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BFH-Urteil vom 26.4.1989 (I R 86/88) BStBl. 1989 II S. 695

Die in einem Einzelfall gewonnene Überzeugung des FG, das beim FA praktizierte Postabsendeverfahren biete für sich genommen keine Gewähr dafür, daß das Datum der tatsächlichen Aufgabe eines Bescheides zur Post mit dem in den Steuerakten vermerkten stets übereinstimme, wenn es an jeder Kontrolle dieses Verfahrens fehlt, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

AO § 91 Abs. 1; VwZG § 17 Abs. 2 und 4.

Vorinstanz: FG Düsseldorf (EFG 1988, 542)

Sachverhalt

I.

Die Sache befindet sich im 2. Rechtszug.

Unter dem 20. April 1976 erließ der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) gegenüber der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) geänderte Körperschaftsteuerbescheide 1970 bis 1972, denen die Ergebnisse einer in den Jahren 1974 und 1975 durchgeführten Betriebsprüfung zugrunde lagen. Gegen die Bescheide legte die Klägerin am 11. Juni 1976 Einspruch ein. Mit dem Einspruch trug sie vor, der Sammelbescheid sei bei ihr erst am 2. Juni 1976 eingegangen. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, weil er verspätet eingelegt worden sei.

Im 1. Rechtszug hatte die Klage keinen Erfolg. Auf die Revision der Klägerin hob der Bundesfinanzhof - BFH - (Urteil vom 19. Dezember 1984 I R 7/82, BFHE 143, 200, BStBl II 1985, 485) das Urteil des Finanzgerichts (FG) auf und verwies die Sache an das FG zurück. Im 2. Rechtszug gab das FG der Klage statt und hob die Einspruchsentscheidung vom 2. Juni 1977 auf. Das FG-Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1988, 542 veröffentlicht.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA sinngemäß die Verletzung des § 96 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Das FA beantragt, das Urteil des FG Düsseldorf vom 18. Mai 1988 6 K 128/85 K aufzuheben und die Klage vom 4. Juli 1977 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).

1. Nach § 236 Abs. 1 i.V.m. §§ 228 und 229 der Reichsabgabenordnung (AO) beginnt die Frist für einen vor dem 1. Januar 1977 eingelegten Einspruch mit der Bekanntgabe des anzufechtenden Steuerbescheides. Gemäß § 91 Abs. 1 AO vollzieht sich die Bekanntgabe eines Steuerbescheides grundsätzlich durch dessen tatsächlichen Zugang gegenüber demjenigen, für den der Bescheid seinem Inhalt nach bestimmt ist. § 91 Abs. 1 AO wird durch § 17 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 19. Mai 1972 (BGBl I 1972, 789, BStBl I 1972, 396) dahin ergänzt, daß bei Zusendung des Steuerbescheides durch einfachen Brief der tatsächliche Zugang gegenüber dem Adressaten des Briefes mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post vermutet wird (vgl. BFH-Urteil vom 7. Oktober 1976 VIII R 76/72, BFHE 120, 142, BStBl II 1977, 133), es sei denn, daß das zuzusendende Schriftstück nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugeht. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Schriftstücks und den Zeitpunkt des Zuganges nachzuweisen (§ 17 Abs. 2 VwZG). Der Tag der Aufgabe zur Post ist in den Akten zu vermerken (§ 17 Abs. 4 VwZG).

2. Zu diesen Voraussetzungen hat das FG in einer den erkennenden Senat bindenden Weise (§ 118 Abs. 2 FGO) festgestellt, daß der Zeuge A. den Tag der Aufgabe der angefochtenen Bescheide zur Post in den Steuerakten vermerkte, ohne jedoch die Aufgabe zur Post persönlich vorzunehmen oder sich von ihrem Vollzug zu überzeugen. Die Personen, die nach der inneren Behördenorganisation des FA die Aufgabe der angefochtenen Bescheide zur Post vornahmen bzw. hätten vornehmen müssen, haben keine konkreten Erinnerungen an diesen Vorgang. Bei dieser Sachlage hängt die Entscheidung über den Rechtsstreit von der Beantwortung der Frage ab, ob das beim FA praktizierte Postabsendeverfahren für sich genommen die Gewähr dafür bietet, daß die tatsächliche Aufgabe eines Bescheides zur Post mit dem in den Steuerakten vermerkten Datum stets übereinstimmt. Das FG ist in freier Würdigung des von ihm festgestellten Sachverhaltes (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) zu der Überzeugung gekommen, daß für den Streitfall im April 1976 eine solche Gewähr nicht gegeben war. Diese Auffassung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

3. Der erkennende Senat versteht die Vorentscheidung dahin, daß das FG einen atypischen Geschehensablauf schon deshalb nicht ausschließt, weil das Postabsendeverfahren des FA im April 1976 keiner Kontrolle unterlag. Eine solche Überzeugungsbildung ist nach den Denkgesetzen und nach Erfahrungssätzen möglich. Nach den Denkgesetzen kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein Steuerbescheid zwar von dem Aktenbock des Buchhalters abgetragen, jedoch ausnahmsweise nicht der Poststelle zugeleitet wird. Er kann z.B. versehentlich anderen Schriftstücken zugeordnet werden. Ebenso kann ein zu versendender Steuerbescheid in der Poststelle ausnahmsweise fehlerhaft eingeordnet und deshalb zu einem Irrläufer werden. Ob diese Möglichkeiten durch eine Kontrolle des Postabsendeverfahrens ausgeschlossen werden können, hängt stets von den Verhältnissen des Einzelfalles ab. Dies kann nicht generell beurteilt werden. Jedenfalls besteht für die Annahme eines ausnahmsweise atypischen Geschehensablaufs eine umso größere Wahrscheinlichkeit, als eine Kontrolle des Postabsendeverfahrens überhaupt nicht vorgenommen wird.

