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BFH-Beschluß vom 4.6.1987 (V B 56/86) BStBl. 1987 II S. 795

Es ist ernstlich zweifelhaft i. S. des § 69 FGO, ob der sog. Praxiswert einer Zahnarztpraxis Gegenstand einer nach § 4 Nr. 28 Buchst. a UStG 1980 steuerfreien Lieferung sein kann.

UStG 1980 § 4 Nr. 28 Buchst. a.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

I.

Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) betrieb in W eine Zahnarztpraxis (ohne eigenes zahntechnisches Labor), die er zum 31. März 1981 veräußerte. Ab 1. April 1981 eröffnete er in D eine neue Zahnarztpraxis, für die er ein eigenes zahntechnisches Labor einrichtete, das er ab Sommer 1982 nutzte.

Mit der Umsatzsteuererklärung 1981 machte der Antragsteller einen Erstattungsanspruch in Höhe von 5.099,20 DM geltend, den er wie folgt ermittelte: Außer den nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1980 steuerfreien Umsätzen als Zahnarzt behandelte er die Praxisveräußerung W als insgesamt nach § 4 Nr. 28 Buchst. a UStG 1980 steuerfrei. Der gesamte Veräußerungserlös von 386.000 DM entfiel mit 336.000 DM auf Einrichtungsgegenstände und mit 50.000 DM auf einen mitveräußerten selbstgeschaffenen (originär erworbenen) Praxiswert. Ferner machte der Antragsteller abziehbare Vorsteuerbeträge in Höhe von 5.099,20 DM geltend, die ihm für die Anschaffung von Einrichtungsgegenständen für das zahntechnische Labor in D in Rechnung gestellt worden waren.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) setzte zunächst erklärungsgemäß den Überschußbetrag fest.

Nach einer Betriebsprüfung setzte das FA die Umsatzsteuer 1981 - unter Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung - mit 653 DM fest. Das FA vertrat aufgrund des Schreibens des Bundesministers der Finanzen (BMF) vom 4. Februar 1980 IV A 3 - S 7188 - 1/80, Steuererlasse in Karteiform - StEK - UStG 1980 § 4 Ziff. 28 Nr. 1, die Auffassung, nur die Veräußerung von Gegenständen der Praxiseinrichtung um 336.000 DM sei nach § 4 Nr. 28 Buchst. a UStG 1980 steuerbefreit, nicht aber die Übertragung des Praxiswerts um 50.000 DM. Es handle sich um keinen Gegenstand i. S. der Vorschrift. Aus dem Betrag von 50.000 DM rechnete das FA die darin enthaltene Umsatzsteuer mit 5.752,21 DM (Steuersatz 13 v. H.) heraus. Weiterhin führte das FA dazu aus: Der Antragsteller sei zwar 1981 Kleinunternehmer i. S. des § 19 Abs. 1 UStG 1980 gewesen. Das habe er in der Umsatzsteuererklärung auch hinsichtlich des Praxiswertumsatzes zum Ausdruck gebracht. Mit dem daneben geltend gemachten Anspruch auf Vorsteuerabzug habe der Antragsteller jedoch auf die Freistellung von der Umsatzsteuer nach § 19 Abs. 1 UStG 1980 verzichtet. Denn für die gesamte unternehmerische Betätigung innerhalb eines Besteuerungszeitraums könne nur eine Besteuerungsform angewendet werden, vorliegend also nur die (mit dem Vorsteuerabzugsanspruch geltend gemachte) Regelbesteuerung. Die Verrechnung des Vorsteuerbetrags von 5.099,20 DM mit der Umsatzsteuer in Höhe von 5.752,21 DM ergebe die Umsatzsteuerschuld von 653 DM. Das FA forderte vom Antragsteller insgesamt 5.752,20 DM (ausbezahlter Vorsteuerüberschuß von 5.099,20 DM + 653 DM).

Gegen die Umsatzsteuerfestsetzung 1981 legte der Antragsteller Einspruch ein, über den das FA noch nicht entschieden hat.

