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BFH-Urteil vom 24.5.1989 (V R 137/84) BStBl. 1989 II S. 660

1. Der BFH ist im zweiten Rechtsgang an die dem zurückverweisenden Urteil im ersten Rechtsgang zugrunde liegende Rechtsauffassung auch dann gebunden, wenn diese aufgrund einer erneuten rechtlichen Überprüfung nicht zutreffend erscheint.

2. Eine Bindung entfällt, wenn sich die Rechtsprechung des BFH seit Ergehen des zurückverweisenden Urteils im ersten Rechtsgang geändert hat. Das gilt auch dann, wenn die abweichende Rechtsauffassung von einem anderen Senat des BFH ohne Einhaltung des Verfahrens nach § 11 Abs. 3 FGO vertreten worden ist.

FGO § 11 Abs. 3, § 126 Abs. 5; VwZG § 11 Abs. 1, 3; ZPO §§ 181, 183.

Vorinstanz: FG des Saarlandes

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens über ihr Vermögen ist mangels Masse abgelehnt worden. Liquidatorin der Gesellschaft ist Frau A. Ihrem Ehemann W.A. war zu notarieller Beurkundung von den Geschäftsführern der damals noch nicht aufgelösten Gesellschaft "Generalvollmacht" für diese erteilt worden.

Über die vor Eintritt der Liquidation eingelegten Einsprüche der Klägerin vom 15. November 1979 gegen die Umsatzsteuerbescheide, die Körperschaftsteuerbescheide und die Gewerbesteuermeßbescheide für die Jahre 1971 bis 1978 hatte das beklagte Finanzamt (FA) am 27. November 1980 entschieden. Die Einspruchsentscheidung war gerichtet an die Klägerin "vertreten durch W.A. als Liquidator der Gesellschaft". Die Zustellung war an Herrn W.A. als "Liquidator" der Klägerin unter seiner Privatanschrift gerichtet. Da der Postbedienstete "den Empfänger W.A. selbst in der Wohnung nicht angetroffen" hatte, wurde das Schriftstück "dem zu seiner Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen, nämlich seiner Ehefrau" am 10. Dezember 1980 unter Aufnahme einer Zustellungsurkunde übergeben.

Die vom 7. Januar 1981 datierte Klageschrift ist am 13. Januar 1981 in einem Briefumschlag mit dem Poststempel vom 12. Januar 1981 beim Finanzgericht (FG) eingegangen. Nachdem das FA in der am 28. Januar 1981 an die Klägerin zur Post gegebenen Klageerwiderung auf die verspätete Klageerhebung hingewiesen hatte, beantragte die Klägerin durch Schriftsatz vom 18. Februar 1981 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und behauptete unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung von W.A., die Klageschrift sei von diesem am 9. Januar 1981 in einen bestimmten Postbriefkasten eingeworfen worden.

Das FG hat diese Behauptung aufgrund einer Auskunft des zuständigen Postamtes über die Leerung dieses Briefkastens und die Abstempelung der Postsendungen in dem maßgebenden Zeitraum für widerlegt erachtet. Es hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in erster Linie wegen verspäteter Antragstellung (§ 56 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), hilfsweise aus jenem Grunde abgelehnt und die Klage als verspätet abgewiesen.

Auf die Revision der Klägerin hob der Bundesfinanzhof (BFH) durch Urteil vom 4. November 1982 die Vorentscheidung auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück. Der BFH führte dabei aus, die Einspruchsentscheidung vom 27. November 1980 sei der Klägerin zwar wirksam bekanntgegeben worden (§ 122 Abs. 1 Satz 3 der Abgabenordnung - AO 1977 -); die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils hätten aber nicht eine formgerechte Zustellung ergeben, welche die Klagefrist in Lauf gesetzt hätte (§ 54 Abs. 1 FGO). Die W.A. gegenüber erteilte Generalvollmacht (§ 167 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) sei im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung noch wirksam gewesen, so daß das FA gemäß § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 befugt gewesen sei, die inhaltlich für die Klägerin bestimmte und gegen diese gerichtete Einspruchsentscheidung deren Generalbevollmächtigtem W.A. bekanntzugeben. Tatsachen, welche bei Auswahl des Zustellungsadressaten einen Fehlgebrauch des Ermessens hätten ergeben können, seien nicht zu ersehen. Als unschädlich beurteilte der BFH auch, daß W.A. nicht als Bevollmächtigter der Klägerin, sondern als deren Liquidator bezeichnet war.

