| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

 

BFH-Urteil vom 16.9.1986 (IX R 61/81) BStBl. 1987 II S. 435

Der Änderungsbescheid, den das FA nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, aber vor Klageerhebung erläßt, wird auf Antrag des Klägers Gegenstand des Verfahrens gegen den ursprünglichen Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung.

FGO § 68; AO 1977 § 122 Abs. 2, § 132.

Vorinstanz: FG Berlin (EFG 1982, 357)

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), die im Streitjahr 1977 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden, begehrten in ihrer Einkommensteuererklärung 1977 die Berücksichtigung von erhöhten Absetzungen nach § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) in Höhe von 57.206 DM als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung ihres bis zur Veräußerung im Streitjahr selbstgenutzten Einfamilienhauses. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erkannte hiervon im Einkommensteuerbescheid 1977 vom 8. Februar 1979 1.240 DM an. Die Einspruchsentscheidung vom 23. Mai 1979, durch die das FA den Einspruch als unbegründet zurückwies, wurde den Klägern am 26. Mai 1979 zugestellt. Mit Bescheid vom 14. Juni 1979 änderte das FA die Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr nach § 175 Nr. 1 - jetzt § 175 Abs. 1 Nr. 1 - der Abgabenordnung (AO 1977).

Gegen den Einkommensteuerbescheid 1977 vom 8. Februar 1979 in Form der Einspruchsentscheidung vom 23. Mai 1979 erhoben die Kläger mit dem am 22. Juni 1979 beim Finanzgericht (FG) eingegangenen Schriftsatz vom 20. Juni 1979 Klage. Mit Schriftsatz vom 2. September 1981 beantragten sie, den geänderten Bescheid vom 14. Juni 1979 zum Gegenstand des Klageverfahrens zu machen. Dieser Bescheid sei, soweit sie das feststellen könnten, bei ihnen nicht vor dem 22. Juni 1979 eingegangen.

Das FG wies die Klage mit der in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1982, 357 veröffentlichten Entscheidung als unzulässig ab. Es führte im wesentlichen aus, die Klage richte sich gegen den geänderten Bescheid vom 14. Juni 1979. Da die Kläger gegen diesen Bescheid keinen Einspruch eingelegt hätten, sei er bestandskräftig geworden. Er habe nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden können, weil § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht, auch nicht entsprechend anwendbar sei, wenn der geänderte Bescheid - wie im Streitfall - vor Klageerhebung ergangen sei. Die Behauptung des Klägers, daß der Bescheid vom 14. Juni 1979 nicht vor dem 22. Juni 1979 bei ihm eingegangen sei, sei unsubstantiiert und vermöge die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 AO 1977 nicht zu entkräften. § 68 FGO erfordere eindeutig eine Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts nach Klageerhebung. Zwar möge dies in Fällen der vorliegenden Art, in denen die Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids nicht umstritten sei, unbefriedigend sein. Hier biete sich jedoch die Möglichkeit der Sprungklage. Die Erklärung der Kläger könne auch nicht als Klageänderung nach § 67 FGO behandelt werden, da durch die Klageänderung nicht die Bestandskraft des Bescheids aufgehoben werde. Eine Auslegung des gestellten Antrags dahin, daß hilfsweise der ursprüngliche Bescheid angefochten worden sei, könne nicht zur Zulässigkeit der Klage führen; denn dem gegen den ursprünglichen Bescheid anhängigen Verfahren sei so lange die Grundlage entzogen, wie der Änderungsbescheid Bestand habe.

Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügen die Kläger Verletzung der §§ 68 FGO und 122 Abs. 2 AO 1977.

Die Kläger beantragen, das Urteil des FG aufzuheben und ihnen bei der Veranlagung zur Einkommensteuer 1977 weitere negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 13.014 DM zuzubilligen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die Vorentscheidung ist aufzuheben, weil das FG zu Unrecht entschieden hat, daß der Änderungsbescheid vom 14. Juni 1979 nicht gemäß § 68 FGO Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist.

Mit dem FG ist davon auszugehen, daß der unstreitig am 14. Juni 1979 zur Post gegebene Änderungsbescheid gemäß § 122 Abs. 2 AO 1977 mit dem dritten Tage danach, also am 17. Juni 1979 (vgl. hierzu Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 7. Oktober 1976 VIII R 76/72, BFHE 120, 142, BStBl II 1977, 133) und damit vor Klageerhebung am 22. Juni 1979 als bekanntgegeben gilt. Zweifel am Zeitpunkt des Zugangs, die zur Folge hätten, daß das FA den Zeitpunkt des Zugangs nachweisen müßte (§ 122 Abs. 2 Halbsatz 2 AO 1977), bestehen nicht. Die Kläger haben vor dem FG keine Tatsachen vorgetragen, welche ihre Behauptung einer gegenüber dem gesetzlich vermuteten Zugang verspäteten Bekanntgabe als schlüssig erscheinen lassen (vgl. BFH-Urteile vom 5. Dezember 1974 V R 111/74, BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286; vom 14. August 1975 IV R 150/71, BFHE 119, 201, BStBl II 1976, 764, und vom 12. August 1981 I R 140/78, BFHE 134, 213, BStBl II 1982, 102). Ihr neues tatsächliches Vorbringen zur Widerlegung der Zugangsvermutung in der Revisionsbegründung kann der Senat mangels einer begründeten Verfahrensrüge nicht berücksichtigen (§ 118 Abs. 2 FGO, vgl. BFH-Urteil vom 5. März 1986 II R 5/84, BFHE 146, 27, BStBl II 1986, 462).

