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BFH-Urteil vom 10.2.1988 (II R 206/84) BStBl. 1988 II S. 482

Das FA verletzt die ihm obliegende Ermittlungspflicht grundsätzlich nicht, wenn es vor dem Erlaß eines Artfeststellungsbescheides nicht Einsicht in die Bauakten nimmt.

AO 1977 §§ 88, 173 Abs. 1 Nr. 1, § 181 Abs. 1 Satz 1; BewG §§ 19, 75.

Vorinstanz: Hessisches FG (EFG 1984, 222)

Sachverhalt

Die Kläger errichteten im Jahre 1973 auf dem ihnen je zur Hälfte gehörenden Grundstück in X ein Wohngebäude, das noch im selben Jahr bezugsfertig wurde. Im Bauschein des Kreisausschusses vom 9. Januar 1973 war als Baumaßnahme "Einfamilienhaus und Garage" angegeben. Der Anerkennungsbescheid gemäß § 82 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes (II. WoBauG) vom 18. April 1975 bezeichnet die Art des Gebäudes als "Familienheim mit zwei Wohnungen", weist eine Wohnung im Erdgeschoß und eine weitere Wohnung im Obergeschoß und weiter zwei Garagen aus. In der am 15. Mai 1975 beim Finanzamt (FA) eingegangenen Erklärung zur Feststellung des Einheitswerts auf den 1. Januar 1974 bezeichneten die Kläger das Bauvorhaben als Neubau mit zwei Garagen. Unter den Angaben zur Ermittlung der Jahresrohmiete führten sie zwei Wohnungen auf, eine im Erdgeschoß mit 140,05 qm (drei Zimmer, Küche und Bad) und eine im Obergeschoß mit 73,37 qm (zwei Zimmer, Küche und Bad). Baupläne oder Grundrißzeichnungen lagen dem FA nicht vor. Das FA erließ am 31. August 1976 einen Nachfeststellungsbescheid zum 1. Januar 1974, mit dem es den Einheitswert auf 79.200 DM und die Grundstücksart Zweifamilienhaus feststellte und den Einheitswert den Klägern zurechnete. Am 7. Oktober 1977 führte das FA aus Anlaß einer Anfrage des Veranlagungsbezirks eine Ortsbesichtigung im Wohngebäude der Kläger durch. Am 29. August 1980 erließ das FA einen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Nachfeststellungsbescheid auf den 1. Januar 1974, mit dem es den Einheitswert nunmehr auf 101.900 DM und die Grundstücksart Einfamilienhaus feststellte.

Der Einspruch, der auf Aufhebung des Änderungsbescheids zielte, hatte keinen Erfolg.

Der Klage, mit der die Kläger die Aufhebung der Änderungsfeststellungen begehren und zu deren Begründung sie ausführten, eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 hätte wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben nicht durchgeführt werden dürfen, hat das Finanzgericht (FG) stattgegeben (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1984, 222).

Mit der Revision beantragt das FA, die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen. Es rügt Verletzung von § 173 AO 1977.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen finanzgerichtlichen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das FG zu anderweitiger Verhandlung und Entscheidung.

1. Entgegen der Auffassung des FG war die Änderung der im Nachfeststellungsbescheid zum 1. Januar 1974 getroffenen Feststellungen zu Art und Wert der wirtschaftlichen Einheit des Grundvermögens dem Grunde nach verfahrensrechtlich zulässig.

Nach § 173 Abs. 1 i.V.m. § 172 Abs. 1 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die entweder zu einer höheren Steuer führen (Nummer 1) oder, unter der weiteren Voraussetzung, daß den Steuerpflichtigen an dem nachträglichen Bekanntwerden kein grobes Verschulden trifft, zu einer niedrigeren Steuer führen (Nummer 2). Die Vorschrift ist nach § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 auf Feststellungsbescheide sinngemäß anwendbar.

Die dem Grunde nach statthafte Änderung einer Artfeststellung setzt ebenso wie die erhöhende Änderung einer Wertfeststellung voraus, daß das nachträgliche Bekanntwerden einer Tatsache oder eines Beweismittels nicht auf einer Verletzung der der Finanzbehörde obliegenden Ermittlungspflicht beruht, sofern der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht voll genügt hat. Diese zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung - AO - entwickelte Rechtsprechung gilt auch im Bereich des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977; zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf das Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82 (BFHE 145, 487, 489, BStBl II 1986, 241) verwiesen. Der gegenteiligen Meinung von Friedl (Deutsches Steuerrecht - DStR - 1988, 98) folgt der Senat aus den Gründen seines Urteils in BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241 nicht.

