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BFH-Urteil vom 25.7.1986 (VI R 216/83) BStBl. 1986 II S. 779

Hebt das FA im Einspruchsverfahren ohne ersichtlichen Grund einen gegen den Arbeitgeber erlassenen Lohnsteuer-Haftungsbescheid mit dem Bemerken auf, die Aufhebung erfolge "ersatzlos", so kann der Arbeitgeber dies in dem Sinne verstehen, das FA werde gegen ihn keinen neuen Haftungsbescheid als "Ersatz" für den Ursprungsbescheid erlassen (Ergänzung zu dem Urteil des Senats vom 11. Juli 1986 VI R 105/83, BFHE 147, 113, BStBl II 1986, 775).

EStG 1980 § 41a, § 42d; AO 1977 § 130, § 155 Abs. 1 Satz 3.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt ein Taxiunternehmen. Bei einer Betriebsprüfung stellte der Prüfer fest, daß ein Teil der Aushilfslöhne der vom Kläger beschäftigten Aushilfsfahrer nicht der Lohnsteuer unterworfen waren. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erließ deshalb gegen den Kläger am 10. September 1980 einen Haftungsbescheid, in dem er für die Jahre 1973 bis 1977 Lohnsteuer, evangelische Lohnkirchensteuer und römisch-katholische Lohnkirchensteuer jeweils in einem Gesamtbetrag anforderte. In dem Bescheid wurde auf den Betriebsprüfungsbericht Bezug genommen. In dem Bericht war die nachzuentrichtende Lohnsteuer nach Steuerklasse VI mit einem Nettosteuersatz von 23,4 v. H. bis einschließlich 1974 und 28,2 v. H. ab 1975 berechnet worden, und es waren die nachgeforderte Lohnsteuer und römisch-katholische wie evangelische Lohnkirchensteuer jeweils in Jahresbeträgen ausgewiesen.

Der Kläger legte gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 6. Oktober 1980 Einspruch ein. Er begehrte die Nachversteuerung mit dem Pauschsatz von 10 v. H. nach § 40 a des Einkommensteuergesetzes (EStG). Das FA lehnte dies mit Schreiben vom 7. November 1980 ab, da die Arbeitslöhne die in dieser Vorschrift genannten Höchstgrenzen überschritten hätten. Der Kläger beantwortete trotz zweimaliger Aufforderung dieses Schreiben nicht.

Das FA erließ sodann eine Verfügung vom 26. Januar 1981 mit folgendem Inhalt:

"Den o. a. Haftungsbescheid über Lohnsteuer und Kirchensteuer 1973-1977 hebe ich hiermit ersatzlos auf. Ihr Einspruch ist damit erledigt."

Das FA erließ am 13. Februar 1981 gegen den Kläger erneut einen Haftungsbescheid über nachzufordernde Lohnsteuer, evangelische Lohnkirchensteuer und römisch-katholische Lohnkirchensteuer für den Zeitraum von 1973 bis 1977 mit den gleichen Beträgen wie im Ursprungsbescheid vom 10. September 1980. In einer Anlage wies es auf die Monatsbeträge der nachgeforderten Lohnsteuer, evangelische Lohnkirchensteuer und römisch-katholische Lohnkirchensteuer für die jeweiligen Streitjahre hin. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es führte in dem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1984, 99 veröffentlichten Urteil u. a. aus:

Der Haftungsbescheid vom 10. September 1980 sei infolge fehlender Aufgliederung der Haftungssumme in monatliche Lohnzahlungszeiträume rechtswidrig, wenn nicht gar nichtig gewesen. Einen rechtswidrigen Verwaltungsakt könne das FA nach § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) jederzeit von sich aus zurücknehmen.

Das FA habe den ursprünglichen Verwaltungsakt "ersatzlos" aufgehoben. Wie das Wort "ersatzlos" in diesem Zusammenhang zu verstehen sei, richte sich nach den Gesamtumständen des Einzelfalles. Das FA habe mit der Wahl dieses Ausdrucks anscheinend im Rahmen eines üblichen - wenn auch gedankenlosen - amtlichen Sprachgebrauchs zum Ausdruck bringen wollen, es werde hiermit der Bescheid vollinhaltlich, also restlos, aufgehoben. Der Adressat des Aufhebungsbescheids, auf dessen Verständnis es allein ankomme, könne dieses Wort auch anders verstehen. Er brauche nicht davon auszugehen, daß die Finanzbehörde gedankenlos Worte verwende, an deren objektiven Erklärungsinhalt die Behörde sich nicht festhalten lassen wolle. Das gelte erst recht für den Streitfall.