Der BFH kam aber zu dem Ergebnis, daß die Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks im Wege der Ersatzzustellung nach § 11 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) durch Übergabe an die Ehefrau die Klagefrist nur in Lauf gesetzt hätte, wenn W.A. die Zustellung der Einspruchsentscheidung an sich als Bevollmächtigten unter seiner Privatanschrift nach § 8 Abs. 1 VwZG begehrt hätte. Hingegen wäre die gewählte Ersatzzustellung für eine Zustellung an die Klägerin, vertreten durch W.A., nicht formgerecht gewesen, mit der Folge, daß dann die Klagefrist nicht in Lauf gesetzt worden wäre (§ 9 Abs. 2 VwZG). Denn in diesem Fall sei eine Ersatzzustellung nur durch Übergabe des Schriftstücks an einen im Geschäftsraum anwesenden Gehilfen, nicht aber an die Ehefrau, möglich gewesen (§ 11 Abs. 3 VwZG).

Dem FG wurde aufgegeben, tatsächliche Feststellungen darüber zu treffen, ob W.A. als Bevollmächtigter die Zustellung der Einspruchsentscheidung an seine Privatanschrift begehrt hatte.

Im zweiten Rechtsgang kam das FG aufgrund einer in der mündlichen Verhandlung vom 20. Juni 1984 durchgeführten Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung zu dem Ergebnis, daß das FA die Einspruchsentscheidung in voller Absicht an die Privatanschrift des W.A. gerichtet habe, weil dieser es ausdrücklich so gewollt habe; durch die demnach zulässige Ersatzzustellung an die Ehefrau sei daher die Klagefrist in Lauf gesetzt worden mit der Folge, daß die Klage verspätet eingelegt worden sei.

Mit der Revision gegen das Urteil des FG im zweiten Rechtsgang macht die Klägerin unter Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8. Oktober 1976 II ZR 9/75 (Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1977, 199) nunmehr geltend, daß bereits die Erteilung der Generalvollmacht unwirksam gewesen sei, so daß W.A. die Einspruchsentscheidung auch nicht als Bevollmächtigtem hätte rechtswirksam zugestellt werden können. Außerdem rügt die Klägerin, daß es das FG verfahrensfehlerhaft unterlassen habe, W.A. als Zeugen zu vernehmen.

Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des Urteils des FG des Saarlandes vom 20. Juni 1984 festzustellen, daß die Klage zulässig ist, und den Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung an das FG des Saarlandes zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet. Das FG hat die Klage zu Recht als unzulässig verworfen.

1. Die Klägerin kann mit ihren Einwendungen gegen die Wirksamkeit der dem W.A. erteilten Vollmacht nicht durchdringen, weil der erkennende Senat an die dem zurückverweisenden Urteil vom 4. November 1981 zugrunde gelegte Rechtsauffassung gemäß § 126 Abs. 5 FGO gebunden ist (sog. Grundsatz der Selbstbindung, vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 6. Februar 1973 GemS-OGB 1/72, BFHE 109, 206, sowie die Nachweise bei Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 126 Anm. 24), daß die Vollmacht wirksam erteilt worden ist. Zwar hat sich der BFH in dem zurückverweisenden Urteil nicht ausdrücklich mit dieser Frage auseinandergesetzt, der Hinweis in dem Urteil auf § 167 Abs. 1 BGB sowie die Ausführungen, mit denen verneint worden ist, daß die Vollmacht erloschen gewesen sei, zeigen aber, daß der entscheidende Senat angenommen hat, die Vollmacht sei wirksam erteilt worden. Im übrigen setzt, worauf das FG hingewiesen hat, der vom BFH angenommene Aufhebungsgrund notwendigerweise eine rechtswirksame Vollmacht voraus; denn anderenfalls wäre nicht in Betracht gekommen, zu prüfen, ob die Ersatzzustellung wirksam gewesen ist. An die Beurteilung rechtlicher Vorfragen im zurückverweisenden Urteil ist der BFH aber gebunden (BFH-Urteil vom 25. Juni 1975 I R 78/73, BFHE 117, 4, BStBl II 1976, 42). Die Selbstbindung des BFH im zweiten Rechtsgang an die dem zurückverweisenden Urteil im ersten Rechtsgang zugrunde liegende Rechtsauffassung besteht selbst dann, wenn der BFH diese Beurteilung nun nicht mehr für zutreffend hielte.

