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BFH-Urteil vom 8.10.1986 (II R 167/84) BStBl. 1987 II S. 12

1. Die Verwirkung eines Steueranspruchs setzt u. a. ein bestimmtes Verhalten des FA voraus, aufgrund dessen der Steuerpflichtige bei objektiver Beurteilung annehmen darf, das FA werde den Anspruch nicht oder nicht mehr geltend machen (sog. Vertrauenstatbestand).

2. Hat das FA die Steuer bereits festgesetzt und legt der Steuerschuldner dagegen Einspruch ein, so darf er allein aus dem Umstand, daß der Einspruch über 9 3/4 Jahre unbearbeitet geblieben ist, nicht schließen, das FA habe den geltend gemachten Steueranspruch aufgegeben.

AO 1977 § 4; FGO § 120 Abs. 2 Satz 2.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, und zwei weitere gemeinnützige Bauträger hatten am 29. Juli 1961 mehrere in Niedersachsen liegende unbebaute Flurstücke in Bruchteilseigentum gekauft. Der Anteil der Klägerin betrug 2/5. Den Erwerbsvorgang hatte das Finanzamt (FA) zunächst von der Grunderwerbsteuer freigestellt gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des damals in Niedersachsen geltenden Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG). Später, durch vorläufigen Bescheid vom 22. Dezember 1971, setzte es gemäß § 4 Abs. 2 GrEStG die Grunderwerbsteuer für die Klägerin auf 73.321,25 DM fest, weil ihm bekanntgeworden war, daß die Flurstücke neu aufgeteilt und zum Teil noch vor Ablauf der Fünfjahresfrist in unbebautem Zustand weiterveräußert worden waren. Vorläufig festgesetzt hatte es die Grunderwerbsteuer deshalb, weil aus den ihm "zur Verfügung stehenden Unterlagen ... die Verwendung der Grundstücke nur teilweise und ohne Zusammenhang ersichtlich" war. Es bat die Klägerin, im einzelnen mitzuteilen, "wie die erworbenen Grundstücke verwendet worden sind".

Am 17. Januar 1972 ging beim FA der Einspruch der Klägerin gegen den Steuerbescheid ein. In dem Einspruchsschreiben hatte die Klägerin - entsprechend der Aufforderung des FA - dargestellt, welche Flurstücke (jeweils bezeichnet nach Flurstücknummer und Flächengröße) vereinigt, welche vermessen, welche neu gebildet worden waren und welche Grundstücke wann an wen verkauft worden waren. Sie hatte durch verschiedenfarbige Haken kenntlich gemacht, in welchen Verkaufsfällen bereits eine Nachveranlagung (bezeichnet nach Datum des Steuerbescheids und Steuernummer) erfolgt war oder ein Befreiungstatbestand vorlag und für welche Grundstücke ihrer Ansicht nach "die Nachveranlagung zu Unrecht vorgenommen" worden war. Sie beantragte, "den Grunderwerbsteuerbescheid entsprechend zu berichtigen" und "den festgesetzten Betrag bis zur Entscheidung über das Rechtsmittel zu stunden". Das FA behandelte diesen Antrag als Antrag auf Aussetzung der Vollziehung und setzte demgemäß durch Verfügung vom 28. Februar 1972 die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids bis zur Entscheidung über den Einspruch aus.

