegeben. Sie hat ihren Sohn ..., der am Stichtag das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, in der Vermögensteuererklärung mit seinem Geburtsdatum aufgeführt. Die Frage nach dem eigenen Vermögen des Kindes hatte sie mit folgendem Hinweis bejaht: "s. Vermögensteuererklärung zu Steuerakte ...". Der Sohn hat - ebenfalls am 16. Februar 1978 - eine eigene Vermögensteuererklärung abgegeben. Mit Bescheid vom 13. Februar 1979 zog der Beklagte (das Finanzamt - FA -) die Klägerin nur mit ihrem Vermögen zur Vermögensteuer heran. Die Steuer wurde auf 7.825 DM festgesetzt.

Mit dem nach § 174 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Bescheid vom 10. Juni 1980 erhöhte das FA die Vermögensteuerschuld 1977 auf 11.717 DM. Dabei setzte das FA zusätzlich zu dem im Bescheid vom 13. Februar 1979 erfaßten Vermögen u. a. noch das Kindesvermögen an. Eine Anlage zum Bescheid enthält folgende Begründung:

Die Änderung des Steuerbescheides war erforderlich, weil Sie nach den Verhältnissen im Veranlagungszeitpunkt noch mit Ihrem Sohn ... zusammen zu veranlagen sind. Ab 1.1.1978 entfällt die Zusammenveranlagung ...".

Auf die Sprungklage der Klägerin bejahte das Finanzgericht (FG) die Zulässigkeit der Änderung gemäß § 174 Abs. 3 AO 1977 wegen der zunächst unterbliebenen Zusammenveranlagung nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 des Vermögensteuergesetzes (VStG). Die Vorentscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1981, 478 veröffentlicht.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt die Klägerin unrichtige Anwendung von § 174 Abs. 3 AO 1977.

Sie beantragt, das angefochtene Urteil und den geänderten Vermögensteuerbescheid 1977 aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 kann eine Steuerfestsetzung, bei der ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, er sei in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen, insoweit nachgeholt oder geändert werden, wenn sich diese Annahme als unrichtig herausstellt. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall wegen der Nichtberücksichtigung des Vermögens des Sohnes erfüllt.

1. Das FA hat im Vermögensteuerbescheid der Klägerin vom 13. Februar 1979 einen bestimmten Sachverhalt nicht berücksichtigt. Im Streitfall ist dies die Tatsache, daß der Sohn der Klägerin am streitigen Veranlagungsstichtag noch zu ihrem Haushalt gehörte und das 18. Lebensjahr nicht vollendet hatte. Aus diesem Sachverhalt hat das FA die zwingenden steuerlichen Folgen - Zusammenveranlagung gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 2 VStG - nicht gezogen und bei der Vermögensteuerveranlagung der Klägerin das Vermögen des Sohnes nicht erfaßt. Dies geschah, wie das FG zu Recht aus der Sachbehandlung durch das FA - Anfragen vom 2. März 1979 an ein anderes FA aufgrund der gesonderten Vermögensteuererklärung des Sohnes - geschlossen hat, in der unzutreffenden Annahme, daß das Vermögen des Sohnes bei dessen Vermögensteuerveranlagung gesondert zu erfassen sei.

2. Die Änderung des Steuerbescheides ist gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 nur zulässig, wenn die ursprüngliche, später als ungerechtfertigt erkannte Nichtberücksichtigung eines Sachverhalts erkennbar auf der Annahme beruhte, der Sachverhalt müsse in einem anderen Bescheid erfaßt werden. Welche Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal der Erkennbarkeit zu stellen sind, wird im Schrifttum unterschiedlich beurteilt. Zum Teil wird gefordert, daß die Nichtberücksichtigung des Sachverhalts für den Steuerpflichtigen aus einem ausdrücklichen Hinweis zum Bescheid hervorgehen (Frotscher in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 174, Anm. 9d) oder in einem Außenprüfungsbericht oder einem anderen Schreiben der Finanzverwaltung, das in engem Zusammenhang mit dem Bescheid steht, zum Ausdruck kommen müsse (vgl. Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 7. Aufl., S. 108, mit weiteren Nachweisen, und Frotscher, a. a. O.). Die Gegenmeinung läßt es genügen, daß der Steuerpflichtige die - fehlerhafte - Annahme des FA auch ohne besondere Mitteilung allein aufgrund verständiger Würdigung des fehlerhaften Bescheides erkennen konnte oder dieser Zusammenhang sonst offenbar war (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 174 AO 1977 Rdnr. 11, und Kühn/Kutter/Hofmann, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 174 AO 1977 Anm. 4). Der V. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat es im Urteil vom 1. August 1984 V R 67/82 (BFHE 141, 490, BStBl II 1984, 788) als ausreichend angesehen, daß die Annahme des FA aus dem gesamten Sachverhaltsablauf erkennbar ist. Dem schließt sich der erkennende Senat an. Im Streitfall mußte die Klägerin bei verständiger Würdigung des fehlerhaften Bescheides erkennen, daß der Bescheid nur sie selbst betraf und das gesondert erklärte, nicht unerhebliche Kindesvermögen in einem anderen Bescheid erfaßt werden sollte. Dies ergab sich unzweideutig daraus, daß die Nichtberücksichtigung des Kindesvermögens schon wegen dessen Größenordnung (von mehr als 1/3 des bei Zusammenveranlagung zu versteuernden Gesamtvermögens in Höhe von 1,8 Mio. DM) augenfällig war und der fehlerhafte Bescheid lediglich einen Vermögensteuer-Freibetrag für natürliche Personen (§ 6 VStG) enthielt.

3. Ob in der Nichtberücksichtigung des Kindesvermögens bei der Vermögensteuerveranlagung der Klägerin ein bloßer Rechtsfehler lag oder ob die irrtümliche Annahme des FA auf einer unzutreffenden Beurteilung des Sachverhalts beruhte, ist, wie das FG zutreffend entschieden hat, unerheblich. Abgesehen von den weiteren Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 kann ein Steuerbescheid nach dem Wortlaut dieser Vorschrift dann geändert werden, wenn das FA einen bekannten und feststehenden Sachverhalt erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt hat, daß der Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei. Hieraus läßt sich nicht zwingend folgern, daß die Vorschrift nur auf im Tatsächlichen zweifelhafte Sachverhalte anwendbar sein soll. Die von der Klägerin begehrte einschränkende Auslegung läßt sich auch nicht auf die systematische Stellung der Vorschrift oder die amtliche Begründung (vgl. BT-Drucks. VI/1982, S. 154) stützen. Den mit Abs. 3 in Zusammenhang stehenden Absätzen 1 und 2 des § 174 AO 1977 läßt sich für die von der Klägerin vertretene Auffassung nichts entnehmen. Der Hinweis in der Begründung (a. a. O.) auf die Anwendbarkeit der Vorschrift in Fällen, bei denen aus einem Sachverhalt steuerlich unterschiedliche Schlußfolgerungen gezogen werden, die sich denkgesetzlich ausschließen, sowie die dort angesprochene Möglichkeit einer unterschiedlichen Rechtsauffassung von zwei FÄ, sprechen eher gegen die Rechtsansicht der Klägerin. Sie verkennt insbesondere, daß sich die Vorschrift nicht nur zuungunsten, sondern auch zugunsten des Steuerpflichtigen auswirken kann.