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BFH-Urteil vom 19.2.1987 (IV R 143/84) BStBl. 1987 II S. 412

§ 127 AO 1977 ist auch anwendbar, wenn die Besteuerungsgrundlagen für einen Einkommensteuerbescheid geschätzt werden müssen.

AO 1977 § 26, § 127.

Vorinstanz: FG Hamburg (EFG 1985, 3)

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) werden als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Kläger wohnen in Hamburg im Bereich des Finanzamts A (FA A). Der Kläger war freiberuflich tätig. Im Jahre 1968 eröffnete er in Hamburg eine Praxis im Bezirk des Beklagten und Revisionsklägers, des Finanzamts B (im folgenden FA). 1978 verlegte er die Praxis an eine andere Stelle im Bereich dieses FA; 1979 hat er die Praxis aufgegeben.

Da die Kläger keine Steuererklärungen abgaben, schätzte das FA die Besteuerungsgrundlagen und setzte danach die Einkommensteuer für 1968 und 1969 fest. Die Steuerbescheide wurden 1972 in einer Ausfertigung an "Herrn und Frau X" übersandt. Im Einspruchsverfahren erhöhte das FA nach vorheriger Ankündigung die Einkommensteuerschuld der Kläger. Im Jahre 1980 hob das Finanzgericht (FG) die Einkommensteuerbescheide auf, weil die Übersendung nur einer Ausfertigung an beide Eheleute fehlerhaft gewesen sei.

Nach Rechtskraft des Urteils wandte sich das FA im Dezember 1980 an das FA A und wies auf die nunmehr gegebene Zuständigkeit dieses Finanzamts hin; gleichzeitig schlug es vor, das Steuerfestsetzungsverfahren 1968 und 1969 noch in eigener Zuständigkeit durchzuführen. Das FA A stimmte dem zu; die Kläger wurden hierzu nicht gehört. Das FA erließ daraufhin erneut Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1968 und 1969, in denen es den Inhalt der Einspruchsentscheidung wiederholte. Gegen die nunmehr in zweifacher Ausfertigung übersandten Einkommensteuerbescheide erhoben die Kläger wiederum Einspruch. Im Einspruchsverfahren wies das FA auf die mit dem FA A getroffene Zuständigkeitsvereinbarung hin und wies die Einsprüche in der Folge zurück.

Die Klage hatte Erfolg; das FG hob die Einkommensteuerbescheide auf, weil sie vom örtlich unzuständigen FA erlassen worden seien.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA fehlerhafte Anwendung der Abgabenordnung (AO 1977).

Entscheidungsgründe

Auf die Revision des FA muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen werden. Das FG konnte die angefochtenen Steuerbescheide nicht mit der Begründung aufheben, sie seien von einem örtlich unzuständigen FA erlassen worden.

1. Das beklagte FA war, wovon die Beteiligten übereinstimmend ausgehen, zum Erlaß der Einkommensteuerbescheide an sich nicht berufen, da die Kläger nicht in seinem Bezirk wohnten (§ 19 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Solange allerdings der Kläger noch seine freiberufliche Tätigkeit im Bereich des FA ausübte, war diese Behörde, weil sie zur Wohnsitzgemeinde gehört, für den Erlaß der Einkommensteuerbescheide zuständig, und zwar auch hinsichtlich der mit dem Kläger zusammenveranlagten Ehefrau (§ 19 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 AO 1977). Erst mit der Aufgabe der freiberuflichen Tätigkeit durch den Kläger trat ein Zuständigkeitswechsel zugunsten des FA A (Wohnsitz-FA) ein.

In einem solchen Fall kann die bisher zuständige Behörde das Veranlagungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die nunmehr zuständige Finanzbehörde zustimmt (§ 26 Satz 2 AO 1977). Im Streitfall wollte das beklagte FA mit Zustimmung des Wohnsitz-FA in dieser Weise verfahren. Nach Ansicht des FG waren jedoch die Voraussetzungen des § 26 AO 1977 nicht erfüllt, weil nach Aufhebung der zunächst ergangenen Einkommensteuerbescheide 1968 und 1969 durch das FG das Besteuerungsverfahren nicht fortgesetzt werde, sondern neu beginne, und weil außerdem die Kläger vor der Vereinbarung der FÄ hätten gehört werden müssen.

Der Senat läßt offen, ob dieser Auffassung beizupflichten ist. Denn selbst wenn deswegen die Voraussetzungen des § 26 AO 1977 nicht vorlagen und das FA als unzuständige Behörde entschieden hätte, würde dies nicht dazu führen, daß die Einkommensteuerbescheide aus diesem Grunde aufzuheben wären. § 127 AO 1977 bestimmt nämlich, daß ein Verwaltungsakt, der unter Verletzung der Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, nicht aufzuheben ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können, sofern es sich nicht um einen nichtigen Verwaltungsakt handelt.