Über 9 3/4 Jahre später, durch Schreiben vom 21. Dezember 1981, teilte das FA der Klägerin mit, es beabsichtige, die Grunderwerbsteuer auf 63.255,45 DM herabzusetzen. Es begründete die späte "Gesamtüberprüfung" des Einspruchs mit dem Hinweis, es sei zeitraubend gewesen, die Vorgänge betreffend die Weiterveräußerung der Grundstücksteile und die damit verbundene Nachversteuerung zu ermitteln. Diese Vorgänge seien schon seit Jahren ausgesondert gewesen; außerdem hätten "allgemeine Personalschwierigkeiten" bestanden. Es fragte die Klägerin, ob sie der vorgesehenen Änderung des Steuerbescheids zustimme. Die Klägerin antwortete zunächst, jene "10 Jahre alten Vorgänge" seien bei ihr nicht auffindbar. Die mit deren Bearbeitung betraut gewesenen Mitarbeiter seien inzwischen ausgeschieden. Sie wies darauf hin, daß es schwierig und zeitaufwendig für sie sein werde, zu der Anfrage des FA Stellung zu nehmen. Nachdem das FA ihr wunschgemäß den angefochtenen Grunderwerbsteuerbescheid und die Einspruchsentscheidung in Kopie zur Verfügung gestellt hatte, machte die Klägerin geltend, der Steueranspruch sei verwirkt. Das FA teilte diese Ansicht nicht. Es setzte durch Änderungsbescheid vom 28. September 1982 die Grunderwerbsteuer auf 58.105,25 DM und durch einen weiteren Änderungsbescheid vom 5. Januar 1983 auf 52.888,60 DM herab. Den Einspruch wies es durch Entscheidung vom 5. Januar 1983 als unbegründet zurück und erklärte die Steuerfestsetzung in Höhe von 52.888,60 DM für endgültig.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin im wesentlichen ihre Ansicht wiederholt, der Steueranspruch sei verwirkt, infolgedessen seien die Einspruchsentscheidung und der Änderungsbescheid, beide vom 5. Januar 1983, ersatzlos aufzuheben.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Der Steueranspruch sei weder verjährt noch verwirkt. Verwirkung setze "neben dem Zeitablauf selbst besondere Umstände voraus, aus denen geschlossen werden" könne und müsse, "daß die Untätigkeit oder das Schweigen endgültig seien und der Steueranspruch nicht mehr geltend gemacht" werde. Infolgedessen begründe die lange Dauer des Einspruchsverfahrens für sich genommen keine Verwirkung in dem Sinne, daß das FA aus dem angefochtenen Steuerbescheid keine Rechte mehr herleiten könne. Die Klägerin habe nicht vorgetragen, daß sie die Verzögerung in der Bearbeitung ihres Einspruchs beim FA gerügt oder daß sie sonstige Schritte - etwa im Dienstaufsichtswege - mit dem Ziel eines baldigen Erlasses der Einspruchsentscheidung unternommen habe. Hätte sie derartige Schritte unternommen, wäre der Sachverhalt möglicherweise anders zu beurteilen gewesen.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung des Rechtsgrundsatzes der Verwirkung. Das FG habe nicht beachtet, daß mit zunehmendem Zeitablauf für die Annahme einer Verwirkung immer weniger konkrete Dispositionen genügten. Nachdem ihr Einspruch 10 Jahre hindurch überhaupt nicht bearbeitet worden sei, weil sowohl die Finanzverwaltung als auch sie, die Klägerin, den Fall vergessen gehabt hätten, sei ein Wiederaufgreifen des Falles Ende 1981 für sie unzumutbar. Sie beantragt, das FG-Urteil sowie die Einspruchsentscheidung und den Grunderwerbsteuerbescheid, beide vom 5. Januar 1983, aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig. Insbesondere ist - wie § 120 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) vorschreibt - die verletzte Rechtsnorm bezeichnet. Rechtsnorm in diesem Sinne kann auch ungesetztes Recht sein, das zur Ergänzung gesetzten Rechts (hier des Grunderwerbsteuerrechts und der Abgabenordnung - AO 1977 -) herangezogen wird, z. B. der allgemeine Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19. Dezember 1973 II R 180/72, BFHE 111, 188, 190, BStBl II 1974, 182) und der aus ihm abzuleitende Rechtsgrundsatz der Verwirkung. Bezeichnet hat die Klägerin die verletzte Rechtsnorm in diesem Falle ausreichend dadurch, daß sie deren konkreten Inhalt dargetan und ausgeführt hat, worin sie deren Verletzung sieht.

Die Revision ist jedoch unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).

Das angefochtene Urteil beruht nicht auf einer Verletzung des Rechtsgrundsatzes der Verwirkung. Verwirkung bedeutet, daß ein Recht nicht mehr ausgeübt werden darf, wenn seit der Möglichkeit, es geltend zu machen, längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Rechtsausübung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (BFH-Urteil vom 4. Juli 1979 II R 74/77, BFHE 129, 201, 202, BStBl II 1980, 126). Zeitablauf allein führt also noch nicht zur Verwirkung (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 1972 2 BvR 255 /67, BVerfGE 32, 305, 308, BStBl II 1972, 306; BFH-Urteil vom 14. September 1977 II R 74/76, BFHE 123, 299, 304, BStBl II 1978, 168). Hinzukommen muß ein Vertrauenstatbestand und eine Vertrauensfolge (BFH-Urteile vom 14. September 1978 IV R 89/74, BFHE 126, 130, 139, BStBl II 1979, 121, und vom 7. Juni 1984 IV R 180/81, BFHE 141, 451, 453, BStBl II 1984, 780; vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 4 AO 1977 Tz. 57 f., 67 f.).

Im vorliegenden Falle fehlt es bereits an einem Vertrauenstatbestand, d. h. an einem bestimmten Verhalten des FA, aufgrund dessen die Klägerin bei objektiver Beurteilung hätte annehmen dürfen, das FA werde den Anspruch auf Grunderwerbsteuer, den es bereits durch vorläufigen Steuerbescheid festgesetzt hatte, nicht mehr geltend machen. Wird gegen einen Steuerschuldner eine Steuer festgesetzt und geht er hiergegen mit Rechtsbehelfen vor, so darf er aus dem Umstand, daß der Rechtsbehelf mehrere Jahre unbearbeitet bleibt, nicht schließen, die Finanzbehörde habe den geltend gemachten Steueranspruch aufgegeben. Unter solchen Verhältnissen muß es vielmehr wegen des Vorhandenseins des Steuerbescheids und der Anhängigkeit des Rechtsbehelfsverfahrens als so gut wie ausgeschlossen angesehen werden, daß ein Nachgeben der Finanzbehörde durch bloßes Untätigbleiben zum Ausdruck kommen könnte. Diese Auffassung hat der erkennende Senat bereits in seinem unveröffentlichten Urteil vom 27. September 1983 II R 84/82 vertreten; ebenso der VIII. Senat in seinem Urteil vom 22. April 1986 VIII R 171/83 (zur Veröffentlichung vorgesehen in der Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs). An ihr hält er fest. Nicht vertrauen konnte die Klägerin auf behördeninterne Vorgänge (z. B. das vorübergehende Aussondern einschlägiger Aktenteile), die ihr nicht bekannt waren.

Bei dieser Sach- und Rechtslage kann unerörtert bleiben, aus welchen Gründen die Klägerin nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, Untätigkeitsklage zu erheben (§ 46 Abs. 1 FGO) oder welche Umstände in ihrem Bereich dazu geführt haben, daß sie den Fall "vergessen" konnte.