| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

 

BFH-Beschluß vom 27.6.1985 (I B 28/85) BStBl. 1985 II S. 626

Dem Anspruch auf rechtliches Gehör entspricht ein gewisses Maß an Prozeßverantwortung. Deshalb wird das rechtliche Gehör nicht verweigert, wenn ein Schriftsatz so kurz vor der mündlichen Verhandlung und Urteilsverkündung beim FG eingereicht wird, daß er vom Spruchkörper nicht mehr berücksichtigt werden kann (Ergänzung zu BFH-Urteil vom 30. Mai 1984 I R 218/80, BFHE 141, 221, BStBl II 1984, 668).

FGO § 96; GG Art. 103.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, betreibt seit Juli 1979 ein Unternehmen für Beratung, Projektierung und Durchführung von Bauvorhaben jeder Art. Wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen für das Streitjahr (1979) schätzte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Umsatzsteuer auf 1.300 DM und die Körperschaftsteuer auf 1.120 DM fest.

Die hiergegen erhobenen Einsprüche wurden wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen. Die Einspruchsentscheidung ist unanfechtbar.

Mit Schreiben vom 19. August 1982 beantragte die Klägerin Erlaß der vorgenannten Steuerbeträge. Der Antrag wurde abgelehnt. Die Beschwerde wurde zurückgewiesen.

Am 29. März 1983 ging beim Finanzgericht (FG) ein auf den 19. März 1983 datiertes Schreiben der Klägerin ein, mit dem ohne weitere Begründung "Rechtsmittel" eingelegt wurde. Das FG bestimmte den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 29. Oktober 1984, 10.00 Uhr.

Am 29. Oktober 1984 ging beim FG ein vom Geschäftsführer der Klägerin unter dem Datum vom 15. Oktober 1984 gefertigtes Schreiben ein. Das Schreiben trägt beim Eingangsstempel des FG den mit Handzeichen bestätigten Vermerk "abgegeben 10.05".

Das FG wies die Klage als unzulässig ab, weil die Klägerin weder einen Klageantrag gestellt noch ihr Klagebegehren bezeichnet habe (Hinweis auf Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. November 1979 GrS 1/78, BFHE 129, 117, BStBl II 1980, 99). Die Klageschrift vom 19. März 1983 mache das Klageziel nicht erkennbar. Weitere Schriftsätze habe die Klägerin nicht eingereicht. Zur mündlichen Verhandlung sei sie nicht erschienen.

Das Urteil wurde im Anschluß an die mündliche Verhandlung verkündet. Es trägt den handschriftlichen Vermerk "verkündet 29.10.84 10.05".

Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision, der das FG nicht abgeholfen hat, macht die Klägerin geltend, ihr sei das rechtliche Gehört verweigert worden. Sie habe ihr Begehren "mit Schriftsatz vom 29.10." vorgebracht, der vom FG nicht mehr berücksichtigt worden sei. Eine frühere Stellungnahme sei nicht möglich gewesen, "weil die Zustellung nicht an die richtige Adresse erfolgt ist".

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist nicht begründet.

1. Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision (§ 115 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) ist statthaft, weil der Streitwert der angefochtenen Entscheidung 10.000 DM nicht übersteigt und das FG die Revision nicht zugelassen hat. Die Beschwerde ist auch zulässig, weil die Klägerin den Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs und damit einen Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend macht. Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet; der geltend gemachte Zulassungsgrund ist nicht gegeben.

