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BFH-Beschluß vom 27.2.1986 (IV B 6/85) BStBl. 1986 II S. 492

Hebt das FG einen Steuerbescheid wegen mangelnder Sachaufklärung des FA gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO auf, kann eine Revisionszulassung nicht mit der Verfahrensrüge mangelnder Sachaufklärung seitens des FG (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) erreicht werden.

FGO § 76, § 100 Abs. 2 Satz 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3.

Sachverhalt

Aufgrund einer im September 1978 begonnenen Außenprüfung wurden beim Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) u. a. für das Streitjahr 1970 nicht erklärte Einnahmen aus freiberuflicher Tätigkeit festgestellt. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) hat auf der Grundlage der Prüfungsfeststellungen am 3. Dezember 1979 geänderte Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide für das Jahr 1970 erlassen und sich dabei auf die 10jährige Verjährungsfrist des § 144 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) für hinterzogene Steuern berufen.

Mit der Klage wird geltend gemacht, die Steuerforderungen seien verjährt; es könne allenfalls der Vorwurf leichtfertiger Steuerverkürzung erhoben werden. Das Finanzgericht (FG) hat die angefochtenen Änderungsbescheide aufgehoben. In den Gründen der Entscheidung wird ausgeführt, der vom FA erhobene Schuldvorwurf vorsätzlicher Steuerverkürzung beruhe auf unzureichenden Ermittlungen. Der erhobene Schuldvorwurf sei nicht belegt. Da nicht auszuschließen sei, daß das FA bei gehöriger Sachverhaltsermittlung zu einem anderen Ergebnis gelange, leide das Verfahren an einem wesentlichen Verfahrensmangel i. S. des § 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Zwar obliege dem Gericht grundsätzlich die Sachaufklärungspflicht. Da deren Erfüllung vorliegend aber ohne einen erheblichen Aufwand an Zeit und Kosten nicht möglich erscheine, erhalte das FA durch die Aufhebung der angefochtenen Bescheide Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen.

Das zuständige Amtsgericht hat gegen den Kläger einen rechtskräftigen Strafbefehl erlassen, der auf den Vorwurf vorsätzlicher Steuerverkürzung gestützt wird.

Wegen Nichtzulassung der Revision im Urteil des FG hat das FA Beschwerde erhoben, die ausschließlich auf § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gestützt wird. Das FG hat nach Auffassung des FA die ihm nach § 76 FGO obliegende Sachaufklärungspflicht verletzt, indem es unter Berufung auf § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO von einer eigenen Sachentscheidung abgesehen habe. Darin sei ein Verfahrensmangel zu sehen. Entgegen der Auffassung des FG sei das Verfahren des FA nicht mit einem wesentlichen Verfahrensmangel i. S. des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO belastet, wozu das FA die Ermittlungsergebnisse vorträgt, die den Schuldvorwurf des Vorsatzes belegen sollen. Im Hinblick auf diese Ermittlungsergebnisse kommt das FA des weiteren zu dem Ergebnis, daß eine weitere Aufklärung seitens des FG keinesfalls einen erheblichen Zeit- und Kostenaufwand verursacht hätte.

Entscheidungsgründe

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet.

1. Gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn bei einem geltend gemachten Verfahrensmangel die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann.

Ein Verfahrensmangel im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht bei jeder rechtsirrigen Beurteilung einer verfahrensrechtlichen Frage vor. Es ist zu unterscheiden zwischen dem Irrtum, der das Verfahren des Gerichts bei der Urteilsfindung beeinflußt hat (error in procedendi), und der von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO nicht erfaßten rechtlich falschen Beurteilung von Verfahrensvorschriften, die den Inhalt der angefochtenen Entscheidung selbst bildet (error in iudicando). Einer Zulassungsrüge i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind damit nur zugänglich diejenigen Fehler, die das FG bei der Handhabung seines Verfahrens begeht und die zur Folge haben, daß es an einer ordnungsgemäßen Grundlage für die Urteilsfällung fehlt, mithin infolge falscher formaler Behandlung der materielle Inhalt der Entscheidung beeinflußt sein kann (Beschluß des erkennenden Senats vom 26. Februar 1970 IV B 93/69, BFHE 99, 6, BStBl II 1970, 545; ebenso Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 115 FGO Rdnr. 65; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 115 FGO Rdnr. 46; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 115 FGO Anm. 3; Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 115 Rdnr. 19; Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, Rdnrn. 139-144; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnrn. 9834 ff.).

2. Die vom FA erhobene Rüge der Nichtzulassung der Revision im Urteil des FG wird darauf gestützt, das FG habe es unterlassen, seiner Aufklärungspflicht gemäß § 76 FGO zu genügen; es hätte die aus seiner Sicht für notwendig erachteten weiteren tatsächlichen Ermittlungen zur inneren Tatseite der Steuerverkürzung selbst treffen müssen.

Die Besonderheit des Falles ist darin zu sehen, daß sich das FG für seine Weigerung, selbst die für notwendig befundene Sachaufklärung vorzunehmen, auf eine Vorschrift des Verfahrensrechts beruft. Es ist nämlich der Auffassung, daß das außergerichtliche Verfahren mit einem wesentlichen Verfahrensmangel i. S. des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO behaftet sei.

Das FG hat damit in Anwendung des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO über den Umfang und die Grenzen der ihm obliegenden Sachaufklärungspflicht entschieden (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. Dezember 1979 VIII R 27/77, BFHE 130, 7, BStBl II 1980, 330, m. w. N.). Sollte ihm hierbei ein Auslegungsirrtum unterlaufen sein, so hätte dieser nicht den Gang des finanzgerichtlichen Verfahrens, sondern vielmehr den Inhalt seiner Entscheidung beeinflußt.

Dies schließt jedoch die Annahme eines Verfahrensmangels i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO grundsätzlich nicht aus. Es ist anerkannt, daß ein Verfahrensverstoß erst mit der Urteilsfällung begangen werden kann, so z. B. bei den die Beweiswürdigung betreffenden Verfahrensverstößen (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 12. Mai 1958 VII ZR 436/56, BGHZ 27, 250).

Der vorliegende Fall ist jedoch anders gelagert. Es geht hier nicht darum, daß das FG seine Amtspflicht zur Sachaufklärung in einer Weise verletzt hätte, die erst in seiner Entscheidung zutage getreten ist. Vielmehr hat das FG den Begriff des wesentlichen Verfahrensmangels i. S. des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO weit ausgelegt und damit den Umfang seiner Sachaufklärungspflicht i. S. des § 76 FGO eingeengt. Die möglicherweise dadurch eingetretene Verletzung der Sachaufklärungspflicht wäre also eine Rechtsfolge der fehlsamen Beurteilung einer anderen Verfahrensvorschrift, nämlich des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO. Die Auslegung dieser Verfahrensvorschrift trägt jedoch die Entscheidung des FG.

3. Eine auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 FGO gestützte Beschwerde ist nicht erhoben, so daß die Revision des FA nicht zugelassen werden kann.