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BFH-Urteil vom 6.11.1985 (II R 255/83) BStBl. 1986 II S. 168

Wird bei Erlaß eines Folgebescheides ein vorliegender Grundlagenbescheid übersehen, so wird dadurch der Erlaß eines auf § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützten Änderungsbescheides nicht unzulässig.

AO 1977 § 175 Abs. 1 Nr. 1.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

In der Vermögensteuererklärung auf den 1. Januar 1974 sind drei Kinder des Klägers und seiner Ehefrau aufgeführt worden, nämlich der 1954 geborene Sohn und die 1957 und 1964 geborenen Töchter. Hinsichtlich des Sohnes wurde wegen dessen Berufsausbildung die Zusammenveranlagung beantragt.

Die Steuererklärung enthält den Hinweis, daß die Kinder eigenes Vermögen hätten, das in Abschn. B aufgeführt sei. In Abschn. B ist u. a. eine Beteiligung an der B-KG unaufgegliedert angegeben worden.

Das beklagte Finanzamt (FA) setzte die Vermögensteuer 1974 durch Bescheid unter Vorbehalt der Nachprüfung vom 30. Mai 1978 auf jährlich 609 DM fest.

Im Juli 1978 begann bei der B-KG eine Betriebsprüfung, die sich u. a. auch auf die Einheitsbewertung des Betriebsvermögens auf den 1. Januar 1974 erstreckte. Am 28. Februar 1979 übersandte die für die B-KG zuständige Stelle des FA der für die Vermögensteuer zuständigen Stelle Mitteilungen über die auf den Kläger und seine beiden Töchter entfallenden Anteile am Betriebsvermögen der KG u. a. auf den 1. Januar 1974 und den 1. Januar 1977, aber keine Mitteilung hinsichtlich der Beteiligung des Sohnes. Das FA erließ nunmehr am 28. September 1979 auf § 175 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützte geänderte Vermögensteuerbescheide, in denen es die Vermögensteuer 1974 auf 0 DM und die Vermögensteuer für 1977 auf 609 DM (1978 auf 435 DM) festsetzte. Es berücksichtigte dabei jeweils nur die Anteile des Klägers an der B-KG.

Durch Bescheide vom 29. Februar 1980 änderte das FA unter Berufung auf § 175 Nr. 1 AO 1977 die Vermögensteuerbescheide auf den 1. Januar 1974 und den 1. Januar 1977 erneut und setzte nunmehr auch die Anteile der Kinder ein. Es ergab sich nunmehr für 1974 eine Vermögensteuer von 917 DM und für 1977 eine Vermögensteuer von 3 367 DM (1978: 2.405 DM).

Der Kläger legte gegen die beiden Bescheide Einspruch ein mit der Begründung, daß die Änderungsmöglichkeit aufgrund des § 175 Nr. 1 AO 1977 bereits durch die Bescheide vom 28. September 1979 verbraucht worden sei. Das FA wies die Einsprüche des Klägers durch Einspruchsentscheidung vom 13. Januar 1981 als unbegründet zurück.

Mit seiner Klage hat der Kläger die Aufhebung der angefochtenen geänderten Vermögensteuerbescheide 1974 und 1977 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung und die Wiederherstellung der Steuerbescheide vom 28. September 1979 beantragt.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage im wesentlichen abgewiesen, weil die Änderungsmöglichkeit aufgrund des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 noch nicht verbraucht gewesen sei. Allerdings sei die Vermögensteuer 1974 von 917 DM auf 609 DM herabzusetzen, weil der Differenzbetrag von 308 DM verjährt gewesen sei.

Die Beteiligten haben innerhalb der Revisionsfrist jeweils Revision eingelegt.

Der Kläger hat (sinngemäß) beantragt, das angefochtene Urteil und die geänderten Vermögensteuerbescheide 1974 und 1977 aufzuheben.

Das FA hat beantragt, die Klage (unter Aufhebung des angefochtenen Urteils) in vollem Umfang abzuweisen.

Entscheidungsgründe

1. Die Revision des FA ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

2. Die Revision des Klägers ist als selbständige Revision unzulässig, weil sie verspätet begründet worden ist und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann. Als unselbständige Revision ist sie nur hinsichtlich der Vermögensteuer 1974 zulässig. Denn das FA hat das FG-Urteil nur insoweit angefochten (vgl. in diesem Zusammenhang die BFH-Urteile vom 17. November 1964 VI 39/63 U, BFHE 81, 494, BStBl III 1965, 178, und vom 3. Juli 1979 VII R 53/76, BFHE 128, 158, BStBl II 1979, 655).

Die Revision des FA ist begründet, die Revision des Klägers, soweit sie als unselbständige Anschlußrevision zulässig ist, unbegründet. Der vom Kläger angefochtene Vermögensteuerbescheid 1974 ist rechtmäßig.

a) Das FA hat den materiell richtigen Steuerbescheid auf den 1. Januar 1974 vom 29. Februar 1980 zu Recht auf § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützt. Diese Vorschrift ist auch dann anwendbar, wenn (wie im vorliegenden Fall) bei einer bereits zuvor vorgenommenen Änderung aufgrund des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bereits ein Grundlagenbescheid vorlag, dieser aber nicht berücksichtigt wurde, weil er entweder dem den Steuerbescheid erlassenden FA nicht bekannt war oder übersehen wurde. Dies ist in der Rechtsprechung bisher stets anerkannt worden, wobei der Reichsfinanzhof (RFH) in den Fällen des übersehenen Grundlagenbescheides auf § 92 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung (AO) a. F. zurückgegriffen hat (vgl. im einzelnen RFHE 31, 96, RStBl 1934, 261; RStBl 1936, 210; FG Düsseldorf in Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1980, 423; FG Baden-Württemberg in EFG 1982, 113; unentschieden das Urteil des BFH vom 5. Mai 1981 VIII R 103/78, BFHE 134, 210, BStBl II 1982, 99; vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 175 AO 1977, Tz. 2, 5, sowie Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 175 Tz. 7, der für die Anwendung des § 129 AO 1977 bei übersehenen Grundlagenbescheiden eintritt).

Es ist das Ziel des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, die Bindungswirkung eines Grundlagenbescheides verfahrensrechtlich zur Geltung zu bringen. Daraus folgt, daß das gesetzliche Gebot zur entsprechenden Änderung eines Folgebescheides solange besteht, als ein Grundlagenbescheid in dem Folgebescheid noch nicht berücksichtigt ist. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 enthält insoweit keinerlei einschränkende Vorschriften.

b) Entgegen der Auffassung des FG war bei Erlaß des angefochtenen Vermögensteuerbescheides 1974 noch keine Verjährung eingetreten. Der Eintritt der Verjährung wurde durch die Ablaufhemmung des § 146 a Abs. 3 AO a. F. verhindert.

Die Ablaufhemmung gemäß § 146 a Abs. 3 AO a. F. trat allerdings nur insoweit ein, als das Betriebsvermögen betroffen war. Für den vorliegenden Fall ergeben sich hieraus keine Auswirkungen. Denn die strittige Vermögensteuer betraf nur das Betriebsvermögen. Ohne Betriebsvermögen hätte sich überhaupt keine Vermögensteuer ergeben (vgl. hierzu das BFH-Urteil vom 22. April 1977 III R 122/74, BFHE 122, 229, BStBl II 1977, 681).