Alleinige Grundlage für die Erhebung der Einkommensteuer 1977 ist der Änderungsbescheid vom 14. Juni 1979. Der ursprüngliche Einkommensteuerbescheid vom 8. Februar 1979 entfaltete für die Dauer der Wirksamkeit des Änderungsbescheids keine Rechtswirkungen (vgl. BFH-Beschluß vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231). Für das auf Abänderung des Einkommensteuerbescheids vom 8. Februar 1979 gerichtete Klagebegehren fehlte das Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BFH-Beschluß vom 24. November 1982 II R 172/80, BFHE 137, 6, BStBl II 1983, 237). Die Klage ist jedoch dadurch zulässig geworden, daß die Kläger den Änderungsbescheid vom 14. Juni 1979 durch ihren Antrag vom 2. September 1981 zum Gegenstand des Verfahrens gemacht haben.

Nach § 68 FGO wird der Verwaltungsakt, durch den der angefochtene Verwaltungsakt nach Klageerhebung geändert oder ersetzt wird (im folgenden Änderungsbescheid), auf Antrag des Klägers Gegenstand des Verfahrens. Nach dem Wortsinn der Vorschrift setzt zwar der Antrag die Änderung oder Ersetzung des angefochtenen Bescheids nach Rechtshängigkeit (§ 66 Abs. 1 FGO) voraus. Der Senat hält es jedoch - entgegen der Auffassung des FG und der im angefochtenen Urteil zitierten Rechtsprechung weiterer FG sowie der überwiegenden Meinung im Schrifttum (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 68 FGO Tz. 1; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 7446; anderer Meinung Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 68 Anm. 3) - im Wege der Lückenausfüllung für geboten, die Anwendung des § 68 FGO auf den Fall zu erstrecken, daß der Änderungsbescheid nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, aber vor Klageerhebung ergeht.

Nach § 132 AO 1977 gelten die Vorschriften über Rücknahme, Widerruf, Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten auch während eines außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens und während eines finanzgerichtlichen Verfahrens. Die Finanzbehörde behält die Herrschaft über das Verfahren.

Wird der angefochtene Steuerbescheid während des Einspruchsverfahrens geändert, so wird er, sofern er dem Einspruchsbegehren nicht voll stattgibt, automatisch Gegenstand des Einspruchsverfahrens. Es bedarf weder der Einlegung eines erneuten Einspruchs gegen den Änderungsbescheid noch eines entsprechenden Antrags (vgl. Urteile des BFH vom 4. Februar 1976 I R 203/73, BFHE 119, 168, BStBl II 1976, 551; vom 19. Januar 1977 I R 89/74, BFHE 121, 421, BStBl II 1977, 517; vom 16. Oktober 1979 VII R 53/77, BFHE 129, 235, BStBl II 1980, 165; vom 4. November 1981 II R 119/79, BFHE 134, 510, BStBl II 1982, 270, und vom 23. März 1983 I R 182/82, BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548). Der Gesetzgeber hat diese ständige Rechtsprechung nunmehr durch Einfügung des ab 1. Januar 1987 geltenden § 365 Abs. 3 AO 1977 übernommen (Art. 1 Nr. 48, Art. 25 des Steuerbereinigungsgesetzes 1986 vom 19. Dezember 1985, BGBl I, 2436, BStBl I, 735). Der bisherigen Rechtsprechung lagen ausschließlich Fälle zugrunde, in denen der Änderungsbescheid vor Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erlassen wurde, wobei es allerdings nicht erforderlich war, daß das FA den Änderungsbescheid in der Einspruchsentscheidung bezeichnete (vgl. BFHE 121, 421, BStBl II 1977, 517). Der nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, aber vor Klageerhebung erlassene Änderungsbescheid kann jedoch nicht in das Einspruchsverfahren einbezogen werden, weil dieses mit Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung endet. Für den nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erlassenen Änderungsbescheid, der allein Gegenstand der Anfechtungsklage wurde, wären auch die Voraussetzungen des § 44 FGO nicht erfüllt.

Zwar hat das Bundessozialgericht entschieden, daß ein Abänderungsbescheid, der nach Ergehen des Widerspruchsbescheids, aber vor Erhebung der Klage erlassen wird, nach § 86 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Vorverfahrens wird (Urteil vom 1. August 1978 7 RAR 37/77, Sozialrecht 1500, § 86 SGG Nr. 1). Die Rechtslage nach dem SGG ist jedoch schon deshalb nicht vergleichbar, weil der Abänderungsbescheid neben dem ursprünglichen Bescheid Gegenstand des Vorverfahrens und der folgenden Klage wird.

