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BFH-Urteil vom 26.8.1987 (I R 144/86) BStBl. 1988 II S. 109

1. Mit der tatbestandlichen Voraussetzung fehlenden groben Verschuldens knüpft § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 an Sorgfaltspflichten des Steuerpflichtigen an, durch deren Verletzung die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. Als solche Sorgfaltspflichten kommen insbesondere die Erklärungspflichten des Steuerpflichtigen in Betracht.

2. Beauftragt der Steuerpflichtige mit der Erstellung des Jahresabschlusses und der Steuererklärung einen steuerlichen Berater, muß auch dieser sich um eine sachgerechte und gewissenhafte Erfüllung dieser Erklärungspflichten bemühen.

3. Der steuerliche Berater hat, wenn er Mitarbeiter zur Vorbereitung des Jahresabschlusses und der Steuererklärung einsetzt, Sorgfaltspflichten hinsichtlich der Auswahl seiner Mitarbeiter, der Organisation der Arbeiten in seinem Büro und der Kontrolle der Arbeitsergebnisse der Mitarbeiter.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

I.

Die Sache befindet sich im zweiten Rechtsgang.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist technischer Angestellter. Ab März 1975 begann er nebenberuflich, elektrotechnische Geräte herzustellen und zu vertreiben. Diesen Betrieb gab er zum 31. Dezember 1976 wieder auf.

Zur Ermittlung der gewerblichen Einkünfte für 1975 übergab der Kläger dem Büro seines steuerlichen Beraters seine Einnahme- und Ausgabebelege sowie das Kassenbuch. Die Belege wurden dort überprüft, kontiert und in einer EDV-Anlage erfaßt und ausgewertet. Anhand der so gefertigten Summen- und Saldenliste entwarf eine Steuerfachgehilfin des steuerlichen Beraters eine Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Unter "Erträgen" sind für das Jahr 1975 Verkaufserlöse, ein Privatanteil der Kfz-Kosten und Umsatzsteuer mit einem Gesamtbetrag von 1.785,55 DM ausgewiesen. Die "Aufwendungen" enthalten elf Posten an Ausgaben und drei Abschreibungsposten im Gesamtbetrag von 8.840,51 DM. Daraus ergab sich ein Verlust von 7.054,96 DM. In dem Einkommensteuerbescheid für 1975 berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) diesen Verlust. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

In der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG für 1976 sind unter "Erträge" fünf Positionen mit einer Summe von 1.797,44 DM und unter "Aufwendungen" neun Ausgabeposten und eine Position Abschreibungen mit zusammen 3.248,29 DM enthalten, woraus sich ein Verlust von 1.450,85 DM errechnet. Vor Durchführung der Einkommensteuerveranlagung 1976 legte der steuerliche Berater des Klägers eine berichtigte Gewinnermittlung für 1976 vor. Diese enthält neben den bisherigen Positionen zusätzlich als "Aufwendungen" "Waren- und Materialeinkauf" in Höhe von 8.232,03 DM.

Bei einer abgekürzten Außenprüfung stellte das FA fest, daß der überwiegende Teil der geltend gemachten Ausgaben für Waren- und Materialeinkauf bereits 1975 entstanden war. Insoweit berücksichtigte es diese bei der Gewinnermittlung für 1976 nicht.

Der Kläger beantragte daraufhin beim FA, den Einkommensteuerbescheid für 1975 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern und Ausgaben für Waren- und Materialeinkauf in Höhe von 7.540,52 DM als zusätzlichen Verlust aus Gewerbebetrieb zu berücksichtigen. Der steuerliche Berater habe bei der Ausarbeitung der Einkommensteuererklärung 1975 vergessen, diese Ausgaben in der Einnahme-Überschußrechnung anzusetzen.

Das FA lehnte den Änderungsantrag ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) wies im ersten Rechtsgang die dagegen erhobene Klage mit der Begründung ab, den steuerlichen Berater treffe an der Nichtberücksichtigung des Waren- und Materialeinkaufs für 1975 ein grobes, dem Kläger zuzurechnendes Verschulden. Auf die Revision des Klägers hob der Bundesfinanzhof (BFH) die Entscheidung des FG auf und verwies die Sache zu weiterer Sachaufklärung an das FG zurück.

Das FG hat die Klage im zweiten Rechtsgang mit Urteil vom 24. Oktober 1985 erneut abgewiesen. Es stellte fest, daß die Ausgaben für Waren- und Materialeinkauf bei der Gewinnermittlung 1975 deshalb nicht berücksichtigt worden seien, weil eine Mitarbeiterin des Beraters des Klägers die als "Summe Klasse 3" in der EDV-Saldenliste enthaltenen Ausgaben nicht in die Gewinnermittlung übernommen habe. Auch der steuerliche Berater des Klägers habe ihr Fehlen in der von seiner Mitarbeiterin erstellten und von ihm unterzeichneten Gewinnermittlung bei der Durchsicht und Weiterleitung an den Kläger nicht bemerkt, da er seine Überprüfung im wesentlichen auf die Abschreibungspositionen beschränkt und sich damit zufriedengegeben habe, daß sich im Verhältnis zu den Einnahmen ein hoher Verlust ergeben habe. Hierdurch habe der Berater die von ihm zu fordernde Sorgfalt grob fahrlässig verletzt.

