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BFH-Urteil vom 11.08.1987 (VII R 121/84) BStBl. 1988 II S. 512

Bestandskräftig festgesetzte Steuern können im Billigkeitsverfahren nur dann nachgeprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Mangelnde Zumutbarkeit in diesem Sinn liegt nicht schon dann vor, wenn die Einlegung von Rechtsbehelfen im Hinblick auf eine - später geänderte - höchstrichterliche Rechtsprechung oder wegen entschuldbarer Rechtsunkenntnis unterblieben ist (Anschluß an BFH-Urteil vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611).

AO 1977 § 227 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Hamburg (EFG 1985, 102)

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) meldete im Jahre 1975 mit 16 Zollanmeldungen aus ihrem offenen Zollager in den freien Verkehr entnommene Spirituosen an und berechnete die zu entrichtenden Abgaben an Monopolausgleichsspitze und Preisausgleich selbst. Die Anmeldungen wurden vom Beklagten und Revisionskläger (Hauptzollamt - HZA -) nicht geändert und von der Klägerin nicht angefochten.

Mit Schreiben vom 16. Dezember 1976 beantragte die Klägerin, die Bescheide nach §§ 94, 224 der Reichsabgabenordnung (AO) zu berichtigen und die Beträge an Monopolausgleichsspitze und Preisausgleich nach § 131 AO und § 177 des Gesetzes über das Branntweinmonopol (BranntwMonG) zu erstatten. Das bis zur Klage gediehene Berichtigungsverfahren endete mit der Einstellung wegen Klagerücknahme. Den Antrag auf Erstattung aus Billigkeitsgründen lehnte das HZA mit Bescheid vom 3. Oktober 1977 ab. Die Beschwerde der Klägerin wies die Oberfinanzdirektion (OFD) zurück.

Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hob den Bescheid vom 3. Oktober 1977 und die Beschwerdeentscheidung vom 30. August 1982 auf und verpflichtete das HZA, erneut über den Antrag vom 16. Dezember 1976 in der Fassung des Schriftsatzes vom 20. Juni 1984 unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG zu entscheiden (Urteil vom 21. Juni 1984 IV 162/82 H, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1985, 102).

Entscheidungsgründe

Die Revision des HZA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage. Das HZA hat zu Recht den beantragten Billigkeitserweis abgelehnt.

Nach § 227 Abs. 1 AO 1977 können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen oder erstattet werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH können jedoch Steuern, die wie im vorliegenden Fall bestandskräftig festgesetzt worden sind, nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (BFH-Urteile vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611; vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126). Davon ist das FG ohne Rechtsirrtum ausgegangen. Es hat aber zu Unrecht die genannten Voraussetzungen für gegeben erachtet.

Es ist schon zweifelhaft, ob die erste Voraussetzung erfüllt ist, nämlich, daß die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist. Stellt man auf die Sachlage im Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung über den Antrag auf einen Billigkeitserweis ab, so spricht einiges dafür, daß diese Voraussetzung wegen der inzwischen ergangenen höchstrichterlichen Entscheidungen vorliegt. Das ist dagegen zweifelhaft, wenn es darauf ankommen würde, ob das HZA unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Zeitpunkt des Erlasses der bestandskräftigen Steuerbescheide die Rechtslage eindeutig und offensichtlich unrichtig beurteilt hat. Die Rechtsprechung des BFH ist insoweit nicht eindeutig. Für die letztgenannte Auffassung sprechen die BFH-Urteile vom 3. März 1970 II 135/64 (BFHE 99, 8, BStBl II 1970, 503) und vom 17. September 1986 II R 56/83 (nicht zur Veröffentlichung bestimmt). Eher für die Auffassung, daß es darauf ankommt, wie die Rechtslage objektiv im Zeitpunkt der Entscheidung über den Billigkeitsantrag zu werten ist, spricht z.B. das BFH-Urteil vom 22. September 1976 I R 68/74 (BFHE 120, 200, BStBl II 1977, 15). Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch die Erwägung, daß der Verwaltung die Überprüfung der materiellen Richtigkeit bestandskräftiger Steuerbescheide im Billigkeitsverfahren nur dann zumutbar ist, wenn sie nicht ein arbeitsaufwendiges Unternehmen ist, sondern die Unrichtigkeit bereits offensichtlich und eindeutig feststeht. Der Senat braucht diese Frage jedoch nicht zu entscheiden, weil es entgegen der Auffassung des FG an der Erfüllung der zweiten Voraussetzung für die begehrte Gewährung eines Billigkeitserweises fehlt. Der Klägerin war es möglich und zumutbar, sich gegen die Fehlerhaftigkeit der in Frage stehenden Steuerbescheide rechtzeitig zu wehren.