Der Senat hat zum Zweck und zu den Folgen dieser Bestimmung in seiner Entscheidung vom 22. September 1983 IV R 109/83 (BFHE 140, 132, BStBl II 1984, 342) eingehend Stellung genommen. Er hat darauf hingewiesen, daß in dieser Vorschrift wie in dem gleichlautenden § 46 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) der gesetzgeberische Wille zum Ausdruck kommt, Verfahrensmängeln im Verwaltungsverfahren ein geringeres Gewicht als sachlich-rechtlichen Mängeln beizulegen und rechtlich gebundene Verwaltungsakte, für die weder ein Ermessens- noch ein Beurteilungsspielraum besteht, bestehen zu lassen, wenn sie sich als materiell-rechtlich zutreffend erweisen. Kann dagegen der Verwaltungsakt aus materiell-rechtlichen Gründen keinen Bestand haben, wird auch der Verfahrensfehler bedeutsam, so daß die Verwaltungsbehörde ihre neuerliche Entscheidung unter Vermeidung des festgestellten Fehlers zu treffen hat. Diese Auffassung des Senats wird durch das Urteil des I. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 14. November 1984 I R 151/80 (BFHE 142, 544, BStBl II 1985, 607) nicht in Frage gestellt. Darin hat der I. Senat die Aufhebung eines von einem örtlich unzuständigen FA erlassenen Gewerbesteuermeßbescheids ohne Rücksicht auf seine materielle Unrichtigkeit für geboten gehalten; dies ist jedoch wegen der Folgewirkungen für die gemeindliche Gewerbesteuererhebung geschehen. Für den Streitfall hat dies keine Bedeutung.

2. Um gebundene Verwaltungsakte handelt es sich auch bei den in Streit stehenden Einkommensteuerbescheiden 1968 und 1969. Das FG hält § 127 AO 1977 für nicht anwendbar, weil im Falle der Kläger die Besteuerungsgrundlagen hätten geschätzt werden müssen, mithin die Möglichkeit bestehe, daß das an sich zuständige FA ein günstigeres Schätzungsverfahren angewandt hätte, so daß in der Sache auch eine andere Entscheidung hätte getroffen werden können. Dem ist nicht beizupflichten. Im Rahmen einer Einkommensteuerveranlagung werden vielfach Schätzungen erforderlich. Sie können neben anderen Umständen insbesondere die Frage betreffen, ob und in welcher Höhe Einnahmen und Ausgaben entstanden sind, ob sie einer Einkunftsart oder einem steuerlichen Abzugsposten zuzuordnen sind und welchen Veranlagungszeitraum sie angehen; ebenso können Schätzungen in der Frage erforderlich werden, welchen Wert die einzelnen Wirtschaftsgüter haben, wie sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Zukunft entwickeln werden und welche Einflüsse sich daraus auf die Bewertung ergeben. Zu derartigen Schätzungen, die die Besteuerungsgrundlagen beeinflussen, sind die Finanzbehörden nach § 162 Abs. 1 AO 1977 befugt und verpflichtet.

Nichts anderes gilt, wenn nach § 162 Abs. 2 AO 1977 eine Schätzung deshalb vorzunehmen ist, weil der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag, Auskünfte verweigert oder Bücher und Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann. Von der Möglichkeit einer derartigen Schätzung hat das FA im Streitfall Gebrauch gemacht. Eine solche Schätzung ist keine Ermessenshandlung i. S. von § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und enthält auch keinen gerichtlich nicht nachprüfbaren Beurteilungsspielraum, wie er für die Bewertung von Prüfungsleistungen angenommen wird. Die Schätzung ist ein Verfahren, Besteuerungsgrundlagen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, wenn eine sichere Feststellung trotz des Bemühens um Aufklärung nicht möglich ist (BFH-Urteil vom 18. Dezember 1984 VIII R 195/82, BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226, mit weiteren Nachweisen). Eine vom FA vorgenommene Schätzung wird vom FG im Rahmen seiner Aufklärungspflicht (§ 96 Abs. 1 FGO) in vollem Umfang überprüft und gegebenenfalls durch eine eigene Schätzung ersetzt. Es handelt sich dabei um eine Beweiswürdigung, wie sie auch sonst bei der Beurteilung eines steuererheblichen Sachverhalts erforderlich wird. Wenn eine Schätzung auch einen gewissen Unsicherheitsbereich beinhalten mag (vgl. Urteil in BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226), so liegt darin doch kein grundsätzlicher Unterschied gegenüber der in anderen Fällen gebotenen Tatsachenfeststellung. Auch ein auf Schätzungen beruhender Einkommensteuerbescheid unterliegt deshalb der Beschränkung des § 127 AO 1977.

3. Das FG wird nunmehr die Berechtigung der Steuerfestsetzungen 1968 und 1969 nachzuprüfen haben. Sofern sich hierbei die Steuerfestsetzung in einzelnen Punkten als überhöht erweist, kann das FG auf entsprechenden Antrag der Kläger die Steuerbescheide insoweit aufheben und die Festsetzung dem zuständigen FA überlassen (BFH-Entscheidungen vom 16. Dezember 1968 GrS 3/68, BFHE 94, 436, BStBl II 1969, 192; vom 24. Juni 1970 I R 6/68, BFHE 100, 20, BStBl II 1970, 802, 803; in BFHE 140, 132, BStBl II 1984, 342); von der Möglichkeit einer derartigen Teilaufhebung eines Steuerbescheids geht inzwischen auch Art. 3 Nr. 4 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31. März 1978 (BGBl I, 446, BStBl I, 174) aus.