Den zugleich gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids lehnte das FA ab.

Das Finanzgericht (FG) setzte hingegen mit Beschluß vom 22. April 1986 die Vollziehung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids 1981 antragsgemäß aus.

Gegen den Aussetzungsbeschluß hat das FA die vom FG zugelassene Beschwerde eingelegt und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt:

Die Vollziehung eines Steuerbescheids sei nach dem Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28. November 1974 V B 52/73 (BFHE 114, 169, BStBl II 1975, 239) auszusetzen, wenn die Gesetzeslage unklar sei, die streitige Rechtsfrage vom BFH noch nicht entschieden sei, im Schrifttum Bedenken gegen die Rechtsauffassung des FA erhoben worden seien und die Finanzverwaltung die Zweifelsfrage in der Vergangenheit nicht einheitlich beurteilt habe. Entgegen der auf den BFH-Beschluß vom 8. September 1982 I B 9/82 (BFHE 136, 416, BStBl II 1983, 71) gestützten Auffassung des FG müßten alle Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Das sei nicht der Fall: Die Gesetzeslage sei klar. Der Praxiswert sei weder ein "Gegenstand" i. S. des § 4 Nr. 28 Buchst. a UStG 1980, noch werde er zur Erzielung steuerfreier Einnahmen aus der Tätigkeit als Zahnarzt "verwendet". Diese wörtliche Auslegung der Befreiungsvorschrift stehe auch mit ihrem Sinn und Zweck in Einklang. Die Befreiungsvorschrift solle eine doppelte Belastung des Gegenstands mit nicht abziehbarer Vorsteuer und mit Umsatzsteuer bei späterer Veräußerung vermeiden (Begründung des Regierungsentwurfs eines Umsatzsteuergesetzes vom 15. März 1978, BT-Drucks. 8/1779 Teil B, zu § 4 Nr. 28).

Der originär erworbene Praxiswert sei - anders als andere Anlagegüter - kein mit Vorsteuer belastetes, erworbenes Wirtschaftsgut, das bei Veräußerung nicht noch einmal mit Umsatzsteuer belastet werden dürfe. Ferner habe die Finanzverwaltung die Streitfrage durch das BMF-Schreiben vom 4. Februar 1980 (s. auch Betriebs-Berater - BB - 1980, 244) einheitlich geregelt.

Das FA beantragt, den Beschluß des FG aufzuheben und den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 1981 vom 5. Dezember 1985 abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen. Er hält die Entscheidung des FG für zutreffend. Ergänzend führt er aus: Nach dem BFH-Urteil vom 9. Juli 1964 V 287/61 S (BFHE 79, 633, BStBl III 1964, 464) könne eine Geschäftsveräußerung im ganzen als eine Sachgesamtheit und damit als eine einzige Lieferung an den Erwerber angesehen werden. Liege eine einheitliche Lieferung vor, so sei der gesamte Vorgang nach § 4 Nr. 28 Buchst. a UStG 1980 steuerfrei.

Entscheidungsgründe

II.

Die Beschwerde des FA ist unbegründet.

Das FG hat zu Recht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids 1981 angenommen.

a) Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung war statthaft. Er ist zwar auf die Festsetzung eines negativen Steuerbetrags an Stelle des positiven Steuerbetrags im angefochtenen Umsatzsteuerbescheid gerichtet. Da aber der angefochtene geänderte Umsatzsteuerbescheid 1981 gegenüber dem vorangegangenen Umsatzsteuerbescheid 1981 zu einer Rückzahlung bereits ausgezahlter Umsatzsteuerüberschüsse führte, enthält der angefochtene Bescheid im Umfang des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung eine vollziehbare Leistungspflicht (vgl. BFH-Beschluß vom 28. November 1974 V B 52/73, BFHE 114, 169, BStBl II 1975, 239).

b) Nach § 4 Nr. 28 Buchst. a UStG 1980 sind steuerfrei die Lieferungen von Gegenständen und der Eigenverbrauch i. S. des § 1 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, wenn der Unternehmer die gelieferten oder entnommenen Gegenstände ausschließlich für eine nach den Nrn. 7 bis 27 oder nach Buchst. b steuerfreie Tätigkeit verwendet hat.