Im Einspruchsverfahren sei es um die materielle Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids, also einer Ermessensentscheidung, gegangen. In diesem Zusammenhang könne das bei Aufhebung des Haftungsbescheids gebrauchte Wort "ersatzlos" ohne gleichzeitigen Hinweis darauf, daß die Aufhebung aus formellen Gründen erfolge und demnächst ein neuer fehlerfreier Haftungsbescheid (mit sonst gleichem Inhalt) zu erwarten sei, nur als "ersetzungslos" im Sinne einer Freistellung des Klägers von der Haftung gewertet werden. Einen derartigen Freistellungsbescheid könne das FA lediglich unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO 1977 ändern. Sie lägen hier nicht vor.

Gegen dieses Urteil hat das FA Revision eingelegt. Es führt u. a. aus:

Der Kläger habe die ersatzlose Aufhebung des Haftungsbescheids nicht dahin verstehen dürfen, daß es, das FA, einen Freistellungsbescheid habe erteilen wollen. Gegenstand des ursprünglichen Einspruchsverfahrens sei lediglich die Frage gewesen, mit welchem Steuersatz die Aushilfslöhne der Lohnsteuer zu unterwerfen gewesen seien. Es, das FA, hätte daher allenfalls die Haftungssumme mindern und nicht aber den angefochtenen Haftungsbescheid aufheben können. Der Umstand, daß es über den Antrag des Klägers hinausgegangen sei, habe gezeigt, daß andere Gründe für die Aufhebung des Haftungsbescheids ursächlich gewesen seien und das Verfahren damit noch nicht abgeschlossen sei.

Das FA beantragt, unter Aufhebung des Urteils die Haftungsschuld mit den im Revisionsschriftsatz vom 25. November 1983 angegebenen Beträgen festzusetzen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Denn das FG konnte ohne Rechtsverstoß die Verfügung des FA vom 26. Januar 1981 dahin würdigen, daß das FA hiermit objektiv zum Ausdruck gebracht hat, es werde auf die Geltendmachung des Haftungsanspruchs gegenüber dem Kläger als Arbeitgeber bezüglich der nachzuerhebenden Lohnsteuer, evangelische Lohnkirchensteuer und römisch-katholische Lohnkirchensteuer für die Jahre 1973 bis 1977 endgültig verzichten.

Der Arbeitgeber ist nach § 41 a EStG 1980 verpflichtet, Lohnsteuer für die von ihm beschäftigten Arbeitnehmer einzubehalten und an das FA abzuführen. Kommt er dieser Pflicht nicht nach, so haftet er nach Maßgabe des § 42 d EStG. Soweit die Haftung des Arbeitgebers reicht, sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer Gesamtschuldner. Das Betriebsstätten-FA kann nach § 42 d Abs. 3 EStG die Steuerschuld oder die Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen gegenüber jedem Gesamtschuldner geltend machen.

Im Streitfall hat das FA sein Ermessen dahin ausgeübt, daß es den Kläger als Arbeitgeber für nicht einbehaltene und an das FA abgeführte Lohnsteuer, evangelische Lohnkirchensteuer und römisch-katholische Lohnkirchensteuer für die Jahre 1973 bis 1977 haftbar gemacht hat. Der gegen den Kläger erlassene Haftungsbescheid vom 10. September 1980 wurde jedoch vom FA mit Verfügung vom 26. Januar 1981 aufgehoben. Das FA hat im Bescheid vom 26. Januar 1981 nicht angegeben, weshalb es den vorgenannten Haftungsbescheid aufgehoben hat. Solche Gründe ergeben sich auch nicht aus dem vorangegangenen Schreiben des FA vom 7. November 1980, in dem das FA den Kläger darauf hingewiesen hatte, die Voraussetzungen für eine Pauschalversteuerung nach § 40 a EStG lägen nicht vor und sein Einspruch habe daher keinen Erfolg.