2. Der von der Klägerin gerügte Verfahrensverstoß unterlassener Zeugenvernehmung hat keinen Erfolg. Soweit die Klägerin fehlerhafte Beweiswürdigung rügt und damit einen Verstoß gegen materielles Recht geltend macht, führt dies nicht zum Erfolg ihrer Revision, denn die Entscheidung des FG stellt sich aus anderen als den vom FG angenommenen Gründen als richtig dar (§ 126 Abs. 4 FGO).

a) Die Einspruchsentscheidung ist dem Bevollmächtigten der Klägerin W.A. ordnungsgemäß im Wege der Ersatzzustellung an seine Ehefrau zugestellt worden. Entgegen der vom FG gemäß § 126 Abs. 5 FGO seiner Entscheidung zugrunde gelegten Rechtsauffassung war die Ordnungsmäßigkeit der Ersatzzustellung gemäß § 11 Abs. 1 VwZG an die Ehefrau des W.A. nicht davon abhängig, daß dieser die Zustellung der Einspruchsentscheidung an sich als Bevollmächtigten unter seiner Privatanschrift begehrt hatte, da anderenfalls nur die Ersatzzustellung nach § 11 Abs. 3 VwZG zulässig gewesen sei.

Die im zurückverweisenden Urteil vom 4. November 1982 dahingehend ausgesprochene Einschränkung der genannten Vorschriften ist nicht gerechtfertigt. Vielmehr steht die Ersatzzustellung nach § 11 Abs. 1 VwZG der zustellenden Behörde unabhängig von der des § 11 Abs. 3 VwZG zur Wahl (vgl. v. Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 11 VwZG Anm. 6; Haarmann in Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnr. 486/38). Aus dem Gesetz ergibt sich kein Anhaltspunkt für die Annahme, daß die Ersatzzustellung nach § 11 Abs. 1 VwZG davon abhängig sei, daß der Bevollmächtigte die Zustellung der Einspruchsentscheidung an sich unter seiner Privatanschrift nach § 8 Abs. 1 VwZG begehrt hat. § 11 Abs. 1 VwZG stellt lediglich darauf ab, daß der Empfänger, d.h. derjenige, dem zustellt werden soll, nicht angetroffen wird.

b) Der erkennende Senat ist insoweit nicht gehindert, von der im zurückverweisenden Urteil vom 4. November 1982 vertretenen Rechtsauffassung abzuweichen. Die grundsätzliche Bindung des BFH an die dem zurückverweisenden Urteil im ersten Rechtszug zugrunde liegende rechtliche Beurteilung ist im Streitfall deshalb entfallen, weil sich die Rechtsprechung des BFH seit dem Ergehen dieses Urteils geändert hat. In dem nicht veröffentlichten Urteil vom 29. März 1985 VI R 165/84 hat der BFH ausgeführt, daß die Ersatzzustellung des § 183 der Zivilprozeßordnung (ZPO) unabhängig von der des § 181 ZPO zur Wahl stehe. Eine Bindung des erkennenden Senats an die dem zurückverweisenden Urteil zugrunde liegende Rechtsauffassung besteht nicht deshalb weiter, weil die genannte Entscheidung nicht zu § 11 VwZG ergangen ist. § 11 Abs. 1 und Abs. 3 VwZG betreffen - soweit sie im Streitfall zur Entscheidung stehen - die gleichen Rechtsfragen wie § 181 ZPO und § 183 ZPO; der Anwendungsbereich dieser Vorschriften deckt sich (vgl. Haarmann, a.a.O., Rdnrn. 486/12 und 486/37). Dabei ist zur Klarstellung darauf hinzuweisen, daß sich die Zustellung auch im Streitfall zutreffend nicht nach § 11 Abs. 1, 3 VwZG, sondern über § 3 Abs. 1, 2 VwZG nach den §§ 181, 183 ZPO richtet.

Der erkennende Senat stimmt der Auffassung des VI. Senats zu. Eine Anrufung des Großen Senats ist nicht erforderlich, weil der erkennende Senat mit der Zustimmung zur Auffassung des VI. Senats seine frühere Auffassung aufgibt, so daß eine Abweichung i.S. des § 11 Abs. 3 FGO nicht vorliegt, denn von eigenen Entscheidungen kann der Senat ohne Anrufung des Großen Senats abweichen.