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BFH-Urteil vom 16.10.1984 (VIII R 162/80) BStBl. 1985 II S. 448

Der Vorbehalt der Nachprüfung bleibt trotz Durchführung eines außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens wirksam, wenn er nicht ausdrücklich aufgehoben wird.

AO 1977 §§ 164, 365, 367; EGAO 1977 Art. 97 § 9; AO § 100 Abs. 2.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute. Sie wurden für das Streitjahr 1973 entsprechend ihrer Steuererklärung zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Steuerbescheid war vorläufig gemäß § 100 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO). Im Eingabewertbogen befand sich unter der Rubrik Art der Steuerfestsetzung der Vermerk "Auszug aus Bp-Bericht kann erst nach Klärung ausgewertet werden, daher vorläufig". Daneben befand sich der vom 6. März 1975 datierte Vermerk "Wiedervorlage nach Eingang Bp-Bericht".

Die Kläger legten gegen den Steuerbescheid Einspruch mit der Begründung ein, in den erklärten Kapitalerträgen, die nicht der inländischen Kapitalertragsteuer unterlegen hätten, seien Kapitalerträge enthalten, die aufgrund von Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung steuerfrei seien. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erließ daraufhin einen Änderungsbescheid mit Datum vom 31. Oktober 1975, mit dem dem Einspruchsbegehren der Kläger entsprochen wurde. Der Bescheid war als nach § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO geänderter Bescheid gekennzeichnet. Er enthielt nicht mehr den Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 100 Abs. 2 AO. Dieser Vermerk war auch nicht im Eingabewertbogen zur maschinellen Erfassung angewiesen worden.

Aufgrund einer im Jahr 1977 bei den Klägern durchgeführten Betriebsprüfung unterwarf das FA mit Einkommensteuerbescheid vom 2. Januar 1979 die aufgrund des seinerzeitigen Einspruchsverfahrens steuerfrei belassenen ausländischen Kapitalerträge der Besteuerung. Die Änderung wurde auf § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützt. Gleichzeitig wurde der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben. Der gegen diesen Bescheid eingelegte Einspruch, mit dem die Kläger geltend machten, eine Änderung sei wegen der Bestandskraft des ersten Änderungsbescheids nicht zulässig, war erfolglos.

Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führt in seinem Urteil, das in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1980, 528 veröffentlicht ist, aus, das FA sei nicht berechtigt gewesen, einen auf § 164 Abs. 2 AO 1977 gestützten zweiten Änderungsbescheid zu erlassen.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung von § 100 Abs. 2 AO, § 164 Abs. 2 AO 1977, Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977).

Das FA führt aus, die Entscheidung des FG stehe nicht in Einklang mit dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 23. Januar 1964 IV 168/61 S (BFHE 79, 559, BStBl III 1964, 436) und dem Urteil des Reichsfinanzhofs (RFH) vom 17. April 1934 I A 290/33 (RStBl 1934, 595). Ein stillschweigender Wegfall des Vorläufigkeitsvermerks sei der AO fremd. Der Wille der Behörde, einen vorläufigen Steuerbescheid endgültig zu machen, müsse klar zum Ausdruck kommen.

Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kläger halten die Entscheidung der Vorinstanz für zutreffend. Die Steuerfestsetzung für das Streitjahr habe nicht mehr geändert werden dürfen, da der Bescheid vom 31. Oktober 1975 keinen Vorläufigkeitsvermerk enthalten habe und damit endgültig gewesen sei. Die höchstrichterliche Rechtsprechung, auf die sich das FA beziehe, habe andere Sachverhalte zur Grundlage gehabt. Wenn die Finanzbehörde in einem geänderten Steuerbescheid den Vorläufigkeitsvermerk nicht mehr aufnehme, könne der Empfänger diese Erklärung nur so auffassen, daß die Finanzverwaltung bewußt und gewollt einen endgültigen Steuerbescheid erlassen wolle.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage. Das FA war berechtigt, die Steuerfestsetzung noch einmal zu ändern, da der Steuerbescheid vom 31. Oktober 1975 die Steuerfestsetzung nicht endgültig regelte.

1. Für die Entscheidung des Streitfalls sind die Vorschriften der AO 1977 maßgebend. Nach Art. 97 § 9 EGAO 1977 sind die Vorschriften der AO 1977 über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten erstmals anzuwenden, wenn nach dem 31. Dezember 1976 ein Verwaltungsakt aufgehoben oder geändert wird. Dies gilt auch dann, wenn der aufzuhebende oder zu ändernde Verwaltungsakt vor dem 1. Januar 1977 erlassen worden ist. Auf vorläufige Steuerbescheide nach § 100 Abs. 2 AO ist § 164 Abs. 2 und 3 AO 1977 anzuwenden.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor, denn es ist darüber zu entscheiden, ob der Einkommensteuerbescheid vom 2. Januar 1979 zu Recht erlassen worden ist.

2. Die Änderung des Steuerbescheids vom 31. Oktober 1975 war gemäß § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 zulässig. Danach kann eine Steuerfestsetzung geändert werden, solange der ihr beigefügte Nachprüfungsvorbehalt wirksam ist.

In Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteile in BFHE 79, 559, BStBl III 1964, 436; vom 11. August 1967 VI R 199/66, BFHE 90, 385, BStBl II 1968, 127, und vom 1. August 1984 V R 91/83, BFHE 141, 492, BStBl II 1984, 788) geht der Senat davon aus, daß das FA rechtlich nicht gehindert war, den berichtigten endgültigen Einkommensteuerbescheid vom 2. Januar 1979 zu erlassen. Bei dem zeitlich vorangehenden geänderten Einkommensteuerbescheid vom 31. Oktober 1975 handelte es sich - auch wenn er keinen Vorläufigkeitsvermerk trug - um einen vorläufigen Steuerbescheid, da er als Änderungsbescheid zu dem ursprünglichen vorläufigen Einkommensteuerbescheid ergangen ist. Unter diesen Umständen konnte der erstmalige Einkommensteuerbescheid 1973 den Status der Endgültigkeit nur durch ausdrückliche Endgültigkeitserklärung oder - nach Inkrafttreten der AO 1977 - durch ausdrückliche Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung erhalten.

Diese Rechtsprechung wirkt sich nicht einseitig zum Nachteil des Steuerpflichtigen aus, wovon die Vorinstanz offenbar ausgeht. Sie kann im Gegenteil, wie das Urteil des FG Münster vom 22. September 1983 IV-X 40/82 E (EFG 1984, 211) zeigt, für den Steuerbürger durchaus Vorteile bringen.

Der Vorinstanz ist zuzustimmen, daß es der Verdeutlichung gedient hätte, wenn das FA in dem Änderungsbescheid vom 31. Oktober 1975 ausdrücklich vermerkt hätte, ob dieser weiterhin unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit steht oder ob der Vorbehalt aufgehoben wird (vgl. dazu den Einführungserlaß zur AO 1977 zu § 164 AO 1977 Nr. 7 - BStBl I 1976, 576 -). Es besteht aber keine Vorschrift, die das gebietet. Es gibt auch keine Rechtsnorm, nach der ein Nachprüfungsvorbehalt kraft Gesetzes wirkungslos wird, wenn er in einem Änderungsbescheid oder in einer Einspruchsentscheidung nicht ausdrücklich aufrechterhalten oder wiederholt wird. Der Gesetzgeber hat zwar bestimmt, daß die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung einer Steuerfestsetzung ohne Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht (§ 164 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 AO 1977). Er hat aber nicht umgekehrt angeordnet, daß eine Steuerfestsetzung ohne Vorbehalt der Nachprüfung der Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung gleichsteht. Dies hätte in Anbetracht der bisherigen Rechtsprechung nahegelegen, wenn der Gesetzgeber eine Änderung des Rechtszustandes hätte herbeiführen wollen.

3. Das Einspruchsverfahren der Kläger gegen den Erstbescheid steht der Wirksamkeit des Nachprüfungsvorbehalts nicht entgegen. Nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 hat das FA die Sache aufgrund eines Einspruchs in vollem Umfang erneut zu überprüfen. Auch im Einspruchsverfahren gelten aber nach § 365 Abs. 1 AO 1977 die Vorschriften sinngemäß, die für den Erlaß des angefochtenen Verwaltungsakts gelten. Das bezieht sich auch auf die Vorschrift des § 164 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, so daß das FA einen dem angefochtenen Steuerbescheid beigefügten Nachprüfungsvorbehalt im Einspruchsverfahren aufrechterhalten kann (BFH-Urteile vom 12. Juni 1980 IV R 23/79, BFHE 130, 370, BStBl II 1980, 527; vom 4. August 1983 IV R 79/83, BFHE 139, 137, BStBl II 1984, 611). Entsprechendes galt für die Rechtslage vor Inkrafttreten der AO 1977.

4. Die Kläger können sich für ihre Auffassung, der Einkommensteuerbescheid 1973 vom 31. Oktober 1975 müßte als endgültig beurteilt werden, auch nicht auf die Grundsätze von Treu und Glauben berufen. Zwar konnte der Einkommensteuerbescheid 1973 vom 31. Oktober 1975 für sich genommen Zweifel auslösen, ob es sich um einen vorläufigen Einkommensteuerbescheid handelt. Der Berichtigungsbescheid änderte die Einkommensteuerfestsetzung aber erkennbar ausdrücklich in dem Umfang, in dem es die Kläger mit ihrem Einspruch begehrten. Sie konnten nicht darauf vertrauen, daß hiermit auch andere Umstände, die das FA zum Erlaß eines vorläufigen Bescheids veranlaßt hatten, beseitigt wären. Sollte das Verfahren des FA bei den Klägern oder ihrem Berater Ungewißheit über den rechtlichen Charakter des Änderungsbescheids in bezug auf die Vorläufigkeit des Einkommensteuerbescheids 1973 ausgelöst haben, hätte es in Anbetracht der Rechtsprechung des BFH dem Berater der Kläger oblegen, durch Nachfrage beim FA diese Ungewißheit zu beseitigen.