Die vom FG in dem angefochtenen Urteil vertretene Auffassung, das FA habe ohne Einsichtnahme in die Bauakten und ohne Klärung der am Bewertungsstichtag bestehenden Nutzungsverhältnisse im Wohngrundstück der Kläger die Artfeststellung nicht treffen können und dadurch die ihm obliegende Ermittlungspflicht verletzt, teilt der Senat nicht. Die dem FA obliegende Ermittlungspflicht (vgl. § 88 AO 1977 bzw. § 204 AO) beinhaltet nicht die Verpflichtung, von Amts wegen Feststellungen unter Heranziehung der Bauakten zu treffen. Dies könnte nur dann erforderlich werden, wenn die Erklärung des Steuerpflichtigen unvollständig oder widersprüchlich ist oder sich aus den sonst dem FA bekannten Umständen Zweifel an der Richtigkeit der abgegebenen Erklärung aufdrängen (vgl. BFH-Urteil vom 28. Januar 1970 I R 123/67, BFHE 98, 171, BStBl II 1970, 296, m.w.N.). Zutreffend weist das FA darauf hin, daß es davon ausgehen konnte, die zwischen der Bezeichnung des Bauvorhabens im Bauschein vom 9. Januar 1973 und der von den Klägern am 15. Mai 1975 abgegebenen Erklärung bestehende Abweichung beruhe angesichts des Inhalts des Anerkennungsbescheides vom 18. April 1975 auf einer Änderung des Bauvorhabens gegenüber der Planung; denn der Bauschein ist vor, der Anerkennungsbescheid aber nach Bezugsfertigkeit ausgestellt worden. Deshalb konnte das FA den Anerkennungsbescheid als Indiz für die Richtigkeit der Erklärung auffassen, wenngleich ihm - wie das FG ausgeführt hat - sonst keine rechtserhebliche Bedeutung im Rahmen der Artfeststellung zukam.

Entgegen dem Vortrag der Kläger in der mündlichen Verhandlung hat das FA nicht deshalb seine Ermittlungspflicht verletzt, weil im Anerkennungsbescheid beim Ausweis der Wohnfläche ein Abzug von 10 v.H. der Gesamtwohnfläche vorgenommen wurde. Nach § 44 Abs. 3 Nr. 2 der Zweiten Berechnungsverordnung (II. BVO) können zur Ermittlung der Wohnfläche bei einem Gebäude mit zwei nicht abgeschlossenen Wohnungen bis zu 10 v.H. der ermittelten Grundfläche beider Wohnungen abgezogen werden. Bei abgeschlossenen Wohnungen ist dieser Abzug nicht zulässig. Der Abzug von 10 v.H. von der Gesamtwohnfläche ist damit ein erkennbares Anzeichen dafür, daß das von den Klägern errichtete Wohngebäude zwei nicht abgeschlossene Wohnungen enthält. Hieraus mußte aber das FA, entgegen der Auffassung der Kläger, nicht die Folgerung ziehen, daß eine weitere Sachaufklärung erforderlich sei, weil das Wohngebäude der Kläger bewertungsrechtlich ein Einfamilienhaus sein könnte. Denn im Zeitpunkt der Erklärung der Kläger (15. Mai 1975) und des Erlasses des Nachfeststellungsbescheids (31. August 1976) war nach der Rechtsprechung des BFH und den einschlägigen Erlassen der obersten Finanzbehörden der Länder bewertungsrechtlich die Annahme zweier Wohnungen und damit der Grundstücksart Zweifamilienhaus auch dann möglich, wenn diese beiden Wohnungen nicht abgeschlossen waren (vgl. die Darstellung der Rechtsentwicklung im Urteil vom 5. Oktober 1984 III R 192/83, BFHE 142, 505, BStBl II 1985, 151, und Gürsching/Stenger, Kommentar zum Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, 8. Aufl., § 75 BewG Anm. 29 und 51 ff.). Weiter ist zu berücksichtigen, daß auch der Begriff der abgeschlossenen Wohnung der II. BVO im Laufe der Zeit einem Wandel unterworfen war (vgl. Fischer- Dieskau/Pergande/Schwender, Wohnungsbaurecht, II. Berechnungsverordnung, § 42 Anm. 3, § 44 Anm. 5). Damit mußte sich jedenfalls vor Ergehen des Urteils in BFHE 142, 505, BStBl II 1985, 151 dem FA aus der Darstellung der Wohnfläche im Anerkennungsbescheid nicht eine weitere Sachverhaltsermittlung zur Klärung der Grundstücksart des Grundstücks der Kläger aufdrängen.

2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat von seinem Standpunkt aus zutreffend keine Feststellungen darüber getroffen, ob die geänderte Wertfeststellung und die geänderte Artfeststellung dem materiellen Recht entsprechen.