Wie ein Vergleich des ursprünglichen Haftungsbescheids vom 10. September 1980 und des nachfolgenden Haftungsbescheids vom 13. Februar 1981 zeigt, hat das FA den Haftungsbescheid vom 10. September 1980 offensichtlich deshalb aufgehoben, weil es der - irrigen - Ansicht war, in einem Haftungsbescheid oder in der Anlage zu einem solchen Bescheid müßten die für zurückliegende Jahre nachgeforderte Lohnsteuer, evangelische Lohnkirchensteuer und römischkatholische Lohnkirchensteuer jeweils auf Monatsbeträge aufgeteilt werden (vgl. zur Nichterforderlichkeit einer solchen Aufgliederung das inzwischen ergangene Urteil des Senats vom 18. Juli 1985 VI R 208/82, BFHE 145, 29, BStBl II 1986, 152). Diese Gründe für die Aufhebung des Haftungsbescheids vom 10. September 1980 waren für den Kläger bei Erlaß des Aufhebungsbescheids vom 26. Januar 1981 nicht erkennbar.

Der Senat tritt dem FG darin bei, daß das FA grundsätzlich befugt ist, an die Stelle eines Haftungsbescheids, den es wegen (angenommener) Fehlerhaftigkeit im Einspruchsverfahren aufgehoben hat, einen neuen fehlerfreien Haftungsbescheid zu setzen. Von einer solchen Möglichkeit kann das FA jedoch nach den Grundsätzen von Treu und Glauben dann keinen Gebrauch machen, wenn es vorher dem Betroffenen mitgeteilt hat, es werde von der weiteren Geltendmachung des Haftungsanspruchs absehen.

Der Senat schließt sich den Ausführungen des FG an, nach denen der Kläger den Bescheid des FA vom 26. Januar 1981 im Sinne eines solchen Verzichtes verstehen konnte und durfte. Das FA hat in diesem Bescheid erklärt, es hebe den Haftungsbescheid vom 10. September 1980 hiermit "ersatzlos" auf und es erledige sich damit der Einspruch des Klägers. Wie das FG zutreffend hervorhebt, konnte der Kläger hier das Wort "ersatzlos" dahin verstehen, daß der Haftungsbescheid ersetzungslos fortfallen, als "Ersatz" also kein neuer Haftungsbescheid über die nachgeforderte Lohnsteuer und Lohnkirchensteuer für den Zeitraum von 1973 bis 1977 treten soll. Zu einer anderen Ansicht brauchte der Kläger nicht zu gelangen, weil ihm die Gründe, die das FA zur Aufhebung des ursprünglichen Haftungsbescheids vom 10. September 1980 veranlaßt hatten, weder aus dem Bescheid vom 26. Januar 1981 noch aus dem vorangegangenen Schreiben des FA vom 7. November 1980 ersichtlich waren. Wenngleich die Beteiligten sich im Einspruchsverfahren auch nur über die Höhe des Nettosteuersatzes gestritten hatten, so schließt dies nicht die Möglichkeit aus, daß das FA - gleich aus welchen Gründen - von der Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner Abstand nimmt und deshalb den Haftungsbescheid "ersatzlos" aufhebt. Von einem solchen Sachverhalt durfte der Kläger im Hinblick auf das vom FA verwendete Wort "ersatzlos" ausgehen.

