| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

 

BFH-Urteil vom 18.3.1987 (II R 226/84) BStBl. 1987 II S. 416

Tatsachen, die der Finanzbehörde erst nach abschließender Zeichnung des Eingabewertbogens bekanntwerden, sind i. S. von § 173 Abs. 1 AO 1977 nachträglich bekanntgeworden.

AO 1977 § 173 Abs. 1.

Vorinstanz: Hessisches FG (EFG 1984, 587)

Sachverhalt

Ursprünglich hatte das Finanzamt (FA) folgende Vermögensteuerfestsetzungen gegen die Kläger vorgenommen:

1. Vermögensteuer 1973: Mit gemäß § 100 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) vorläufigem Bescheid vom 24. Juni 1975 setzte es die Steuer im Wege der Neuveranlagung auf 0 DM fest.

2. Vermögensteuer 1974: Mit Hauptveranlagungsbescheid vom 21. September 1976 setzte es die Vermögensteuer auf 7.650 DM jährlich fest.

In der Zeit vom 17. Oktober 1978 bis 25. Januar 1979 erfolgte bei der Firma ..., deren Gesellschafter der Kläger ist, eine Betriebsprüfung, die aufgrund der Prüfungsanordnung des FA auch die persönlichen Verhältnisse des Kläger mitumfaßte. Das beklagte FA erließ im Mai 1980 daraufhin für 1973 und 1974 nach § 175 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Vermögensteuerbescheide und nahm eine Neuveranlagung auf den 1. Januar 1975 vor. Die abschließende Zeichnung des Eingabewertbogens für diese Veranlagung erfolgte am 11. März 1980 durch den Sachgebietsleiter.

Am 10. April 1980 ging beim beklagten FA der den Kläger betreffende Sonderbericht der Großbetriebsprüfungsstelle vom 6. März 1979 ein. Das FA änderte die Bescheide vom Mai 1980 durch Bescheide vom 17. Februar 1981.

Mit der Klage begehren die Kläger die Aufhebung der Vermögensteuerbescheide vom 17. Februar 1981. Zur Begründung haben sie vorgetragen, die Änderungsbescheide vom Mai 1980 unterlägen dem erhöhten Bestandsschutz, weil die Tatsachen, die zum Erlaß der Änderungsbescheide vom 17. Februar 1981 geführt hätten, dem beklagten FA bereits vor dem Ergehen der Bescheide vom Mai 1980 bekannt gewesen seien.

Das Finanzgericht (FG) hat den Vermögensteuerbescheid 1973 vom 17. Februar 1981 aufgehoben. Die Vermögensteuerbescheide 1974 und 1975 hat es teilweise insoweit aufgehoben als die Änderung der Bescheide vom 6. bzw. 30. Mai 1980 auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO 1977 beruhte.

Gegen das Urteil des FG haben sowohl die Kläger als auch das FA Revision eingelegt.

Entscheidungsgründe

I. Revision der Kläger

Die Revision der Kläger ist unbegründet.

II. Revision des FA

Die Revision des FA ist begründet; sie führt unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Abweisung der Klage.

Den Tatbeständen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO 1977 ist das "nachträgliche" Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln gemeinsam. Entgegen der Auffassung des FG ist für die Beantwortung der Frage, ob eine Tatsache nachträglich bekannt wird, nicht auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem der zu ändernde Steuerbescheid den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde durch Aufgabe zur Post verlassen hat. Entscheidend ist auch im Geltungsbereich der AO 1977, ob die Tatsache der zuständigen Dienststelle vor oder nach abschließender Zeichnung des Eingabewertbogens für die maschinelle Erstellung des Bescheides zur Kenntnis gelangt ist.