Mit seiner zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des FG Baden-Württemberg vom 24. Oktober 1985 sowie den Ablehnungsbescheid des FA in der Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Einkommensteuer des Jahres 1975 unter Änderung des Einkommensteuerbescheids auf 4.666 DM festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 (früher § 173 Abs. 1 Nr. 2) AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden.

a) Dem FA ist nachträglich, nämlich nach Durchführung der Einkommensteuerveranlagung, bekanntgeworden, daß der Kläger im Streitjahr für Waren- und Materialeinkauf Mittel aufgewendet hat, die - als Betriebsausgaben - zu einer niedrigeren Steuer führen würden.

b) Der Wortlaut des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 setzt Sorgfaltspflichten voraus, durch deren Verletzung die Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden. Dies ergibt sich aus dem Wort "daran" und dem darauf bezogenen letzten Satzteil dieser Vorschrift. Als verletzte Sorgfaltspflichten kommen insbesondere die Erklärungspflichten des Steuerpflichtigen in Betracht.

aa) Nach § 90 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 haben Steuerpflichtige die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenzulegen. Die Angaben in der Steuererklärung sind nach § 150 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 wahrheitsgemäß und nach bestem Wissen und Gewissen zu erklären. Als Ausprägung der Wahrheitspflicht gilt die Vollständigkeitspflicht daher ebenso für die Angaben in der Steuererklärung. Wird mit der Ausarbeitung der Steuererklärung ein steuerlicher Berater beauftragt, muß auch er sich um eine sachgerechte und gewissenhafte Erfüllung der Erklärungspflichten bemühen (BFH-Urteile vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2).

Diese Verpflichtung erlischt nicht dadurch, daß der steuerliche Berater Mitarbeiter zur Fertigung von Entwürfen der Jahresabschlüsse und Steuererklärungen einsetzt. Sie konkretisiert sich in diesen Fällen in eigenen Sorgfaltspflichten des Beraters hinsichtlich der Auswahl seiner Mitarbeiter, der Organisation der Arbeiten in seinem Büro und der Kontrolle der Arbeitsergebnisse der Mitarbeiter. Denn beruht das nachträgliche Bekanntwerden einer steuermindernden Tatsache auf einem Mitarbeiterfehler und bleibt dieser wegen Verletzung einer der genannten Sorgfaltspflichten unentdeckt, so beruht das nachträgliche Bekanntwerden der Tatsache auch auf einer Sorgfaltspflichtverletzung des steuerlichen Beraters. Eine andere Auffassung würde letztlich, da die Zurechnung einer schuldhaften Sorgfaltspflichtverletzung bei § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 nicht entsprechend § 278 des Bürgerlichen Gesetzbuches erfolgt (Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324), dazu führen, daß sich ein Steuerpflichtiger seinen Erklärungspflichten durch Übertragung der Ausarbeitung der Steuererklärung auf seinen steuerlichen Berater und dessen Büro entziehen könnte, obwohl dieser vertraglich zu sorgfältiger Bearbeitung der Steuerangelegenheit seines Auftraggebers verpflichtet ist.

Die genannte Kontroll- und Überwachungspflicht beinhaltet allerdings - wenn es sich um einen bewährten und für die übertragene Aufgabe qualifizierten Mitarbeiter handelt - grundsätzlich keine Verpflichtung, dessen Arbeitsergebnisse in allen Einzelheiten zu überprüfen und nachzuvollziehen. Anderenfalls wäre, worauf das FG zutreffend abgehoben hat, der Einsatz von Mitarbeitern sinnlos, da er trotz wirtschaftlichen Aufwands kaum Entlastung des Beraters bewirken könnte. Ob ein steuerlicher Berater jeden Entwurf seines Mitarbeiters selbst überschlägig überprüfen muß oder ob stichprobenweise Überprüfungen ausreichen, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.