Der Entscheidung des Senats steht das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 27. November 1984 VIII R 376/83 (Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 1985, 13) nicht entgegen. Dort ging es um die Aufhebung und den späteren erneuten Erlaß von Umsatzsteuerbescheiden, Gewerbesteuerbescheiden und einer einheitlichen Gewinnfeststellung. In jenem Urteilsfall hatte das FA die Bescheide ebenfalls "ersatzlos" aufgehoben, ohne in dem Aufhebungsbescheid erkennbar zu machen, daß es die Bescheide nur aus formellen Gründen zurückgenommen hat. Der BFH führte in dieser Entscheidung aus, das FA sei zum Erlaß neuer Steuerbescheide dann nicht berechtigt, wenn in der Rücknahme ein Freistellungsbescheid im Sinne des § 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 zu sehen sei oder wenn durch die Aufhebung der ursprünglichen Bescheide ein Vertrauensschutz für die Klägerin entstanden sei, der dem Erlaß neuer Steuerbescheide entgegenstehen würde. Ein Freistellungsbescheid in diesem Sinne liege nur vor, wenn in ihm zum Ausdruck gebracht werde, daß vom Steuerpflichtigen eine Steuer aufgrund des geprüften Sachverhalts dem Grunde nach überhaupt oder für einen bestimmten Veranlagungszeitraum nicht gefordert werde bzw. daß für ein bestimmtes Wirtschaftsjahr kein Gewinn festgestellt werde. Es sei rechtlich nicht zu beanstanden, wenn das FG einen solchen Freistellungsbescheid nicht schon in einem Bescheid erblicke, durch den Steuerbescheide ohne jegliche Begründung "ersatzlos" aufgehoben würden.

Ein solcher Sachverhalt ist hier nicht gegeben. Es handelt sich im Streitfall nicht um die Frage, ob das FA mit der Aufhebung von Steuerbescheiden und einheitlichen Gewinnfeststellungsbescheiden auf die Geltendmachung von Steueransprüchen gegenüber dem Steuerschuldner verzichtet, weil es der Ansicht ist, daß der gesetzliche Tatbestand, an den die Entstehung der Steuer und ihre gesetzlich vorgeschriebene Geltendmachung geknüpft ist, nicht erfüllt ist. In Fällen der Lohnsteuerhaftung, um die es hier geht, weil der Arbeitgeber die Lohnsteuer nicht einbehalten und ans FA abgeführt hat, ist dieses berechtigt, aber nicht verpflichtet, wegen der nachzufordernden Lohnsteuerbeträge gegen den Arbeitgeber einen Haftungsbescheid zu erlassen. Es obliegt seinem pflichtgemäßen Ermessen, ob es den Arbeitgeber als Haftungsschuldner oder den Arbeitnehmer als Steuerschuldner in Anspruch nehmen will. Hebt daher das FA einen gegen den Arbeitgeber erlassenen Haftungsbescheid ohne nähere Begründung "ersatzlos" auf, so kann der Arbeitgeber, gegen den sich der Haftungsbescheid richtet, die ersatzlose Aufhebung des Bescheides dahin verstehen, daß das FA auf die Geltendmachung des Haftungsanspruchs gegen ihn überhaupt verzichtet. Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob das FA den Steueranspruch auch gegenüber den Arbeitnehmern als Steuerschuldnern fallen läßt. Die ersatzlose Aufhebung eines Haftungsbescheids beinhaltet also nicht ohne weiteres einen Freistellungsbescheid in dem Sinne, daß das FA hiermit endgültig auch auf die Geltendmachung des Steueranspruchs gegenüber dem Arbeitnehmer als Steuerschuldner verzichtet.

Die Entscheidung des Senats steht ebenfalls nicht in Widerspruch zu dem Urteil des Senats vom 11. Juli 1986 VI R 105/83, BFHE 147, 113, BStBl II 1986, 775, da es sich auch dort um einen anderen Sachverhalt handelte. In jenem Urteilsfall hatte das FA einen Bescheid aufgehoben, durch den es Arbeitnehmer-Sparzulagen für zurückliegende Jahre zurückgefordert hatte. Es war der Ansicht, der Arbeitnehmer habe die Sparzulagen nach § 13 Abs. 4 des Dritten Vermögensbildungsgesetzes zurückzuzahlen, weil einer der dort genannten Tatbestände erfüllt sei. Dieser Sachverhalt unterscheidet sich von dem des Streitfalls maßgeblich dadurch, daß die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs nicht auf einer Ermessensentscheidung des FA beruhte und das FA im Aufhebungsbescheid unter Bezugnahme auf § 125 Abs. 1 AO 1977 den Grund angegeben hatte, weshalb es den ursprünglichen Rückforderungsbescheid aufhebt. Das Wort "ersatzlos" wurde dabei nicht verwendet. Der Senat hielt bei diesem Sachverhalt den Erlaß eines neuen Rückforderungsbescheids ohne weiteres für zulässig.