Das Gesetz selbst bringt keine Definition des Wortes "nachträglich". Es bestimmt zwar den Zeitpunkt der Wirksamkeit des Verwaltungsakts in § 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977. Daraus folgt nur, daß jedenfalls Tatsachen, die erst nach dem Zugang des Verwaltungsakts bekanntwerden, nachträglich bekanntgeworden sein müssen. Daß es für die Anwendbarkeit des § 173 Abs. 1 AO 1977 nicht auf diesen Zeitpunkt ankommen kann, liegt auf der Hand, weil der zum Empfänger auf den Weg gesetzte Verwaltungsakt sich des Zugriffs der Behörde entzieht. Aber auch der Zeitpunkt, in dem die Behörde den Verwaltungsakt "aus der Hand gibt", kann wegen des technischen Ablaufes, der dem Wirksamwerden des Verwaltungsakts vorangeht, nicht als maßgeblicher Zeitpunkt für die Anknüpfung angesehen werden. Wenn auch die AO 1977 nicht zwischen Entstehung und Wirksamwerden eines Verwaltungsakts unterscheidet, darf doch nicht außer Betracht bleiben, daß ein Verwaltungsakt notwendig die Willensbildung der zuständigen Behörde (des zur Zeichnung berufenen Amtsträgers) voraussetzt.

In diese Willensbildung können nur die Tatsachen und Beweismittel eingehen, die dem zuständigen Amtsträger (vgl. dazu BFH-Urteil vom 20. Juni 1985 IV R 114/82, BFHE 143, 520, 522, BStBl II 1985, 492) im Zeitpunkt der abschließenden Zeichnung des Eingabewertbogens als Abschluß der Willensbildung bekannt sind oder hätten bekannt sein müssen (vgl. Senatsurteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241). Verläßt der Eingabewertbogen, in dem sich der Entscheidungswille konkretisiert hat, den Bereich der Dienststelle, in der die Willensbildung zu geschehen hat, so ist der weitere Weg bis zur Wirksamkeit des Verwaltungsakts ein technischer Vorgang. Das gilt auch im Bereich der maschinellen Veranlagung, wenn auch der Verwaltungsakt erst durch die Verarbeitung im Rechenzentrum die für seine Verständlichkeit notwendige Gestalt erhält. Da der Verwaltungsakt die Verkörperung des maßgeblichen Entscheidungswillens darstellt, kann die Frage danach, ob eine Tatsache nachträglich bekanntgeworden ist, nur im Hinblick auf die abschließende Willensbildung beantwortet werden.

Dem widerspricht es nicht, daß § 173 Abs. 1 AO 1977 von zwei widerstreitenden Grundtendenzen geprägt ist, nämlich einerseits der Rechtssicherheit zum Schutz des Einzelnen und andererseits der Rechtswidrigkeit im Interesse der Allgemeinheit. Der Vorschrift ist nicht zu entnehmen, wann der Schutzbereich des Einzelnen konkret beginnen soll. Insbesondere enthält sie keine Eingrenzung dahingehend, daß nur dasjenige nachträglich bekannt wird, was nach Absendung des Verwaltungsakts zur Kenntnis der Behörde gelangt. Hätte der Gesetzgeber diesen Zeitpunkt für maßgeblich ansehen wollen, so hätte es im Hinblick auf die Rechtsprechung zu § 222 AO insoweit einer eindeutigen Aussage bedurft. Dies gilt insbesondere deshalb, weil es auch für die Änderung (Aufhebung) zugunsten des Steuerpflichtigen auf diesen Anknüpfungszeitpunkt ankommt (zur Maßgeblichkeit der Kenntnisnahme durch die zuständige Dienststelle in solchen Fällen vgl. BFH-Urteil vom 29. Juni 1984 VI R 34/82, BFHE 141, 234, BStBl II 1984, 694). Ein Anhaltspunkt dafür, daß der Gesetzgeber, dem der rationelle Einsatz von Datenverarbeitungsmaschinen bekannt war, verlangen wollte, daß jeder ausgedruckte Bescheid vor Absendung einer nochmaligen materiell-rechtlichen Kontrolle unterzogen werden sollte, ist nicht zu ersehen.