Es ist grundsätzlich nicht Sinn des § 227 AO 1977, die Bestandskraft einer Steuerfestsetzung dadurch auszuhöhlen, daß die Finanzbehörden gezwungen werden, im Billigkeitsverfahren nochmals sachlich auf einen bestandskräftig abgeschlossenen Steuerfall einzugehen, sofern nicht ausnahmsweise ganz besondere Gründe dafür vorliegen (vgl. BFH-Urteil vom 2. März 1961 IV 126/60 U, BFHE 73, 53, BStBl III 1961, 288). Es entspricht der Entscheidung des Gesetzgebers, daß der Grundsatz der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang haben soll vor dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall, wenn ein Steuerbescheid unanfechtbar geworden ist. Diese Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers ist bei der Auslegung des § 227 AO 1977 zu berücksichtigen. Die Vorschrift hat dem Grundsatz der Rechtssicherheit also dadurch den Vorrang zu verschaffen, daß die Rechtswidrigkeit eines unanfechtbar gewordenen Steuerbescheids nur dann als unbillig in der Sache berücksichtigt werden kann, wenn Gründe vorgetragen werden, die es verständlich machen und rechtfertigen, daß von den gegebenen Rechtsbehelfen kein Gebrauch gemacht worden ist (Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 9. Mai 1963 VII B 48/63, Der Betrieb - DB - 1963, 1353; vgl. auch Urteil des Senats vom 31. März 1981 VII R 1/79, BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507, das zwar zur Frage der Berichtigung von Verbrauchsteuerbescheiden nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ergangen ist, aber das parallele Problem des Verhältnisses dieser Berichtigungsvorschrift zur Regelung des Rechtsbehelfsverfahrens behandelt). Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Steuerrecht von der Annahme ausgeht, es sei Sache des Steuerpflichtigen, seine Rechte und Interessen durch fristgerechte Einlegung von Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln selbst zu wahren (vgl. Hensel, Die Abänderung des Steuertatbestandes durch freies Ermessen und der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht 1927, 39, 77).

Im vorliegenden Fall war es der Klägerin nicht unzumutbar, sich durch rechtzeitige Einlegung von Einsprüchen gegen das Bestandskräftigwerden der in Frage stehenden Steuerfestsetzungen zu wehren. Die Klägerin hatte keinen Anlaß, auf die Einlegung von Einsprüchen etwa aus Gründen zu verzichten, die sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalles ergeben, d.h. z.B. wegen einer Zusage des HZA, sie auch ohne Einlegung von Einsprüchen so zu behandeln, als seien die Steuerbescheide noch anfechtbar. Solche Gründe liegen hier nicht vor. Entgegen der Auffassung des FG läßt sich eine Unzumutbarkeit im genannten Sinn auch nicht damit begründen, nach dem Senatsurteil vom 12. November 1974 VII R 74/73 (BFHE 114, 298) zur Monopolausgleichsspitze und den Ausführungen der Europäischen Kommission zum Preisausgleich hätte die Klägerin mit einem Erfolg von Rechtsbehelfen nicht rechnen können. Das FG Hamburg hat in seinem Urteil vom 14. Oktober 1977 IV 76/76 N (EFG 1978, 200) mit Recht darauf hingewiesen, es stelle keinen Ausnahmefall dar, daß Rechtsauffassungen und Gesetzesinterpretationen der Verwaltung, auch wenn sie durch Rechtsprechung oder Kommentierung abgesichert seien, durch die Gerichte korrigiert würden. Diese Chance, eine Korrektur zu erreichen, kann jeder Steuerpflichtige unter Übernahme des Kostenrisikos wahrnehmen. Tut er das nicht, so ist es grundsätzlich nicht unbillig, wenn ihn dann die gesetzlichen Rechtsfolgen der Unanfechtbarkeit treffen (vgl. auch BFHE 133, 13, 18, BStBl II 1981, 507).