bb) Im Streitfall hat das FG eine Pflichtverletzung des steuerlichen Beraters des Klägers zu Recht darin gesehen, daß er weder eine überschlägige Abstimmung der Summen- und Saldenliste mit der von der Mitarbeiterin erstellten Gewinnermittlung vornahm noch eine Plausibilitätsprüfung hinsichtlich der Vollständigkeit und inneren Übereinstimmung der einzelnen Positionen untereinander durchführte. Sie wären ohne erheblichen Zeitaufwand durchführbar gewesen. Das Erfordernis zu derartigen Überprüfungen ergab sich daraus, daß im Streitjahr erstmals eine Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG für den neu gegründeten Gewerbebetrieb des Klägers zu erstellen war. Die Mitarbeiterin konnte daher bei ihren Arbeiten nicht auf - bereits vom steuerlichen Berater des Klägers überprüfte - Gewinnermittlungen aus Vorjahren zurückgreifen. Der Kläger hatte seinem steuerlichen Berater lediglich seine Einnahme- und Ausgabebelege übergeben; alle weiteren, mit möglichen Fehlerquellen behafteten Arbeitsvorgänge geschahen im Büro des Beraters. Zu den genannten Überprüfungen bestand daher, worauf auch das FG zutreffend abgestellt hat, um so mehr Anlaß, als der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG der Kontrollautomatismus einer doppelten Buchführung fehlt.

c) Das FG hat ferner rechtsfehlerfrei entschieden, daß der steuerliche Berater grob fahrlässig gehandelt hat und das nachträgliche Bekanntwerden der Waren- und Materialausgaben darauf beruht.

aa) Grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 ist Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Beteiligte die ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (BFH-Urteil vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161). Das Verschulden eines steuerlichen Beraters, dessen sich der Steuerpflichtige zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, ist dem Steuerpflichtigen bei Anwendung dieser Vorschrift zuzurechnen; dabei sind an den steuerlichen Berater erhöhte Anforderungen zu stellen (BFH-Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und vom 25. November 1983 VI R 8/82, BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256).

Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können in der Revisionsinstanz grundsätzlich nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit richtig erkannt worden ist und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich dieses individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (vgl. BFH-Urteil vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693, m.w.N.).

bb) Den Begriff des groben Verschuldens hat das FG nicht verkannt. Es hat die festgestellten Tatsachen dahingehend gewürdigt, daß der steuerliche Berater seine Kontroll- und Überwachungspflichten grob fahrlässig verletzt habe. Die Nichtberücksichtigung der Waren- und Materialausgaben beruhe nicht auf einem Versehen, das jedem unterlaufen könne, sondern auf diesem grob fahrlässigen Verhalten des steuerlichen Beraters. Diese Würdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Auf die bloße Möglichkeit, daß die Waren- und Materialausgaben auch bei Erfüllung der Sorgfaltspflichten des steuerlichen Beraters versehentlich außer Ansatz hätten bleiben können, kommt es danach nicht an. Die Ausführungen des FG stehen auch nicht in Widerspruch zu denen des erkennenden Senats im ersten Rechtsgang.

Zutreffend hat das FG das Verhalten des steuerlichen Beraters in seiner Gesamtheit gewürdigt. Durch die unterlassene Abstimmung der Gewinnermittlung mit der Summen- und Saldenliste erhöhten sich die Notwendigkeit einer Vollständigkeits- und Plausibilitätsüberprüfung und die an sie zu stellenden Anforderungen; andererseits hätte eine diesen Anforderungen genügende Vollständigkeits- und Plausibilitätsprüfung aufgrund des Fehlens des nach der Art des Betriebs eigentlich zu erwartenden Ausgabepostens für Waren- und Materialeinkäufe zu weiteren Überprüfungsmaßnahmen Anlaß gegeben.

d) Entgegen der Auffassung des Klägers wird das ihm zuzurechnende Verschulden seines steuerlichen Beraters am nachträglichen Bekanntwerden dieser Ausgaben auch nicht dadurch unbeachtlich, daß das FA möglicherweise seine diesbezüglichen Aufklärungspflichten nicht erfüllt hat (Urteil in BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161; vgl. auch BFH-Urteil vom 13. April 1967 V 57/65, BFHE 88, 540, BStBl III 1967, 519).

Letztlich bedarf der Begriff des groben Verschuldens in § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 keiner einschränkenden Auslegung aufgrund eines Wertungszusammenhangs mit der Berichtigungsvorschrift des § 129 AO 1977, wie sie der Kläger für geboten hält, um eine Gleichstellung mit der Behandlung jener Fälle zu erzielen, in denen ein FA erklärte Einkünfte versehentlich nicht in den Eingabewertbogen übertragen hat. Unbeschadet dessen, daß das FG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise von einer grob fahrlässigen Sorgfaltspflichtverletzung des Beraters des Klägers und nicht von einem Versehen ausgegangen ist, besteht kein derartiger Wertungszusammenhang. Dies ergibt sich bereits daraus, daß § 129 AO 1977 die Berichtigung nur solcher offenbarer Unrichtigkeiten zuläßt, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind. Zudem weichen die Regelungsbereiche beider Vorschriften voneinander ab (vgl. BFH-Urteil vom 24. Mai 1977 IV R 44/74, BFHE 122, 393, BStBl II 1977, 853 zu § 92 Abs. 2 und § 222 der Reichsabgabenordnung).