Dadurch, daß der vor Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erlassene, nicht abhelfende Änderungsbescheid automatisch Gegenstand des Einspruchsverfahrens wird, wird der Einspruchsführer davor geschützt, aus dem Verfahren hinausgedrängt zu werden. Diese Erwägung liegt auch der Einfügung des § 365 Abs. 3 AO 1977 zugrunde (vgl. Begründung des Entwurfs eines Steuerbereinigungsgesetzes 1985, BT-Drucks. 10/1636 S. 51). Ebenso stellt die Vorschrift des § 68 FGO einen Ausgleich gegenüber der Befugnis des FA dar, während des finanzgerichtlichen Verfahrens den angefochtenen Bescheid jederzeit ändern zu können. Zugleich dient sie der Vereinfachung. Der Kläger soll wählen können, ob er den Änderungsbescheid in den Steuerprozeß einführen will oder nicht (BFH-Beschluß vom 8. November 1971 GrS 9/70, BFHE 103, 549, BStBl II 1972, 219). Ändert das FA den angefochtenen Bescheid nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, aber vor Klageerhebung, so ist als Rechtsbehelf gegen den Änderungsbescheid der Einspruch oder die Sprungklage statthaft. Da die Sprungklage nur mit Zustimmung des FA zulässig ist (§ 45 Abs. 1 Satz 1 FGO), hat es das FA in der Hand, den Kläger von der gewünschten gerichtlichen Überprüfung abzuhalten. Dies widerspricht dem durch die Vorschrift des § 68 FGO - und nunmehr auch durch § 365 Abs. 3 AO 1977 - zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Plan, dem Rechtsbehelfsführer keine verfahrensrechtlichen Nachteile dadurch erwachsen zu lassen, daß das FA im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten den angefochtenen Bescheid jederzeit ändern kann. Die gesetzlichen Vorschriften sind insoweit planwidrig unvollständig (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., 1983, S. 358). Im Hinblick auf den vom Gesetz angestrebten verfahrensrechtlichen Schutz des Rechtsbehelfsführers ist es im Wege der teleologischen Extension (vgl. Larenz, a. a. O., S. 381) gerechtfertigt, zur Ausfüllung dieser Lücke § 68 FGO - entgegen seinem Wortsinn - auf den Fall zu erstrecken, daß der Änderungsbescheid nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, aber noch vor Klageerhebung erlassen wird. Nur so ist gewährleistet, daß der Einspruchsführer durch den Erlaß des Änderungsbescheids nicht daran gehindert werden kann, die Streitsache vor Gericht zu bringen, falls er dies wünscht.

Der Wirksamkeit des Antrags nach § 68 FGO steht nicht entgegen, daß für die Klage gegen den ursprünglichen Bescheid das Rechtsschutzbedürfnis fehlte. Durch § 68 FGO ist ein Fall der Klageänderung gesetzlich geregelt (Beschluß in BFHE 103, 549, BStBl II 1972, 219). Das bedeutet grundsätzlich, daß für die Klage gegen den ursprünglichen Bescheid alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen müssen (Gräber, a. a. O., § 68 Anm. 5; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, a. a. O., Tz. 7509; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., 1983, § 68 FGO Tz. 2; a. M. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 68 FGO Anm. 9). Hiervon gibt es Ausnahmen (vgl. BFH-Urteile vom 13. November 1973 VII R 32/71, BFHE 111, 10, BStBl II 1974, 111, und vom 20. November 1973 VII R 33/71, BFHE 111, 13, BStBl II 1974, 113). Der Grundsatz gilt nämlich nicht für das Rechtsschutzbedürfnis. Es reicht aus, daß diese Sachentscheidungsvoraussetzung erst durch den Antrag nach § 68 FGO geschaffen wird. Denn das Rechtsschutzbedürfnis, das im Regelfall des § 68 FGO bei Klageerhebung vorhanden ist, durch den Erlaß des Änderungsbescheids wegfällt und durch den Antrag erneut geschaffen wird, ist keine Zugangsvoraussetzung (vgl. zum Begriff BFH-Beschluß vom 11. Oktober 1979 IV B 61/79, BFHE 129, 8, BStBl II 1980, 49).

Der Antrag nach § 68 FGO ist nicht fristgebunden; die Bestandskraft des Änderungsbescheids steht der Zulässigkeit des Antrags nicht entgegen (Beschluß in BFHE 103, 549, BStBl II 1972, 219).

2. Die Streitsache ist nicht spruchreif. Sie wird an das FG zurückverwiesen, damit dieses nunmehr in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht über das Begehren der Kläger auf Ansatz der erhöhten Absetzungen nach § 82 a EStDV als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung entscheidet.