Die entgegengesetzte Auffassung des FG läßt sich nicht damit rechtfertigen, daß die Klägerin erst verhältnismäßig kurz in der Branche tätig war und sich über die Verbandszeitschrift über aktuelle Probleme informieren ließ. Es geht nicht darum, ob die Klägerin ein Verschulden an der Nichteinlegung von Rechtsbehelfen trifft. Vielmehr ist es, wie ausgeführt, nach der Entscheidung des Gesetzgebers grundsätzlich Sache des Steuerpflichtigen, seine Rechte durch Einlegung von Einsprüchen selbst zu wahren. Unterläßt er das, so kann die dadurch eingetretene Rechtsfolge im Billigkeitsweg nur korrigiert werden, wenn besondere Umstände, die im konkreten Verhältnis zur Behörde ihre Grundlage haben, dies rechtfertigen. Mangelnde Rechtskenntnisse sind solche Umstände nicht, und zwar auch dann nicht, wenn der Mangel nicht auf einem Verschulden beruht.

Der Senat vermag der Vorinstanz auch nicht darin zu folgen, die Nichtgewährung eines Billigkeitserweises durch das HZA verstieße gegen Art. 3 GG. Wie bereits ausgeführt, entspricht es der Entscheidung des Gesetzgebers, daß bestandskräftige Bescheide - von Ausnahmefällen abgesehen - im Billigkeitsverfahren nicht mehr materiell-rechtlich nachprüfbar sind. Diese Regelung entspricht den Anforderungen des Gleichheitssatzes, da der Gesetzgeber, ohne willkürlich zu handeln, die Steuerpflichtigen unterschiedlich behandeln durfte, je nachdem, ob sie gegen einen Steuerbescheid rechtzeitig Rechtsbehelfe eingelegt haben oder nicht. Das gilt um so mehr, als § 227 AO 1977 in der Auslegung durch den BFH die Möglichkeit bietet, in Einzelfällen zu helfen, wenn insbesondere die Einlegung von Rechtsbehelfen unzumutbar war.

Die Auffassung der Vorinstanz läuft auf die Annahme hinaus, die Finanzbehörden seien zur Annullierung der Folgen unrichtiger bestandskräftiger Steuerbescheide im Billigkeitsverfahren immer dann verpflichtet, wenn der Steuerpflichtige durch die Bezahlung der unrichtigerweise zu hoch festgesetzten Abgaben in eine empfindlich ungünstigere Wettbewerbslage geraten würde als seine Konkurrenten. Das FG übersieht dabei, daß die Regelung des § 227 AO 1977 keine Rechtsgrundlage für eine solche allgemeine Regelung durch die Verwaltung bietet. Nur in Einzelfällen dürfen danach Billigkeitserweise gewährt werden. Die Vorschrift ermächtigt entgegen der Auffassung des FG die Finanzbehörden nicht, in Abweichung von den grundsätzlichen Wertungen des Gesetzgebers eine Allgemeinregelung zu treffen und in allen Fällen Preisausgleich und Monopolausgleichsspitze unerhoben zu lassen, in denen diese durch bestandskräftige Steuerbescheide festgesetzt worden sind. Eine entsprechende Regelung zu treffen, wäre Sache des Gesetzgebers gewesen (vgl. auch Senatsurteil vom 25. November 1980 VII R 17/78, BFHE 132, 159, 162). Dieser ist aber untätig geblieben, obwohl er mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des EuGH zur Vereinbarkeit der Erhebung der Monopolausgleichsspitze und des Preisausgleichs mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 95 EWGV das BranntwMonG mehrfach geändert hat.

Diese Auffassung wird durch die Entscheidung des Gesetzgebers in § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bestätigt. Danach bleiben sogar in Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht eine Rechtsnorm nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärt hat, die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf dieser Norm beruhen, unberührt. Der Gesetzgeber hat diese Regelung offensichtlich für vereinbar gehalten mit dem Gleichheitsgrundsatz. Dann aber kann erst recht nicht davon ausgegangen werden, daß § 227 AO 1977 in der Auslegung des BFH, wonach bestandskräftig festgesetzte Steuern im Billigkeitsverfahren nur unter bestimmten engen Voraussetzungen sachlich überprüft werden können, nicht in Einklang mit Art. 3 GG stehe.