Das FA ging bei der angefochtenen Steuerfestsetzung davon aus, daß der Geschäftswert (Praxiswert) eines Unternehmers nicht zu den Gegenständen i. S. des § 4 Nr. 28 UStG 1980 gehöre (Umsatzsteuer-Richtlinien - UStR - Abschn. 122 Abs. 2, vorher BMF-Schreiben vom 4. Februar 1980, StEK UStG 1980 § 4 Ziffer 28 Nr. 1, BB 1980, 244). Diese Auffassung kann aus dem Wortlaut der Vorschrift hergeleitet werden, der die "Lieferungen von Gegenständen" voraussetzt, wobei Lieferungen nach § 3 Abs. 1 UStG 1980 Leistungen sind, durch die die Verfügungsmacht über einen Gegenstand verschafft wird. Wortlaut und Sinnzusammenhang der Vorschrift mit der Regelung der sonstigen Leistung (§ 3 Abs. 9 UStG 1980) schließen es jedenfalls nicht aus, nur körperliche Gegenstände als lieferbar anzusehen.

Gegen diese Auslegung des § 4 Nr. 28 Buchst. a UStG 1980 spricht aber die Auslegung des Lieferungsbegriffs bereits durch die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (RFH), der zufolge "Gegenstand" (seit § 3 UStG 1934) nicht nur Sachen i. S. des § 90 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), also körperliche Einzelgegenstände, sondern alle Wirtschaftsgüter sind, die im Verkehr wie Sachen umgesetzt werden (Beispiele: elektrischer Strom, Dampf- und Wasserkraft, Maschinenanlagen, Warenlager, immaterielle Werte wie Firmen oder Kundschaft - vgl. RFH-Urteile vom 24. Juni 1938 V 168/37, RFHE 44, 188, RStBl 1938, 766, und vom 21. November 1941 V 109/40, RStBl 1942, 285 -). Diese Beurteilung hat sich in der Praxis eingebürgert.

Die gesetzliche Begriffsbestimmung der Lieferung in § 3 Abs. 1 UStG ist seither in den jeweiligen Fassungen des UStG unverändert geblieben. Das gilt auch für das aufgrund der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in den Europäischen Gemeinschaften - Sechste EG-Richtlinie - (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 145/1) ergangene UStG 1980.

Die neu eingeführte Befreiungsvorschrift des § 4 Nr. 28 UStG 1980 beruht auf Art. 13 Teil B Buchst. c der Sechsten EG-Richtlinie, derzufolge "die Lieferungen von Gegenständen, die ausschließlich für eine auf Grund dieses Artikels oder des Art. 28 Abs. 3 Buchst. b von der Steuer befreite Tätigkeit bestimmt waren, wenn für diese Gegenstände kein Vorsteuerabzug vorgenommen werden konnte ...", befreit sind. In der Protokollerklärung Nr. 4 zu Art. 13 der Sechsten EG-Richtlinie erklärten der Rat und die Kommission, "daß das Überlassen eines Kundenstamms im Zusammenhang mit einer von der Steuer befreiten Tätigkeit unter die in Art. 13 Teil B Buchst. c enthaltene Bestimmung fällt".

Diese Auslegung der Befreiungsvorschrift der Sechsten EG-Richtlinie durch die Protokollerklärung entspricht der oben dargestellten Auslegung des Begriffs des Lieferungsgegenstands i. S. des § 3 Abs. 1 UStG 1980. Zieht man diese Auslegung des Art. 13 Teil B Buchst. c der Sechsten EG-Richtlinie für die Auslegung des § 3 Abs. 1 UStG 1980 ergänzend heran (vgl. BFH-Urteil vom 25. April 1985 V R 123/84, BFHE 143, 383), so treten gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids sprechende Gründe zutage, die Unentschiedenheit oder jedenfalls Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen bewirken (vgl. BFH-Beschlüsse vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, und vom 28. Mai 1986 I B 22/86, BFHE 146, 508, BStBl II 1986, 656) und zu ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids i. S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) führen.