2. Die Klägerin bringt vor, das FG habe den "Schriftsatz vom 29. 10" nicht mehr berücksichtigt. Damit wird gerügt, das FG habe seine Entscheidung nicht auf den gesamten Prozeßstoff erstreckt (Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) und deshalb der Klägerin das rechtliche Gehör verweigert (Art. 103 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 des Grundgesetzes - GG -). Ein solcher Verfahrensverstoß liegt nicht vor.

a) Ein Gericht hat gemäß Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht, das Vorbringen eines Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 13. März 1973 2 BvR 484/72, BVerfGE 34, 344, 347). Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO muß das Gericht seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens bilden. Zu dem zu berücksichtigenden Prozeßstoff gehören grundsätzlich auch solche Unterlagen, die bereits beim Gericht eingegangen, dem zuständigen Spruchkörper aber noch nicht bekannt sind (vgl. BFH-Urteil vom 30. Mai 1984 I R 218/80, BFHE 141, 221, BStBl II 1984, 668, mit zahlreichen Hinweisen zur Rechtsprechung des BVerfG).

b) Im Streitfall kommt es nicht darauf an, ob das umstrittene Schreiben vom 29. Oktober 1984 trotz der Vermerke über die zeitgleiche Abgabe des Schreibens beim FG und der Verkündung des Urteils (beides um 10.05 Uhr) möglicherweise noch vor der Urteilsverkündung beim FG eingegangen ist. Selbst wenn dies der Fall wäre, läge ein Verfahrensverstoß nicht vor, weil die Klägerin mit ihrem prozessualen Verhalten zu dem von ihr beanstandeten Geschehensablauf beigetragen hätte (vgl. Rößler, Deutsche Steuer-Zeitung - DStZ - 1985, 76).

aa) Dem Anspruch auf rechtliches Gehör im Prozeß entspricht ein bestimmtes Maß an Prozeßverantwortung (Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 1 Anm. 6), die darin besteht, daß der Inhaber dieses Anspruchs im Prozeß aktiv mitwirkt und die ihm gebotene Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen, nutzt (vgl. BFH-Beschluß vom 20. Juni 1974 IV B 55-56/73, BFHE 113, 4, BStBl II 1974, 637). Nimmt ein Beteiligter - wie im Streitfall die Klägerin - die ihm über einen langen Zeitraum gebotene Gelegenheit zur Äußerung erst zu einem Zeitpunkt wahr, in dem er damit rechnen muß, daß seine Äußerung den zuständigen Spruchkörper des Gerichts nicht mehr rechtzeitig vor einer zu erwartenden Urteilsverkündung erreichen kann, so kann er sich - wenn dieser Fall eintritt - angesichts des Geschehensablaufs, zu dem er beigetragen hat, nicht mit Erfolg auf eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs berufen.

bb) Im Streitfall hat die Klägerin am 29. März 1983 Klage erhoben. Erst mit dem am 29. Oktober 1984 - dem Tag der mündlichen Verhandlung - beim FG eingegangenen Schreiben hat sie sich nach ihrer Auffassung zur Sache geäußert. Die Bemerkung der Klägerin in der Beschwerdeschrift, eine frühere Stellungnahme sei nicht möglich gewesen, "weil die Zustellung nicht an die richtige Adresse erfolgt ist", ist nicht verständlich. Das Vorbringen läßt nicht erkennen, um welche Zustellung es sich handelt, was die richtige Adresse gewesen wäre und aus welchem Grund das vom Geschäftsführer der Klägerin unter dem Datum des 15. Oktober 1984 gefertigte Schreiben erst am 29. Oktober 1984 beim FG abgegeben wurde. Der Klägerin war auch der auf den 29. Oktober 1984 bestimmte Termin der mündlichen Verhandlung bekannt, was aus dem in dem Schriftsatz hervorgehobenen Vermerk "Terminsache 29.10.84-10.00" folgt. Der auf dem Schreiben angebrachte weitere Vermerk "über Kurier ungarische Botschaft" ist ebensowenig verständlich wie die Bemerkung, der Geschäftsführer der Klägerin mache sein Erscheinen "von der Stellung von Sicherheiten abhängig".

Die Klägerin mußte bei diesem prozessualen Verhalten damit rechnen, daß ihr Schriftsatz vom zuständigen Spruchkörper des FG vor einer möglichen Urteilsverkündung nicht mehr zur Kenntnis genommen werden konnte. Der Umstand, daß dies geschehen ist, ist eine Folge dieses Verhaltens und keine Verweigerung des rechtlichen Gehörs.