4. Die vom FG hilfsweise angestellte Beweiswürdigung steht der getroffenen Entscheidung nicht entgegen. Darauf, ob der Buchhalter der Finanzkasse subjektiv damit rechnen konnte, daß die Steuerbescheide noch an dem von ihm vermerkten Tag bei der Post aufgegeben werden würden, kommt es nicht an. Entscheidend ist allein die Überzeugung des FG von dem objektiven Geschehensablauf. Ebenso mögen die Bediensteten der Poststelle glaubhaft bekundet haben, daß Ausgangspost zu keinem Zeitpunkt liegen geblieben und keine Schwierigkeiten bei den Arbeitsabläufen festgestellt worden seien. Nach den Denkgesetzen kann auch dies einen Ausnahmefall nicht ausschließen, der den Zeugen nicht einmal aufgefallen sein muß.

5. Soweit das FG hilfsweise erwägt, den Vermerk in den Steuerakten über das Datum der Aufgabe eines Bescheides zur Post als Nachweis genügen zu lassen, kann seiner Auffassung nicht gefolgt werden. Nach § 17 Abs. 2 zweiter Halbsatz VwZG hat die Behörde den Zeitpunkt des Schriftstückes im Zweifel nachzuweisen. Daraus folgt, daß die absendende Behörde auch die Beweislast für den tatsächlichen Zeitpunkt der Aufgabe zur Post trägt. Diese gesetzliche Regelung darf nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden. Gerade das wäre jedoch der Fall, wenn man den bloßen Vermerk in den Steuerakten über das Datum der Aufgabe eines Bescheides zur Post als Nachweis darüber ausreichen lassen würde, daß das vermerkte Datum mit dem Zeitpunkt der tatsächlichen Aufgabe zur Post übereinstimme. Dann würde von dem Steuerpflichtigen als dem Empfänger des Bescheides verlangt, daß er den von dem Vermerk ausgehenden "Anschein" entkräftet. Ein solcher Nachweis wäre dem Steuerpflichtigen regelmäßig unmöglich. Für eine derartige Lockerung der Anforderungen an den Nachweis fehlt die notwendige Rechtsgrundlage. Will die Behörde Streit darüber vermeiden, ob ein abgesandter schriftlicher Verwaltungsakt auch angekommen ist, so kann sie den Verwaltungsakt förmlich zustellen oder die Bekanntgabe in der Form des Einschreibens mit Rückschein wählen (vgl. BFH-Urteil vom 23. September 1966 III 226/63, BFHE 87, 203, BStBl III 1967, 99). Selbst die Verwendung eines einfachen Einschreibens läßt einen im Regelfall ausreichenden Beweis des Zugangs zu, weil die vom Empfänger quittierte Ablieferung der Postsendung bei der Post - wenn auch zeitlich begrenzt - aufbewahrt wird. Somit stehen der Behörde ausreichende Möglichkeiten zur Verfügung, den ihr obliegenden Beweis des Zugangs eines Schriftstückes sicherzustellen. Macht sie von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch, so besteht kein Grund dafür, die gesetzlich zu Lasten der Behörde vorgenommene Beweislastverteilung zu verändern. So gesehen kann das in den Akten vermerkte Datum der Aufgabe eines Steuerbescheides zur Post den tatsächlichen Tag der Absendung nur dann beweisen, wenn das in dem FA praktizierte Postabsendeverfahren zur Überzeugung des FG jeden atypischen Geschehensablauf ausschließt. Auch bloße Zweifel gehen zu Lasten der Behörde.

6. Zu Unrecht beanstandet das FA den Vergleich des FG mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den Pflichten eines Prozeßbevollmächtigten, die Überwachung der Fristenkontrolle in seinem Büro zu organisieren. Zwar bezieht sich die vom FG angezogene Rechtsprechung auf die Beurteilung des Verschuldens eines Prozeßbevollmächtigten an einer Fristversäumnis; auch betrifft der Streitfall vordergründig eine andere Frage. Nach den Denkgesetzen ist es jedoch möglich, von der nicht durchgeführten Kontrolle des Postabsendeverfahrens auf Zweifel an der Richtigkeit des vermerkten Datums über die Aufgabe eines Bescheides zur Post zu schließen. Unbeschadet der unterschiedlichen Rechtsfolgen geht es nicht an, einerseits von einem Prozeßbevollmächtigten zu verlangen, daß er die Frist erst dann löscht, wenn das fristwahrende Schriftstück gefertigt und abgesandt ist (vgl. BFH-Urteil vom 17. November 1987 IX R 56/83, BFH/NV 1988, 317, m. w. Nachw.), und andererseits die Behörde von jeder Überwachung des Postabsendeverfahrens freizustellen.