Allerdings schließt die summarische Beurteilung der vorliegenden Rechtsfragen die Möglichkeit nicht aus, daß der Wortlaut der Lieferungsumschreibung in der Sechsten EG-Richtlinie die dargestellte Auslegung nicht ohne weiteres deckt: Nach Art. 5 Abs. 1 der Sechsten EG-Richtlinie gilt als Lieferung eines Gegenstands die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen. Nach Abs. 2 der Vorschrift gelten als Gegenstand: Elektrizität, Gas, Wärme, Kälte und ähnliche Sachen. Firmenwert, Geschäftswert oder Kundenstamm sind aber keine körperlichen Gegenstände, sondern immaterielle Wirtschaftsgüter (vgl. Schmidt-Seeger, EStG, Kommentar, 5. Aufl., § 6 Anm. 46 c, mit Nachweisen); auch kann nicht von "ähnlichen Sachen" zu den genannten Beispielen gesprochen werden. - Nach Art. 6 Abs. 1 der Sechsten EG-Richtlinie gilt als Dienstleistung "jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands i. S. des Art. 5 ist. Diese Leistung kann u. a. bestehen in der Abtretung eines unkörperlichen Gegenstands."

Die wortlautgemäße Auslegung des Lieferungsbegriffs der Sechsten EG-Richtlinie ergibt somit keine eindeutige Stütze für die Auslegung der Befreiungsvorschrift des Art. 13 Teil B Buchst. c der Sechsten EG-Richtlinie durch die Protokollerklärung Nr. 4 dazu. Auch gegen die entsprechende Auslegung des Lieferungsbegriffs des UStG durch die ständige Rechtsprechung ist eingewendet worden, sie sei widersprüchlich (vgl. Mathiak, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 1970, 209 ff., 211).

Schließlich treten bei summarischer Prüfung des Falles auch Bedenken auf, ob der im Unternehmen entstandene Geschäftswert, der erst bei Geschäftsveräußerung zutage tritt, als Gegenstand angesehen werden kann, den der Unternehmer - nach dem Wortlaut des § 4 Nr. 28 Buchst. a UStG 1980 - für seine steuerfreie Tätigkeit "verwendet" hat.

Soweit allerdings der Antragsteller - wie auch das FG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. März 1986 X K 361/83, Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1986, 367 - die Erfassung der Kundenstammveräußerung durch § 4 Nr. 28 Buchst. a UStG 1980 daraus herleitet, daß eine Geschäftsveräußerung im ganzen eine einzige Lieferung sein könne (die auch den Kundenstamm/Firmenwert umfasse), beruht dies auf einer unzutreffenden Lesart des BFH-Urteils vom 9. Juli 1964 V 287/61 S (BFHE 79, 633, BStBl III 1964, 464); denn dieses Urteil führte nur aus, daß bei Geschäftsveräußerung im Rahmen einer Unternehmensumwandlung nur ein Rechtsakt zwischen der aufgelösten und der neu gegründeten Gesellschaft vorliege, nicht aber (wie die frühere Rechtsprechung angenommen hatte) zwei Umsätze stattfänden, nämlich der Umsatz der aufgelösten Gesellschaft an die Gesellschafter und der der Gesellschafter an die neu gegründete Gesellschaft). Keineswegs wurde damit die Geschäftsveräußerung im ganzen als eine einzige Lieferung angesehen. Wie der Senat zuletzt im Urteil vom 15. Januar 1987 V R 3/77 (BFHE 149, 272, BStBl II 1987, 512) ausgeführt hat, handelt es sich um ein Bündel von Leistungen, das allerdings in einem einzigen geschäftlichen Akt ausgeführt werden kann.